Im Mai 1975 stirbt Philip S. beim Schusswechsel mit der Polizei auf einem Kölner Parkplatz. Fast vierzig Jahre später geht eine Frau auf die Suche nach den wenigen Spuren, die er hinterlassen hat, und kehrt zurück in die dramatischste Phase ihres Lebens. Philip S. war ihr Gefährte: ein sensibler, eigenwilliger junger Mensch, der 1967 aus Zürich nach Berlin kam, sich liebevoll um ihr Kind kümmerte und seinen ersten experimentellen Film drehte, während andere gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und Institute besetzten. Drei Jahre später wird ihre Fabriketage mehrmals von der Polizei durchsucht. Der sechsjährige Sohn, unbestechlicher Zeuge einer zunehmenden Radikalisierung, tritt den bewaffneten Beamten mit seiner Armbrust entgegen. Als die Mutter und Philip S. verhaftet werden, kann er ihnen nicht mehr beistehen. Ohne es zu wissen, wird er seine Mutter retten. Philip S. dagegen, der sich für die Revolution entschieden hat, setzt sich Schritt für Schritt aus dem gemeinsamen Leben ab. Ulrike Edschmid erzählt vom unaufhaltsamen Verlust eines Menschens, der in den bewaffneten Untergrund geht. Sie wirft einen Blick zurück auf die prägenden Jahre im Leben ihrer Generation - und auf eine Tragödie, die so noch nie beschrieben wurde. Ein bewegendes Buch, das einen von der ersten bis zur letzten Zeile in Bann schlägt.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Jürgen Berger hat Ulrike Edschmids autobiografischen Roman "Das Verschwinden des Philip S." wohlwollend aufgenommen. Die Geschichte - es geht um den wohlhabenden Schweizer Filmstudenten Philip S., der 1967 in Berlin eine Filmstudentin kennenlernt und für eine Weile mit ihr und ihrem Sohn zusammen lebt, bis er sich radikalisiert und verschwindet - scheint ihm im Ton überaus zurückhaltend, unterkühlt, "nie emphatisch". Dies findet er durchaus angemessen, solange es um die politischen Radikalisierung von S. geht, der sich schließlich für den bewaffneten Kampf und gegen das Leben mit der Erzählerin entscheidet. Im Blick auf die Liebesgeschichte hätte er sich allerdings einen etwas weniger kühlen Ton vorstellen können. Allerdings zeigt er dafür auch Verständnis, vermutet er doch, die Autorin wollte vermeiden, eine "Hagiografie des Widerstands" oder eine "romantische Liebesgeschichte" zu schreiben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2013Einer nimmt seinen Koffer und geht
Warum mündet ein Leben in Gewalt und Terror? In ihrem Roman beschwört Ulrike Edschmid die gemeinsame Vergangenheit mit Philip S., der Freiheit suchte und das Leben verlor.
Wie sich der Vorfall auf dem Parkplatz in Köln genau zugetragen hat, der mit dem Tod eines Polizisten, dem Tod von Philip S. und der Verhaftung des schwerverletzten Fahrers und eines weiteren Mannes endete, mit denen Philip S. im Auto unterwegs war, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Ulrike Edschmid, die ihr Buch über "Das Verschwinden des Philip S." mit der Beschreibung des Bilds beginnt, das sich den Fotografen in jener Nacht im Mai 1975 in Köln bot, ist es darum auch nicht zu tun. Philip S. war damals verdächtig, an einer Politikerentführung in Berlin beteiligt gewesen zu sein, ein Verdacht, der während des Prozesses zwei Jahre nach seinem Tod nicht bestätigt wurde. Zum Entführungszeitpunkt stand Philip S. mit gefälschten Papieren an der Stanze einer Kölner Fabrik. Möglicherweise auch hat er auf jenem Parkplatz in Notwehr geschossen.
