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"In seinem Heimatland Frankreich wird Vladimir Jankélévitch heute als einer der zentralen Philosophen des 20. Jahrhunderts angesehen. Lange Zeit galt der Nachfahre jüdisch-russischer Einwanderer jedoch als 'heimatloser Philosoph', der nicht gewillt war, um die Gunst der öffentlichen Meinung zu buhlen. Jankélévitch war ein Philosoph des Engagements, nichts hat nachhaltiger seine Themenwahl bestimmt als seine Jahre in der Résistance. Er hat über den Tod geschrieben, über die Liebe und die Lüge - am eindringlichsten aber über das Verzeihen. Der Holocaust war für Jankélévitch ein Kulturbruch, der…mehr

Produktbeschreibung
"In seinem Heimatland Frankreich wird Vladimir Jankélévitch heute als einer der zentralen Philosophen des 20. Jahrhunderts angesehen. Lange Zeit galt der Nachfahre jüdisch-russischer Einwanderer jedoch als 'heimatloser Philosoph', der nicht gewillt war, um die Gunst der öffentlichen Meinung zu buhlen. Jankélévitch war ein Philosoph des Engagements, nichts hat nachhaltiger seine Themenwahl bestimmt als seine Jahre in der Résistance. Er hat über den Tod geschrieben, über die Liebe und die Lüge - am eindringlichsten aber über das Verzeihen. Der Holocaust war für Jankélévitch ein Kulturbruch, der die Grenzen des Verzeihens definitiv überschritt; er blieb unversöhnt und untersagte sich nach dem Krieg jede Verbindung mit Deutschland. Die vorliegende Auswahl präsentiert das Denken eines unbequemen, ja fordernden philosophischen Schriftstellers. Eine Entdeckung."
Autorenporträt
Jankélévitch, VladimirVladimir Jankélévitch (1903-1985) war ein französischer Philosoph, Musiker und Musikwissenschaftler. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde ihm während des Zweiten Weltkriegs die Staatsangehörigkeit entzogen. 1941 trat er der Résistance bei. Nach dem Krieg unterrichtete er von 1951 bis 1979 auf dem Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Sorbonne in Paris. Sein umfangreiches Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Konersmann, RalfRalf Konersmann ist Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2003

Pardon wird
nicht gegeben
Erstmals auf Deutsch:
Essays von Vladimir Jankélévitch
Alles hatte gut angefangen. Sein Vater, der jüdisch- russische Arzt Samuel Jankélévitch, hatte nicht nur als Erster Freud ins Französische übersetzt und Hegel in Frankreich populär gemacht, sondern auch in seinem Sohn Vladimir die Liebe zur deutschen Kultur geweckt. Schon als Student an der Ecole normale supérieure hatte er, gerade 22 Jahre alt, 1925 eine Studie über Georg Simmel als Philosoph des Lebens veröffentlicht. Die Idee des „Lebens” übte auf ihn eine geheimnisvolle Anziehungskraft aus. Er dachte dem „Willen” nach, wie er von Goethe, Schelling, Schopenhauer und Nietzsche imaginiert worden war, und war von der „Sehnsucht” begeistert, von der Hölderlin oder Novalis gedichtet hatten. Vor allem Simmels „Lebensanschauung” von 1918 zeigte dem jungen Studenten den Weg, den er selbst gehen wollte. Das Leben sah er als schöpferisches Erlebnis, das immer „mehr Leben” will und zugleich „mehr als Leben”: eine Transzendenz, die sich aus der vitalen Dynamik selbst ergibt und im „gelebten Denken” ihr Medium besitzt.
Jankélévitch wollte kein philosophisches System bauen. Begriffliche Abstraktionen waren im fremd. Das Wogende und Flüssige des Lebens faszinierte ihn, dem er mit einer metaphysisch-poetischen Sprache zu folgen versuchte. 1933 begann die Katastrophe. Er hatte gerade seine Dissertation über „Die Odyssee des Bewusstseins in der letzten Philosophie Schellings” abgeschlossen, als in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Jankélévitch, seit 1938 Professor für Moralphilosophie an der Universität von Lille, wurde 1939 einberufen und im Kampf verletzt. Im Krankenhaus von Marmande, wo er erfährt, dass er als Sohn von Ausländern aus der Armee entlassen worden ist, schreibt er im Sommer 1940 seinen großen Essay „Von der Lüge”.
