'Das vierte Wologda' ist Schalamows Buch der Erinnerungen an die Kindheit und frühe Jugend in seiner nordrussischen Geburtsstadt, deren besonderer freiheitsliebender Geist ihn für immer geprägt habe. Diesen Geist verdankt die Stadt den zahlreichen politisch Verbannten, die über die Jahrhunderte ihre Spuren hinterlassen haben. Als Sohn eines Priesters erlebte Schalamow dort mit zehn Jahren die Revolution und die nachrrevolutionären Wirren. In der lakonischen Erzählung gelingt es ihm, seine Abrechnung mit der autoritären Welt des Vaters mit eindrucksvollen Bildern aus dem Alltagsleben der Provinzstadt zu verbinden und auf diese Weise in die dramatische Umbruchszeit russischer Geschichte im 20. Jahrhundert einzubetten. Der Band wird durch die Fragment gebliebenen Erinnerungen an das literarische Leben im Moskau der 1920er-1930er Jahre ergänzt: ein Panorama jener Welt, die Schalamows Schreiben beeinflusst hat und an die er sich auch nach den Jahrzehnten der Lagerhaft mit erstaunlicher Präzision und Detailfreude erinnert.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die in diesem von Franziska Thun-Hohenstein herausgegebenen fünften Band der Warlam-Schalamow-Ausgabe versammelten Texte, besonders die autobiografischen, erscheinen Jörg Plath allesamt unfertig, angefangen und liegengelassen. Etwas mühsam findet er Passagen, die Schalamows revolutionäre Ungeduld offenbaren. Eindrucksvoll hingegen kommen laut Plath die Berichte über Auseinandersetzungen damaliger Künstlergruppen daher, die der Autor nach seiner Entlassung aus dem Gulag 1951 aufschrieb, und Schilderungen der Rededuelle zwischen dem Volkskommissar Anatoli Lunartschinski und dem späteren Metropoliten Alexander Wwedenski, denen der Autor beiwohnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2013Die Schlacht wird seit Jahrhunderten geführt
Seine "Erzählungen aus Kolyma" gehören wie die Werke Alexander Solschenizyns zu den wichtigsten Zeugnissen des GULags. Jetzt erscheinen Warlam Schalamows Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend im Moskau der zwanziger Jahre.
Als es Zeit wurde, die Uhr zu verkaufen, in den Jahren der Not, stellte sich heraus, dass sie nicht aus Gold, sondern nur vergoldet war. Ein Grund wohl, weshalb sie Revolution, Hunger, Krieg und vierzehn Jahre sibirischen GULag an der Kolyma überdauerte. Ihr Besitzer, der Schriftsteller Warlam Schalamow, kehrte nach fast zwei Jahrzehnten aus diesem letzten Kreis der Hölle, einem "Auschwitz ohne Öfen", wie es später hieß, nach Moskau zurück. Die Uhr hatte einst seinem Vater gehört, einem orthodoxen Geistlichen, und war vermutlich das einzige Relikt aus der Kindheit, das Schalamow bis zu seinem Tod 1982 in einer psychiatrischen Klinik begleitete. In seinen in den sechziger und siebziger Jahren entstandenen Erinnerungen taucht sie auf, als etwas, das, wie er liebevoll schreibt, noch immer bei ihm lebt.
Als Chronist der stalinistischen Lagerwelt findet Warlam Schalamow erst heute, mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod, die seinem Werk gebührende Anerkennung. Es gehört zum Kanon der Weltliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine nun als abschließender Band der insgesamt sechsbändigen deutschsprachigen Werkausgabe erschienenen Erinnerungen an Kindheit und Jugend im nordwestrussischen Wologda und an das Moskau der zwanziger und dreißiger Jahre geben einen Einblick in die soziale und geistige Atmosphäre, der er entstammt und die ihn prägte. Verfasst sind diese zum Teil Fragment gebliebenen Texte aus der radikalen Sicht eines, wie er selbst schrieb, "Teilnehmers an einer riesigen verlorenen Schlacht um eine wirkliche Erneuerung des Lebens". Diese Schlacht wird in Russland seit Jahrhunderten geführt, und im provinziellen Wologda, wo der Fluss zu bestimmten Jahreszeiten rückwärts zu fließen scheint, trafen zu Beginn des Jahrhunderts - Schalamow wurde 1907 geboren - zahlreiche ihrer Akteure aufeinander.