Doch in diesem erstaunlichen und wahrhaftigen Buch, über dem "Roman" steht, obgleich es eine autobiographische Erzählung ist, geht es nicht um Schuld, nicht um Beweise und Gegenbeweise, nicht darum, aus dem Täter Philip S. ein Opfer zu machen. Es geht um den Menschen Philip S., den die Autorin liebte; es geht um Berlin in all seiner Ärmlichkeit der sechziger und siebziger Jahre, beginnend zu einer Zeit, als sich innerhalb der deutschen Linken noch nicht jene abgespalten hatten, die in den Untergrund gingen, sich bewaffneten und Terrorakte verübten, endend an einem Punkt, an dem dies unwiderruflich geschehen war. Und es geht um den Traum und die Lebensexperimente jener Jahre, die Freiheit versprachen, etwas, das in den schönen, unaufgeregten Sätzen von Ulrike Edschmid immer noch eine Verheißung trägt.
Philip S. ist Werner Sauber, und seine Lebensdaten lassen sich bei Wikipedia nachlesen, von wo aus einige Links zu ausführlicheren Texten über ihn führen, die vor diesem Buch auch schon dort standen. Dass er 1967 nach Berlin kam, Student der Filmakademie wurde, dass er nach der Besetzung der Akademie von dort verwiesen wurde, in der Kinderladenbewegung aktiv war, dass er einen Film drehte, den Harun Farocki für einen der besten jener Jahre hält, und dass er sich, nachdem er einige Wochen im Gefängnis war und Holger Meins sich zu Tode gehungert hatte, der "Bewegung 2. Juni" anschloss, in den Untergrund ging, an Banküberfällen beteiligt war und unter falschem Namen Betriebsarbeit, wie das damals hieß, bei Klöckner-Humboldt-Deutz in Köln leistete, bevor er an jenem 9. Mai 1975 auf dem Parkplatz in Köln erschossen wurde.
Ulrike Edschmid aber erzählt, auch wenn die Ereignisse dieselben sind, von etwas anderem. So nennt sie viele der Personen in ihrem Buch nur mit einem Initial, H. etwa für Holger Meins, mit dem sie und Sauber und einige andere für eine Weile in Berlin zusammenlebten. Der Schlüssel zu den Klarnamen der Figuren aber ist so groß wie ein ganzes Haus. Dass die Autorin sie nicht ausschreibt, hat wohl denselben Grund, aus dem sie ihr Buch einen Roman nennt - um aus der Distanz das Wesentliche jener Jahre heranzuzoomen, anderes wegzulassen. Es spielt für dieses Buch keine Rolle, dass es Peter Lorenz war, der damals in Berlin entführt wurde, in einer Aktion der "Bewegung 2. Juni", an der Philip S. nicht beteiligt war.
Im Spätsommer 1967 kommt Philip S. als Student der Deutschen Filmakademie nach Berlin. "Er trägt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht", schreibt Ulrike Edschmid, die ihn im Flur der Berliner Filmakademie zum ersten Mal sieht. Seine Eltern sind Schweizer Geschäftsleute, die mit Verkehrsampeln reich geworden sind, sein Elternhaus ist eine Villa am Zürichsee, sein Bruder hat später einen Rennstall gegründet, der berühmt wurde. Von alldem ist Philip S. mit diesem Anzug, einigen Hemden, einem langen Mantel, ein paar robusten Schuhen und einem Gürtel, den er sich aus einem Kälbergurt hatte machen lassen, weggegangen. Als er in Berlin ankommt, ist Benno Ohnesorg bereits tot, und die Protestbewegung nimmt Fahrt auf. Auch die Studenten der Filmakademie politisieren sich.