Das Leben erscheint ihm in einem neuen Licht. An die Stelle des „mehr Leben” ist das massenweise Sterben getreten, das „mehr als Leben” ist in Bestialität umgeschlagen. Mit einem „verwundeten Bewusstsein” wendet Jankélévitch sich den Lügen und Täuschungen zu, von der ersten kindlichen Schwindelei bis zu den ideologischen Verführungen und Verblendungen seiner Zeitgenossen.
Doch ganz will er auf jene Moral nicht verzichten, die er in seinen früheren Arbeiten als „ideales Residuum” des Lebens umschrieben hat. Wie eine verzweifelte Hoffnung klingt sein Hohelied der Unschuld und der Einfachheit, der Aufrichtigkeit und Offenheit. „Alles ist einfach, wenn das Herz dabei ist. ” Aber wo gibt es noch dieses Herz, das Jankélévitch als eine Form der „gnostischen Liebe” beschwört? Wenn überhaupt, dann schlägt es nur in Augenblicken, die sich nicht fixieren lassen. Ihr Geheimnis will der Philosoph nun begreifen, in dem sich vielleicht noch etwas von der Liebe und Tugend zeigen können, nach denen er sich sehnt. Das „Presque-Rien”, das „Beinahe- Nichts”, wird sein großes Thema. Es ist weder Etwas noch einfach Nichts. Es ist, wie ein Blitz oder Funke, ein erscheinendes Verschwinden und verschwindendes Erscheinen, das begrifflich nicht festgestellt werden kann, sondern in seinem plötzlichen Auftauchen „das Herz schlagen lässt”.
Im Beinahe-Nichts
Doch stärker noch als seine Konzentration auf das erlebte „Beinahe-Nichts” übt der Augenblick des Sterbens auf Jankélévitch eine unheimliche Faszination aus. Unter dem Eindruck von Faschismus, Krieg und Massenvernichtung ist der Philosoph des Lebens zu einem Denker des Todes geworden. „La Mort” (1966) ist das alles beherrschende Thema seiner späten Philosophie. „Kann man den Tod denken?” ist die Schlüsselfrage, auf die er eine paradoxe Antwort zu geben versucht. Denn für ihn ist der Tod ein unerträglicher Un-Sinn, der dem Leben einen Sinn verleiht, indem er diesen Sinn gerade verneint. Jankélévitchs Reflexionen über das Sterben resultieren aus seinen Lebenserfahrungen. Vor allem die grenzenlose Enttäuschung, dass es Deutsche waren, die das jüdische Volk als solches ausrotten wollten, hat ihn in eine entsetzliche Verzweiflung getrieben. Er hatte die deutsche Kultur geliebt und musste sehen, wie dieses „gutmütige Volk” zu einem Volk von „tollwütigen Hunden” wurde.
Das hat ihn nicht nur ratlos und sprachlos werden lassen. Das hat ihn zu einem radikalen Bruch mit allem Deutschen gezwungen. 1985 ist Jankélévitch als einsamer und verbitterter Mensch gestorben. Die lichtundurchlässige Bösartigkeit, die sich ihm in den faschistischen Gräueln gezeigt hatte, ließ auch sein eigenes Denken dunkel werden. Er war nicht bereit, das Unverzeihliche zu verzeihen. „Die Verzeihung ist in den Todeslagern gestorben. ” Ohne politische oder geistige Weggefährte zog er sich in die philosophische Heimatlosigkeit zurück. In Deutschland hat man ihn kaum zur Kenntnis genommen. Das „Beinahe-Nichts” war sein eigenes Schicksal geworden. Aus Anlass seines 100. Geburtstags erschien nun zum ersten Mal eine Sammlung einiger seiner Schriften in deutscher Sprache. Sie reicht von seiner frühen Skizze des Lebensphilosophen Simmel (1925) bis zum Widerspruch gegen das Verzeihen (1971), das diesem Moralphilosophen des Herzens nur als ein unheimlicher Scherz gelten konnte.
MANFRED GEIER
VLADIMIR JANKELEVITCH: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 292 Seiten, 29,90 Euro.
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