Produktdetails
- Verlag: Midas
- 1999.
- Seitenzahl: 300
- Deutsch
- Abmessung: 190mm
- Gewicht: 364g
- ISBN-13: 9783907100721
- ISBN-10: 3907100727
- Artikelnr.: 08301861
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2000Tempo, Tempo!
Tom Standage über die Sozialgeschichte der elektrischen Telegrafie
Diese neue Erfindung, schrieb ein Wissenschaftler großspurig, werde der Menschheit mehr als nur materiellen Wohlstand bringen: "Ein gemeinsames Band, geknüpft durch elektronische Nähe, wird möglicherweise dazu beitragen, zukünftige Aufwallungen von Rassenhaß und Nationalismus zu unterbinden." Freilich war es nicht der elektrische Telegraf, dem diese volltönenden Worte galten, und ihr Urheber war auch kein backenbärtiger Gentlemen-Erfinder des neunzehnten Jahrhunderts. Naive Vorstellungen wie die, dass technische Innovationen politische Probleme im Handumdrehen lösen würden, sind keineswegs ein Privileg des Zeitalters der Erfindungen, sondern geistern auch durch die Gegenwart. Heute ist es das Internet, von dem sich manche Techniker wie der eben aus Standages Buch zitierte Michael Dertouzos gar einen "computergestützten Frieden" erhoffen. Womit wir schon beim Thema sind, das Tom Standage reichlich verkorkst dargestellt hat.
Ein Vergleich kann das Vertraute fremd und das Fremde vertraut scheinen lassen. Tom Standage, der am Ende seines Buches dieses und andere politische Manifeste zum Internet bloßstellt, da sie von denselben naiven Voraussetzungen ausgingen wie die Technikerhymnen des neunzehnten Jahrhunderts, erzählt die Geschichte der elektrischen Telegrafie in relativierender Absicht. Die technikhistorischen Fakten, auf die er zurückgreift, sind bekannt. Standage braucht keine Fußnoten, sondern nur eine schmale Bibliografie von Sekundärliteratur.
Originell könnte seine Geschichte sein, da sie das Alte in der Terminologie des neuen Netzes nacherzählt. Es wäre eine neue Geschichte. Im Ansatz ganz ähnlich hat vor Jahren Michael Giesecke scharfsinnig über den Buchdruck in der frühen Neuzeit als "historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien" geschrieben, freilich basierte sein Buch auf überbordenden eigenen Quellenstudien. Unter dem Eindruck der so genannten neuen Medien unserer Zeit räsonierte Giesecke über das technologisch bedingte Entstehen neuer Märkte, Wissenskanäle und Aufschreibsysteme im sechzehnten Jahrhundert, und er beschrieb mitleidsvoll die Nöte der Zensoren.
Standages Nacherzählung bleibt demgegenüber lahm wie einst die optische Telegrafie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, deren Botschaften mittels Signalmännern von Hügel zu Hügel geschickt wurden. Ständig ahnt man, was als Nächstes passiert. Das Grundmuster seines Buches bildet die Erfolgsgeschichte einer Erfindung; die Nacherzählung wird nicht dadurch origineller, dass Standage einen gekonnten Plauderton wählt. Dass der Autor bisweilen kuriose Episoden einflicht, nimmt ihr nichts von ihrem antiquierten heroischen Pathos. Man kann den Erfinderkitsch, den etwa Edward Morse über seinen Vater erzählt, durchaus zitieren, aber doch bitte nicht unkommentiert. Wahrscheinlich aber hätte man das historische Material selbst neu lesen müssen, um etwas anderes zu entdecken als das Fortschrittspathos der tollkühnen Männer an ihren singenden Drähten.
Doch Standages Buch enttäuscht nicht nur deswegen, weil es ein lauer Aufguss bereits bekannter Fakten ist. Sein Vergleichsansatz ist fast ebenso naiv wie die von ihm vorgeführten Technikenthusiasten und Technikverächter. Neue Medien brächten nicht nur Fortschritt, so Standages Credo, sondern auch Kriminalität; sie bewirkten eine Beschleunigung unserer Zeitvorstellungen. So wie heute Sex ein wichtiger Motor des Internets ist (Standage formuliert: "Liebe"), so knüpften sich auch im neunzehnten Jahrhundert über die harten Drähte zarte "Fernromanzen" (Standages Ton ist so keusch, wie das Viktorianische Zeitalter es nie war).