Philip S. gehört zunächst zu jenen, die am ästhetischen Widerstand arbeiten, und so entsteht sein einziger Film, "Der einsame Wanderer". Ulrike Edschmid beschreibt ihn so: "Die frühen Morgenstunden auf der Balkenfelder Chaussee. In den Gräben und Pfützen schmutzige Schneereste. Unter einem kalten grauen Himmel zieht sich eine Reihe nackter Bäume unregelmäßig zu beiden Seiten der Straße entlang. Die Kälte hat nicht erst in diesem Winter Löcher in den Asphalt gerissen. Der Belag wird schon lange nicht mehr ausgebessert. Es lohnt sich nicht. Die Chaussee endet an der Berliner Mauer. Philip S. ist lange herumgefahren an den Rändern der Stadt, um einen Ort von solcher Verlassenheit zu finden. Langsam bilden sich die Konturen eines Wanderers ab, der den langen schwarzen Mantel trägt. Bei jedem Schritt blitzt das glänzende Futter auf. Um die Taille der Gürtel, der Kälbergurt. Der Wanderer läuft in der Mitte der Straße Richtung Osten, wo es am Horizont allmählich Tag wird. Die Kamera fährt ihm nicht nach."
Es gibt keine Story in diesem Film, nur Bruchstücke, Bilder, Musik, etwa Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" oder Brahms, "gesungen gegen die Krähen und das Rauschen der Bäume", Verse, ein Gebet. Wegen der fehlenden politischen Aussage kommt der Film in Berlin nicht gut an. Aber wir lesen hier auch, dass viele, die den Film damals gesehen haben, seine Bilder und Töne bis heute nicht vergessen können. Man möchte den Film, der in den Archiven der Filmakademie zu finden sein müsste, nach der Lektüre dieses Buchs unbedingt sehen.
Die Verheißung von Freiheit - sie beschreibt Ulrike Edschmid zum Beispiel anhand der Kleider, die sie damals trug, zusammengetrödelt, wie man es in Berlin damals und noch lange danach machte. Sie erzählt, wie sie bei einem Aufenthalt in Italien gemeinsam vor der Waschmaschine sitzen: "Während sich die Trommel dreht und unsere Fundstücke im Schaum erscheinen und wieder versinken, steigen aus den Dingen Visionen einer Welt auf, in der wir mit unseren alten Kleidern leben wollen, Kleidern, aus denen Farbe und Appretur gewichen sind, die weich sind vom Waschen und vom Gebrauch und sich mit der Geschichte der Menschen, die sie einst getragen haben, unserem Leben anschmiegen." Ulrike Edschmid ist mit Philip S. glücklich gewesen.
Dass sie selbst einen anderen Weg wählte als er, hat auch, vielleicht vor allem, mit ihrem Kind zu tun. Der Vater hatte sie bereits verlassen, als sie Philip S. kennenlernt. Und Philip S. verhält sich ganz anders, als sein Aussehen, das den Künstler markiert, erwarten lässt. Er übernimmt Verantwortung. Er ist zuverlässig. Er ist da. Gemeinsam erziehen sie ihren Sohn, gemeinsam gründen sie den ersten Kinderladen, kochen, putzen, gemeinsam werden sie Teil dieser Bewegung, die sich am Modell Summerhill orientiert, von der Ulrike Edschmid auch schreibt: "Worte tauchen auf, die nicht unsere eigenen sind. Wir reden von Klassenkampf, Proletariat, Imperialismus, von Dritter Welt und herrschender Klasse." Sie geraten ins Visier der Behörden, ihre Wohnung , die eine Fabriketage ist, die sie mit anderen teilen, wird immer wieder durchsucht, schließlich werden beide nach einer Demonstration verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Ulrike Edschmid weiß, sie wird eine weitere Haft nicht aushalten. Philip S. fasst offenbar den Entschluss, nach seiner Entlassung abzutauchen. Langsam gleitet er heraus aus dem Leben von Ulrike Edschmid und ihrem Sohn, und eines Tages nimmt er einfach einen Koffer und geht.
Zwischen dem Tod von Philip S. und dem Erscheinen dieses Romans liegen fast vierzig Jahre. Doch erzählt hat Ulrike Edschmid die Geschichte im Präsens, ganz gegenwärtig, vom ersten Tag, dem ersten Blick bis zum Tod auf dem Parkplatz in Köln. Und gegenwärtig bleibt auch die Frage, die sie Philip S. bei ihrem letzten Zusammentreffen nicht stellen konnte, die Frage nach dem Warum. Es gibt keine Erklärung außer der, dass Philip S. ein freier Mann war, der eine Entscheidung traf.