Wologda sei die Stadt der "dörflichen Erwerbsgier", eines bäuerlichen Russlands, dessen Idealisierung in der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, allen voran durch Tolstoi, Schalamow stets vehement ablehnte. Er erinnert sich mit Widerwillen daran, wie nach der Revolution schmatzende Bauern mit ihren schmutzigen Filzstiefeln als neuernannte Herren durch die elterliche Wohnung marodierten und mitnahmen, was sie kriegen konnten. Die Stadt war auch eine des orthodoxen Glaubens, der Kirchen und Kathedralen. Iwan der Schreckliche wollte sie einst zur russischen Hauptstadt ernennen, weil er die Moskauer Intrigen fürchtete. Bis ihm der Überlieferung nach bei einem Besuch in Wologda ein Ziegelstein aus der Decke einer ihm zu Ehren allzu rasch errichteten Kathedrale den Zeh zerschmetterte. Für Schalamow besitzt jeder Mensch nur einen begrenzten Vorrat an religiösen Gefühlen, der einem Chagrinleder gleich schrumpfe. Der seine sei seit Kindertagen erschöpft.
Der Schriftsteller identifiziert sich retrospektiv mit den Verbannten, mit jenen oppositionellen Sozialrevolutionären und Intellektuellen, für die Wologda eine Transitstation in ihrem der Erneuerungsschlacht gewidmeten entbehrungsreichen Leben bedeutete. Diese Dissidenten prägten nicht nur eine Atmosphäre der Freidenkerei, ein Klima, in dem "die Kategorie der Zukunft", wie utopisch und dogmatisch sie auch geklungen haben mag, die entscheidende Rolle spielte. Und sie brachten nicht nur Ideelles in die Stadt, sondern auch Praktisches in Form von Schulen oder Bibliotheken, die sie der Stadt am Ende ihres Exils hinterließen. Sie gründeten Volkslesesäle, Kooperativen und Fabriken. Das Volk, so Schalamow, stehe in der Schuld dieser Intellektuellen und nicht umgekehrt, wie es Ideologen von Tolstoi über die radikale Bewegung des Volkswillens bis hin zu Lenin stets behaupteten.
Der Vater, selbst aus dem traditionell frommen Norden Russlands stammend, hatte nach längerem Dienst auf den einst zum Zarenreich gehörenden und daher orthodox geprägten Aleuten in Alaska eine Stelle als Geistlicher in Wologda angenommen. "Das vierte Wologda" ist auch und vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des Vaters, der einerseits als weltoffener, europäisch gebildeter Kleriker selbstbewusst in der Stadt agierte, andererseits als karriereversessener, dogmatischer Familientyrann auftrat, neben dem die Mutter mit den Sorgen um eine siebenköpfige Familie alleingelassen war. Schöne Literatur, Gedichte, wie sie die Mutter, eine Lehrerin, und Warlam, der Jüngste, liebten, waren dem Vater suspekt. Er stellte sich für seinen Sohn eine Laufbahn in der Kirche oder allenfalls als Arzt vor.
Der Vater liebte die Jagd, der Sohn verachtete dieses Töten zum Zeitvertreib. Die Vater-Sohn-Beziehung war eine der Hassliebe, die dazu führte, dass der Sohn alles Väterliche missachtete. Dass er in seiner zum Teil schroffen Kompromisslosigkeit dem Vater nicht ganz unähnlich war, will er selbst nicht wahrhaben. Andere, wie die mit ihm einige Zeit lang befreundete Nadeshda Mandelstam, haben diese Charakternähe durchaus gesehen, wie Franziska Thun-Hohenstein in ihrem Nachwort schreibt.
