Das Viertel der Clowns ist eine abschätzige Bezeichnung für die Bewohner des Wohnviertels am äußersten Rand der Großstadt Gwangju, in dem die Hauptfigur des Romans, Cheol, Ich-Erzähler und Alter Ego des Autors, mit seiner Familie fünf wichtige Jahre seiner frühen Jugend verbringt. Die vierköpfige Familie, darunter eine schwerbehinderte Tochter, lebt in bitterer Armut, seit man von einer Insel auf das Festland umgezogen ist, der Vater hat sie verlassen und fährt zur See, die Mutter muß sie mit Näharbeiten über Wasser halten, die ältere Tochter arbeitet in der Fabrik und kann die Schule nicht fortsetzen. Der Roman enthält eine farbig erzählte Episodenfolge mit interessanten Figuren im Zentrum, die in verschiedener Weise mit Cheol und den Seinen in Verbindung stehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2018Angriff der Vergangenheit
"Das Viertel der Clowns" von Lim Chul Woo
"Leben - das heißt alleine auf sich gestellt durch die stockfinstere Nacht gehen." Lim Chul Woo, der 1954 geborene koreanische Poet der Düsternis, beschwört Wunden und Nachwehen des Korea-Kriegs sowie Psychogramme der Militärdiktaturen in Südkorea herauf. Die Prosa Lims, der 1980 als Student den Kwangju-Aufstand erlebte, lässt das Leiden an der Vergangenheit, die Schuldgefühle von Überlebenden, Traumata und Stigmata als Fatum des koreanischen Volkes erkennen. Seine übersetzten, halbfiktiven Memoiren über die sechziger Jahre, erschienen in Korea 1993, erzählen vom Sog der Stadt und vom Umzug der vaterlosen Familie des zwölfjährigen Cheol, Lims Alter Ego, aus der vor Koreas Südwestspitze gelegenen Insel Wando in das von Bessersituierten sogenannte "Viertel der Clowns" am Stadtrand von Kwangju.
Erzählrahmen sind ein Prolog und ein Epilog des zweiunddreißigjährigen Cheol, die die "quietschende Schublade", in der "meine Kindheit aufbewahrt ist", öffnen und wieder schließen. In 33 fatalistisch-heiteren Episoden einer Armut ohne Anmut, die der sinnentleerten Gegenwart Züge eines Schwanks abgewinnen, werden Cheols Lehr- und Wanderjahre geschildert, während das letzte Kapitel sein unstetes Erwachsenenleben in Seouls Straßen und als Matrose umreißt.
Lim gewährt Einblicke in den Alltag der Entwicklungsdiktatur, die seine Helden beherrscht. Ein Crescendo der Desillusion und ein Lebensgefühl, Verdammte, ideologisch Getriebene, Treibgut des Gestern zu sein, prägen den Roman. Das neue Wohnviertel ist ein Universum der Tagelöhner, Trödelhändler, hinkenden Schuster und armen Teufel. Dieser Peripherie stehen Illusionen der Stadt als "Zone des Lichtes" gegenüber.
Trost spenden Erinnerungen an von Cheols Oma erzählte Mythen über Sternschnuppen, wonach jeder Mensch früher ein Stern war und in armen und reichen Familien, in Nord oder Süd wiedergeboren wurde. Die Folgen des Stellvertreterkriegs spürt gerade die Peripherie: Da ist der Comicladenbesitzer, den eine Kugel der "Marionettenarmee der Kommunisten" traf, worauf ihm der Arm amputiert wurde und der Traumberuf Gitarrenspieler ein Traum blieb. Als von der Umwelt beargwöhntes Landei gerät Cheol auf Irrwege, schwänzt die Schule, besucht Kinovorstellungen. Die Fluchtphantasien des Jungen im Wartesaal eines Bahnhofs gelten einem Land ohne Vormund und Gesinnungen, Väter und Lehrer. Große Geschichte spiegelt sich im Regionalen, Bruderkrieg im Familienzwist. Kinderfragen an den Vater im Krankenhaus, in dem die Mutter im Sterben liegt, erschüttern die Erwachsenenlogik der Kriege.
Regenerativ wirken Begegnungen mit Außenseitern wie Ohmok, die stets einen Geigenkasten mit sich trägt und in Cheol die Liebe zur Literatur weckt. Cheol beschließt, Dichter zu werden, um "Geschichten von unzähligen traurigen Gestirnen" zu erzählen. Er lernt Erinnerungen in ihrer kathartischen Kraft wertzuschätzen. "Nur die Träumer finden ihren Weg auch in der Dunkelheit", lehrte der Harmoniumspieler: "Es liegt an dir, die Bedeutung deines Traums herauszufinden."
STEFFEN GNAM
Lim Chul Woo:
"Das Viertel der Clowns". Eine Jugend in Südkorea. Roman.