VERENA LUEKEN
Ulrike Edschmid: "Das Verschwinden des Philip S." Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. Geb., 157 S., 15,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum mündet ein Leben in Gewalt und Terror? In ihrem Roman beschwört Ulrike Edschmid die gemeinsame Vergangenheit mit Philip S., der Freiheit suchte und das Leben verlor.
Wie sich der Vorfall auf dem Parkplatz in Köln genau zugetragen hat, der mit dem Tod eines Polizisten, dem Tod von Philip S. und der Verhaftung des schwerverletzten Fahrers und eines weiteren Mannes endete, mit denen Philip S. im Auto unterwegs war, werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Ulrike Edschmid, die ihr Buch über "Das Verschwinden des Philip S." mit der Beschreibung des Bilds beginnt, das sich den Fotografen in jener Nacht im Mai 1975 in Köln bot, ist es darum auch nicht zu tun. Philip S. war damals verdächtig, an einer Politikerentführung in Berlin beteiligt gewesen zu sein, ein Verdacht, der während des Prozesses zwei Jahre nach seinem Tod nicht bestätigt wurde. Zum Entführungszeitpunkt stand Philip S. mit gefälschten Papieren an der Stanze einer Kölner Fabrik. Möglicherweise auch hat er auf jenem Parkplatz in Notwehr geschossen.
Doch in diesem erstaunlichen und wahrhaftigen Buch, über dem "Roman" steht, obgleich es eine autobiographische Erzählung ist, geht es nicht um Schuld, nicht um Beweise und Gegenbeweise, nicht darum, aus dem Täter Philip S. ein Opfer zu machen. Es geht um den Menschen Philip S., den die Autorin liebte; es geht um Berlin in all seiner Ärmlichkeit der sechziger und siebziger Jahre, beginnend zu einer Zeit, als sich innerhalb der deutschen Linken noch nicht jene abgespalten hatten, die in den Untergrund gingen, sich bewaffneten und Terrorakte verübten, endend an einem Punkt, an dem dies unwiderruflich geschehen war. Und es geht um den Traum und die Lebensexperimente jener Jahre, die Freiheit versprachen, etwas, das in den schönen, unaufgeregten Sätzen von Ulrike Edschmid immer noch eine Verheißung trägt.
Philip S. ist Werner Sauber, und seine Lebensdaten lassen sich bei Wikipedia nachlesen, von wo aus einige Links zu ausführlicheren Texten über ihn führen, die vor diesem Buch auch schon dort standen. Dass er 1967 nach Berlin kam, Student der Filmakademie wurde, dass er nach der Besetzung der Akademie von dort verwiesen wurde, in der Kinderladenbewegung aktiv war, dass er einen Film drehte, den Harun Farocki für einen der besten jener Jahre hält, und dass er sich, nachdem er einige Wochen im Gefängnis war und Holger Meins sich zu Tode gehungert hatte, der "Bewegung 2. Juni" anschloss, in den Untergrund ging, an Banküberfällen beteiligt war und unter falschem Namen Betriebsarbeit, wie das damals hieß, bei Klöckner-Humboldt-Deutz in Köln leistete, bevor er an jenem 9. Mai 1975 auf dem Parkplatz in Köln erschossen wurde.
Ulrike Edschmid aber erzählt, auch wenn die Ereignisse dieselben sind, von etwas anderem. So nennt sie viele der Personen in ihrem Buch nur mit einem Initial, H. etwa für Holger Meins, mit dem sie und Sauber und einige andere für eine Weile in Berlin zusammenlebten. Der Schlüssel zu den Klarnamen der Figuren aber ist so groß wie ein ganzes Haus. Dass die Autorin sie nicht ausschreibt, hat wohl denselben Grund, aus dem sie ihr Buch einen Roman nennt - um aus der Distanz das Wesentliche jener Jahre heranzuzoomen, anderes wegzulassen. Es spielt für dieses Buch keine Rolle, dass es Peter Lorenz war, der damals in Berlin entführt wurde, in einer Aktion der "Bewegung 2. Juni", an der Philip S. nicht beteiligt war.