Opfer und Täter, Angreifer und Angegriffener, diese sein späteres Leben bestimmende Dichotomie findet Schalamow bereits in der Hierarchie der Familie. Der riss die Revolution den Boden unter den Füßen weg, der Vater verlor seine Stellung und alle daraus resultierenden Versorgungsansprüche, er versuchte es in einer Fabrik, bis auch diese nicht mehr existierte. Es folgte ein Kampf ums Überleben, den die Mutter allein bestritt, auch weil der Vater an einer unbehandelten Augenkrankheit erblindete, was geradezu symbolisch anmutet. Dem neuen System setzte er nichts entgegen. Für Schalamow selbst sind die Erinnerungen an die Jahre in Wologda Teil seiner Seelenlandschaft, die er wie in seinen Erzählungen aus Kolyma mit glasklarer Lakonik beschreibt. So schildert zum Beispiel ein Textfragment aus dem Jahr 1967 den Vater, dem beim Fischen die "Ehre des Totschlagens" gebührte. Mit einem Satz packte er den zappelnden Fisch und zückt das Taschenmesser.
Das Moskau der zwanziger Jahre, in das Schalamow 1924 aus der Enge der Provinz aufbricht, wird als Laboratorium des Kreativen erlebt, in dem zahlreiche intellektuelle Zirkel nebeneinander existierten, als eine Stadt der in ausverkauften Sälen geführten öffentlichen Dispute. Der reiche Anmerkungsapparat des Bandes erweist sich sicher besonders hier für viele Leser als nützlich. Der junge Schalamow, der sich zur literarischen Avantgarde hingezogen fühlt, erkämpft sich nach zwei Jahren als Arbeiter in einer Fabrik den Zugang zur Universität und glaubt wie viele seiner Generation, dass man die Geschichte nur berühren müsse, und "der Hebel wird vor deinen Augen umgelegt". Am Ende des Jahrzehnts hatten sich viele der Kommunarden in sowjetische Spießer verwandelt, und für jene, die sich der neuen Ordnung nicht beugten, begann ein Martyrium, dessen Dimensionen damals noch keiner ahnte.
Zwischen diesem Moskau und dem der dreißiger Jahre liegt Schalamows erste Verurteilung zur Zwangsarbeit. 1932 kehrt er in eine "schreckliche" Stadt zurück, in eine Atmosphäre des geistigen Stillstandes, der beginnenden Denunziationen, des Stalinismus. In der Ukraine hatte Stalins Politik zu einer Hungerkatastrophe geführt, der Millionen zum Opfer fallen sollten. Im Januar 1937, im Jahr des Großen Terrors, wird Schalamow wieder verhaftet. Bis zu seiner Rückkehr nach Moskau und seiner Rehabilitierung sollten fast zwanzig Jahre vergehen. In den neunziger Jahren wurde in Schalamows Geburtsstadt ein Museum eingerichtet. Unweit davon gibt es seit einiger Zeit auch noch eine ganz andere Touristenattraktion. Im Winter 1911/12 hatte Stalin als Verbannter etwa einen Monat in Wologda verbracht. Heute kann man den Diktator als Wachsfigur in seinem ehemaligen Domizil besuchen. In den Erinnerungen des Schriftstellers kommt der Name des Tyrannen nicht vor.
SABINE BERKING
Warlam Schalamow: "Das vierte Wologda und Erinnerungen".
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort von
Franziska Thun-Hohenstein. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013. 560 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seine "Erzählungen aus Kolyma" gehören wie die Werke Alexander Solschenizyns zu den wichtigsten Zeugnissen des GULags. Jetzt erscheinen Warlam Schalamows Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend im Moskau der zwanziger Jahre.
Als es Zeit wurde, die Uhr zu verkaufen, in den Jahren der Not, stellte sich heraus, dass sie nicht aus Gold, sondern nur vergoldet war. Ein Grund wohl, weshalb sie Revolution, Hunger, Krieg und vierzehn Jahre sibirischen GULag an der Kolyma überdauerte. Ihr Besitzer, der Schriftsteller Warlam Schalamow, kehrte nach fast zwei Jahrzehnten aus diesem letzten Kreis der Hölle, einem "Auschwitz ohne Öfen", wie es später hieß, nach Moskau zurück. Die Uhr hatte einst seinem Vater gehört, einem orthodoxen Geistlichen, und war vermutlich das einzige Relikt aus der Kindheit, das Schalamow bis zu seinem Tod 1982 in einer psychiatrischen Klinik begleitete. In seinen in den sechziger und siebziger Jahren entstandenen Erinnerungen taucht sie auf, als etwas, das, wie er liebevoll schreibt, noch immer bei ihm lebt.