Aus dem Koreanischen von Jung Youngsun und Herbert Jaumann. Iudicium Verlag, München 2018. 267 S., br., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Viertel der Clowns" von Lim Chul Woo
"Leben - das heißt alleine auf sich gestellt durch die stockfinstere Nacht gehen." Lim Chul Woo, der 1954 geborene koreanische Poet der Düsternis, beschwört Wunden und Nachwehen des Korea-Kriegs sowie Psychogramme der Militärdiktaturen in Südkorea herauf. Die Prosa Lims, der 1980 als Student den Kwangju-Aufstand erlebte, lässt das Leiden an der Vergangenheit, die Schuldgefühle von Überlebenden, Traumata und Stigmata als Fatum des koreanischen Volkes erkennen. Seine übersetzten, halbfiktiven Memoiren über die sechziger Jahre, erschienen in Korea 1993, erzählen vom Sog der Stadt und vom Umzug der vaterlosen Familie des zwölfjährigen Cheol, Lims Alter Ego, aus der vor Koreas Südwestspitze gelegenen Insel Wando in das von Bessersituierten sogenannte "Viertel der Clowns" am Stadtrand von Kwangju.
Erzählrahmen sind ein Prolog und ein Epilog des zweiunddreißigjährigen Cheol, die die "quietschende Schublade", in der "meine Kindheit aufbewahrt ist", öffnen und wieder schließen. In 33 fatalistisch-heiteren Episoden einer Armut ohne Anmut, die der sinnentleerten Gegenwart Züge eines Schwanks abgewinnen, werden Cheols Lehr- und Wanderjahre geschildert, während das letzte Kapitel sein unstetes Erwachsenenleben in Seouls Straßen und als Matrose umreißt.
Lim gewährt Einblicke in den Alltag der Entwicklungsdiktatur, die seine Helden beherrscht. Ein Crescendo der Desillusion und ein Lebensgefühl, Verdammte, ideologisch Getriebene, Treibgut des Gestern zu sein, prägen den Roman. Das neue Wohnviertel ist ein Universum der Tagelöhner, Trödelhändler, hinkenden Schuster und armen Teufel. Dieser Peripherie stehen Illusionen der Stadt als "Zone des Lichtes" gegenüber.
Trost spenden Erinnerungen an von Cheols Oma erzählte Mythen über Sternschnuppen, wonach jeder Mensch früher ein Stern war und in armen und reichen Familien, in Nord oder Süd wiedergeboren wurde. Die Folgen des Stellvertreterkriegs spürt gerade die Peripherie: Da ist der Comicladenbesitzer, den eine Kugel der "Marionettenarmee der Kommunisten" traf, worauf ihm der Arm amputiert wurde und der Traumberuf Gitarrenspieler ein Traum blieb. Als von der Umwelt beargwöhntes Landei gerät Cheol auf Irrwege, schwänzt die Schule, besucht Kinovorstellungen. Die Fluchtphantasien des Jungen im Wartesaal eines Bahnhofs gelten einem Land ohne Vormund und Gesinnungen, Väter und Lehrer. Große Geschichte spiegelt sich im Regionalen, Bruderkrieg im Familienzwist. Kinderfragen an den Vater im Krankenhaus, in dem die Mutter im Sterben liegt, erschüttern die Erwachsenenlogik der Kriege.
Regenerativ wirken Begegnungen mit Außenseitern wie Ohmok, die stets einen Geigenkasten mit sich trägt und in Cheol die Liebe zur Literatur weckt. Cheol beschließt, Dichter zu werden, um "Geschichten von unzähligen traurigen Gestirnen" zu erzählen. Er lernt Erinnerungen in ihrer kathartischen Kraft wertzuschätzen. "Nur die Träumer finden ihren Weg auch in der Dunkelheit", lehrte der Harmoniumspieler: "Es liegt an dir, die Bedeutung deines Traums herauszufinden."
STEFFEN GNAM
Lim Chul Woo:
"Das Viertel der Clowns". Eine Jugend in Südkorea. Roman.
Aus dem Koreanischen von Jung Youngsun und Herbert Jaumann. Iudicium Verlag, München 2018. 267 S., br., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Steffen Gnam freut sich, dass Lim Chul Woos im Original bereits 1993 erschienenen "halbfiktiven Memoiren" an eine Jugend in Südkorea nun auch auf Deutsch vorliegen. Für den Kritiker ist der südkoreanische Autor ohnehin ein "Poet der Finsternis", denn kaum jemand erzähle so sogkräftig von den Folgen des Koreakriegs wie Chul Woo. Er folgt hier in 33 "fatalistisch-heiteren" Episoden dem jungen Cheol, der während der Entwicklungsdiktatur aufwächst, lernt den Alltag in Seouls Straßen kennen und bewundert nicht zuletzt das "Crescendo der Desillusion", das der Autor hier entwirft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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