Im Spätsommer 1967 kommt Philip S. als Student der Deutschen Filmakademie nach Berlin. "Er trägt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht", schreibt Ulrike Edschmid, die ihn im Flur der Berliner Filmakademie zum ersten Mal sieht. Seine Eltern sind Schweizer Geschäftsleute, die mit Verkehrsampeln reich geworden sind, sein Elternhaus ist eine Villa am Zürichsee, sein Bruder hat später einen Rennstall gegründet, der berühmt wurde. Von alldem ist Philip S. mit diesem Anzug, einigen Hemden, einem langen Mantel, ein paar robusten Schuhen und einem Gürtel, den er sich aus einem Kälbergurt hatte machen lassen, weggegangen. Als er in Berlin ankommt, ist Benno Ohnesorg bereits tot, und die Protestbewegung nimmt Fahrt auf. Auch die Studenten der Filmakademie politisieren sich.
Philip S. gehört zunächst zu jenen, die am ästhetischen Widerstand arbeiten, und so entsteht sein einziger Film, "Der einsame Wanderer". Ulrike Edschmid beschreibt ihn so: "Die frühen Morgenstunden auf der Balkenfelder Chaussee. In den Gräben und Pfützen schmutzige Schneereste. Unter einem kalten grauen Himmel zieht sich eine Reihe nackter Bäume unregelmäßig zu beiden Seiten der Straße entlang. Die Kälte hat nicht erst in diesem Winter Löcher in den Asphalt gerissen. Der Belag wird schon lange nicht mehr ausgebessert. Es lohnt sich nicht. Die Chaussee endet an der Berliner Mauer. Philip S. ist lange herumgefahren an den Rändern der Stadt, um einen Ort von solcher Verlassenheit zu finden. Langsam bilden sich die Konturen eines Wanderers ab, der den langen schwarzen Mantel trägt. Bei jedem Schritt blitzt das glänzende Futter auf. Um die Taille der Gürtel, der Kälbergurt. Der Wanderer läuft in der Mitte der Straße Richtung Osten, wo es am Horizont allmählich Tag wird. Die Kamera fährt ihm nicht nach."
Es gibt keine Story in diesem Film, nur Bruchstücke, Bilder, Musik, etwa Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" oder Brahms, "gesungen gegen die Krähen und das Rauschen der Bäume", Verse, ein Gebet. Wegen der fehlenden politischen Aussage kommt der Film in Berlin nicht gut an. Aber wir lesen hier auch, dass viele, die den Film damals gesehen haben, seine Bilder und Töne bis heute nicht vergessen können. Man möchte den Film, der in den Archiven der Filmakademie zu finden sein müsste, nach der Lektüre dieses Buchs unbedingt sehen.
Die Verheißung von Freiheit - sie beschreibt Ulrike Edschmid zum Beispiel anhand der Kleider, die sie damals trug, zusammengetrödelt, wie man es in Berlin damals und noch lange danach machte. Sie erzählt, wie sie bei einem Aufenthalt in Italien gemeinsam vor der Waschmaschine sitzen: "Während sich die Trommel dreht und unsere Fundstücke im Schaum erscheinen und wieder versinken, steigen aus den Dingen Visionen einer Welt auf, in der wir mit unseren alten Kleidern leben wollen, Kleidern, aus denen Farbe und Appretur gewichen sind, die weich sind vom Waschen und vom Gebrauch und sich mit der Geschichte der Menschen, die sie einst getragen haben, unserem Leben anschmiegen." Ulrike Edschmid ist mit Philip S. glücklich gewesen.