Als Chronist der stalinistischen Lagerwelt findet Warlam Schalamow erst heute, mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod, die seinem Werk gebührende Anerkennung. Es gehört zum Kanon der Weltliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine nun als abschließender Band der insgesamt sechsbändigen deutschsprachigen Werkausgabe erschienenen Erinnerungen an Kindheit und Jugend im nordwestrussischen Wologda und an das Moskau der zwanziger und dreißiger Jahre geben einen Einblick in die soziale und geistige Atmosphäre, der er entstammt und die ihn prägte. Verfasst sind diese zum Teil Fragment gebliebenen Texte aus der radikalen Sicht eines, wie er selbst schrieb, "Teilnehmers an einer riesigen verlorenen Schlacht um eine wirkliche Erneuerung des Lebens". Diese Schlacht wird in Russland seit Jahrhunderten geführt, und im provinziellen Wologda, wo der Fluss zu bestimmten Jahreszeiten rückwärts zu fließen scheint, trafen zu Beginn des Jahrhunderts - Schalamow wurde 1907 geboren - zahlreiche ihrer Akteure aufeinander.
Wologda sei die Stadt der "dörflichen Erwerbsgier", eines bäuerlichen Russlands, dessen Idealisierung in der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, allen voran durch Tolstoi, Schalamow stets vehement ablehnte. Er erinnert sich mit Widerwillen daran, wie nach der Revolution schmatzende Bauern mit ihren schmutzigen Filzstiefeln als neuernannte Herren durch die elterliche Wohnung marodierten und mitnahmen, was sie kriegen konnten. Die Stadt war auch eine des orthodoxen Glaubens, der Kirchen und Kathedralen. Iwan der Schreckliche wollte sie einst zur russischen Hauptstadt ernennen, weil er die Moskauer Intrigen fürchtete. Bis ihm der Überlieferung nach bei einem Besuch in Wologda ein Ziegelstein aus der Decke einer ihm zu Ehren allzu rasch errichteten Kathedrale den Zeh zerschmetterte. Für Schalamow besitzt jeder Mensch nur einen begrenzten Vorrat an religiösen Gefühlen, der einem Chagrinleder gleich schrumpfe. Der seine sei seit Kindertagen erschöpft.
Der Schriftsteller identifiziert sich retrospektiv mit den Verbannten, mit jenen oppositionellen Sozialrevolutionären und Intellektuellen, für die Wologda eine Transitstation in ihrem der Erneuerungsschlacht gewidmeten entbehrungsreichen Leben bedeutete. Diese Dissidenten prägten nicht nur eine Atmosphäre der Freidenkerei, ein Klima, in dem "die Kategorie der Zukunft", wie utopisch und dogmatisch sie auch geklungen haben mag, die entscheidende Rolle spielte. Und sie brachten nicht nur Ideelles in die Stadt, sondern auch Praktisches in Form von Schulen oder Bibliotheken, die sie der Stadt am Ende ihres Exils hinterließen. Sie gründeten Volkslesesäle, Kooperativen und Fabriken. Das Volk, so Schalamow, stehe in der Schuld dieser Intellektuellen und nicht umgekehrt, wie es Ideologen von Tolstoi über die radikale Bewegung des Volkswillens bis hin zu Lenin stets behaupteten.
Der Vater, selbst aus dem traditionell frommen Norden Russlands stammend, hatte nach längerem Dienst auf den einst zum Zarenreich gehörenden und daher orthodox geprägten Aleuten in Alaska eine Stelle als Geistlicher in Wologda angenommen. "Das vierte Wologda" ist auch und vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des Vaters, der einerseits als weltoffener, europäisch gebildeter Kleriker selbstbewusst in der Stadt agierte, andererseits als karriereversessener, dogmatischer Familientyrann auftrat, neben dem die Mutter mit den Sorgen um eine siebenköpfige Familie alleingelassen war. Schöne Literatur, Gedichte, wie sie die Mutter, eine Lehrerin, und Warlam, der Jüngste, liebten, waren dem Vater suspekt. Er stellte sich für seinen Sohn eine Laufbahn in der Kirche oder allenfalls als Arzt vor.