Dass sie selbst einen anderen Weg wählte als er, hat auch, vielleicht vor allem, mit ihrem Kind zu tun. Der Vater hatte sie bereits verlassen, als sie Philip S. kennenlernt. Und Philip S. verhält sich ganz anders, als sein Aussehen, das den Künstler markiert, erwarten lässt. Er übernimmt Verantwortung. Er ist zuverlässig. Er ist da. Gemeinsam erziehen sie ihren Sohn, gemeinsam gründen sie den ersten Kinderladen, kochen, putzen, gemeinsam werden sie Teil dieser Bewegung, die sich am Modell Summerhill orientiert, von der Ulrike Edschmid auch schreibt: "Worte tauchen auf, die nicht unsere eigenen sind. Wir reden von Klassenkampf, Proletariat, Imperialismus, von Dritter Welt und herrschender Klasse." Sie geraten ins Visier der Behörden, ihre Wohnung , die eine Fabriketage ist, die sie mit anderen teilen, wird immer wieder durchsucht, schließlich werden beide nach einer Demonstration verhaftet und in Untersuchungshaft genommen. Ulrike Edschmid weiß, sie wird eine weitere Haft nicht aushalten. Philip S. fasst offenbar den Entschluss, nach seiner Entlassung abzutauchen. Langsam gleitet er heraus aus dem Leben von Ulrike Edschmid und ihrem Sohn, und eines Tages nimmt er einfach einen Koffer und geht.
Zwischen dem Tod von Philip S. und dem Erscheinen dieses Romans liegen fast vierzig Jahre. Doch erzählt hat Ulrike Edschmid die Geschichte im Präsens, ganz gegenwärtig, vom ersten Tag, dem ersten Blick bis zum Tod auf dem Parkplatz in Köln. Und gegenwärtig bleibt auch die Frage, die sie Philip S. bei ihrem letzten Zusammentreffen nicht stellen konnte, die Frage nach dem Warum. Es gibt keine Erklärung außer der, dass Philip S. ein freier Mann war, der eine Entscheidung traf.
VERENA LUEKEN
Ulrike Edschmid: "Das Verschwinden des Philip S." Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. Geb., 157 S., 15,99 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2014Die schönsten Seiten des Sommers
Schusswechsel
aus der bleiernen Zeit
Zur Entspannung mal wieder ein schönes Terrorismusbuch? Dieses ist aber nun mal strandkompatibel: leicht und schnell zu lesen, direkt geschrieben, nüchtern, offen
– und gerade dadurch umso warmherziger und bewegender. Es geht um den einstigen Lebensgefährten der Autorin namens Philipp Werner Sauber: wie er aus der Schweiz nach Berlin kommt, experimenteller Fotograf und Filmer wird, wie er Schritt für Schritt abdriftet in den linksradikalen Untergrund, in die „Bewegung 2. Juni“, und 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei stirbt. Keine Entschuldigung, sondern eine entwaffnende Geschichte aus der bleiernen Zeit.
JOHAN SCHLOEMANN
Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S.
Roman. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2014. 157 Seiten, 8 Euro, E-Book 7,99 Euro.
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Schusswechsel
aus der bleiernen Zeit
Zur Entspannung mal wieder ein schönes Terrorismusbuch? Dieses ist aber nun mal strandkompatibel: leicht und schnell zu lesen, direkt geschrieben, nüchtern, offen
– und gerade dadurch umso warmherziger und bewegender. Es geht um den einstigen Lebensgefährten der Autorin namens Philipp Werner Sauber: wie er aus der Schweiz nach Berlin kommt, experimenteller Fotograf und Filmer wird, wie er Schritt für Schritt abdriftet in den linksradikalen Untergrund, in die „Bewegung 2. Juni“, und 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei stirbt. Keine Entschuldigung, sondern eine entwaffnende Geschichte aus der bleiernen Zeit.
JOHAN SCHLOEMANN
Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S.
Roman. Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2014. 157 Seiten, 8 Euro, E-Book 7,99 Euro.
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"Es macht den Roman zum lebendigen Dokument eines historischen Bewusstseins."
Martin Ebel, DIE WELT 02.03.2013
Martin Ebel, DIE WELT 02.03.2013