Der Vater liebte die Jagd, der Sohn verachtete dieses Töten zum Zeitvertreib. Die Vater-Sohn-Beziehung war eine der Hassliebe, die dazu führte, dass der Sohn alles Väterliche missachtete. Dass er in seiner zum Teil schroffen Kompromisslosigkeit dem Vater nicht ganz unähnlich war, will er selbst nicht wahrhaben. Andere, wie die mit ihm einige Zeit lang befreundete Nadeshda Mandelstam, haben diese Charakternähe durchaus gesehen, wie Franziska Thun-Hohenstein in ihrem Nachwort schreibt.
Opfer und Täter, Angreifer und Angegriffener, diese sein späteres Leben bestimmende Dichotomie findet Schalamow bereits in der Hierarchie der Familie. Der riss die Revolution den Boden unter den Füßen weg, der Vater verlor seine Stellung und alle daraus resultierenden Versorgungsansprüche, er versuchte es in einer Fabrik, bis auch diese nicht mehr existierte. Es folgte ein Kampf ums Überleben, den die Mutter allein bestritt, auch weil der Vater an einer unbehandelten Augenkrankheit erblindete, was geradezu symbolisch anmutet. Dem neuen System setzte er nichts entgegen. Für Schalamow selbst sind die Erinnerungen an die Jahre in Wologda Teil seiner Seelenlandschaft, die er wie in seinen Erzählungen aus Kolyma mit glasklarer Lakonik beschreibt. So schildert zum Beispiel ein Textfragment aus dem Jahr 1967 den Vater, dem beim Fischen die "Ehre des Totschlagens" gebührte. Mit einem Satz packte er den zappelnden Fisch und zückt das Taschenmesser.
Das Moskau der zwanziger Jahre, in das Schalamow 1924 aus der Enge der Provinz aufbricht, wird als Laboratorium des Kreativen erlebt, in dem zahlreiche intellektuelle Zirkel nebeneinander existierten, als eine Stadt der in ausverkauften Sälen geführten öffentlichen Dispute. Der reiche Anmerkungsapparat des Bandes erweist sich sicher besonders hier für viele Leser als nützlich. Der junge Schalamow, der sich zur literarischen Avantgarde hingezogen fühlt, erkämpft sich nach zwei Jahren als Arbeiter in einer Fabrik den Zugang zur Universität und glaubt wie viele seiner Generation, dass man die Geschichte nur berühren müsse, und "der Hebel wird vor deinen Augen umgelegt". Am Ende des Jahrzehnts hatten sich viele der Kommunarden in sowjetische Spießer verwandelt, und für jene, die sich der neuen Ordnung nicht beugten, begann ein Martyrium, dessen Dimensionen damals noch keiner ahnte.
Zwischen diesem Moskau und dem der dreißiger Jahre liegt Schalamows erste Verurteilung zur Zwangsarbeit. 1932 kehrt er in eine "schreckliche" Stadt zurück, in eine Atmosphäre des geistigen Stillstandes, der beginnenden Denunziationen, des Stalinismus. In der Ukraine hatte Stalins Politik zu einer Hungerkatastrophe geführt, der Millionen zum Opfer fallen sollten. Im Januar 1937, im Jahr des Großen Terrors, wird Schalamow wieder verhaftet. Bis zu seiner Rückkehr nach Moskau und seiner Rehabilitierung sollten fast zwanzig Jahre vergehen. In den neunziger Jahren wurde in Schalamows Geburtsstadt ein Museum eingerichtet. Unweit davon gibt es seit einiger Zeit auch noch eine ganz andere Touristenattraktion. Im Winter 1911/12 hatte Stalin als Verbannter etwa einen Monat in Wologda verbracht. Heute kann man den Diktator als Wachsfigur in seinem ehemaligen Domizil besuchen. In den Erinnerungen des Schriftstellers kommt der Name des Tyrannen nicht vor.
SABINE BERKING
Warlam Schalamow: "Das vierte Wologda und Erinnerungen".
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Hrsg., mit Anmerkungen und einem Nachwort von
Franziska Thun-Hohenstein. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2013. 560 S., geb., 29,90 [Euro].
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