Nichts findet sich in Standages Vergleich, worauf man nicht auf Anhieb von selbst gekommen wäre. Wo aber liegt bei dem Vergleich von Alt und Neu das Tertium Comparationis? Sicher gab es durch die Unterseekabel bald ein internationales telegrafisches "Netzwerk"; Standage lässt bei solchen Beobachtungen gerne Begriffe wie "Globalisierung" fallen. Genau diese Leichtfertigkeit bei der Kategorienbildung verwischt aber wichtige Unterschiede. Denn wie sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie durch die Kabelverbindung zwischen dem englischen Mutterland und den überseeischen Kolonien geändert hat, erörtert er nicht. Auch die Veränderung der Zeitbegriffe wird nur oberflächlich angesprochen. Hier liegt die Crux des ganzen Buches: Standage greift einige modische Begriffe auf, die er kulturgeschichtlich bearbeitet. Dem historischen Phänomen Telegrafie wird eine naive Vorstellung der Internet-Welt übergestülpt.
Welche Leser daran Geschmack finden sollen, ergibt sich aus der Verlagswerbung: Mitglieder der Internet-Gemeinde, die bislang aber weder über ihr Medium nachgedacht haben noch einen blassen Schimmer von der Sozial- und Technikgeschichte des elektrischen Telegrafen haben. Diese netizens könnten es wohl ganz komisch finden, mit den viktorianischen "Sonderlingen, Exzentrikern und Visionären" (Klappentext), die Standage aufmarschieren lässt, in eine Linie gestellt zu werden. Und in der Tat dürfte es heilsam für manche von ihnen sein, wenn sie ihre gegenwartsbesessenen Ängste und Hoffnungen im historischen Kontext sähen. Aber dann doch besser mit Michael Giesecke und dem Buchdruck im sechzehnten Jahrhundert. Wir werden es ihnen zu Weihnachten unter die Tastatur legen.
MILOS VEC.
Tom Standage: "Das viktorianische Internet". Die erstaunliche Geschichte des Telegraphen und der ersten Online-Pioniere des 19. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Annemarie Pumpernig. Midas Management Verlag AG, Zürich 1999. 256 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tom Standage über die Sozialgeschichte der elektrischen Telegrafie
Diese neue Erfindung, schrieb ein Wissenschaftler großspurig, werde der Menschheit mehr als nur materiellen Wohlstand bringen: "Ein gemeinsames Band, geknüpft durch elektronische Nähe, wird möglicherweise dazu beitragen, zukünftige Aufwallungen von Rassenhaß und Nationalismus zu unterbinden." Freilich war es nicht der elektrische Telegraf, dem diese volltönenden Worte galten, und ihr Urheber war auch kein backenbärtiger Gentlemen-Erfinder des neunzehnten Jahrhunderts. Naive Vorstellungen wie die, dass technische Innovationen politische Probleme im Handumdrehen lösen würden, sind keineswegs ein Privileg des Zeitalters der Erfindungen, sondern geistern auch durch die Gegenwart. Heute ist es das Internet, von dem sich manche Techniker wie der eben aus Standages Buch zitierte Michael Dertouzos gar einen "computergestützten Frieden" erhoffen. Womit wir schon beim Thema sind, das Tom Standage reichlich verkorkst dargestellt hat.
Ein Vergleich kann das Vertraute fremd und das Fremde vertraut scheinen lassen. Tom Standage, der am Ende seines Buches dieses und andere politische Manifeste zum Internet bloßstellt, da sie von denselben naiven Voraussetzungen ausgingen wie die Technikerhymnen des neunzehnten Jahrhunderts, erzählt die Geschichte der elektrischen Telegrafie in relativierender Absicht. Die technikhistorischen Fakten, auf die er zurückgreift, sind bekannt. Standage braucht keine Fußnoten, sondern nur eine schmale Bibliografie von Sekundärliteratur.
Originell könnte seine Geschichte sein, da sie das Alte in der Terminologie des neuen Netzes nacherzählt. Es wäre eine neue Geschichte. Im Ansatz ganz ähnlich hat vor Jahren Michael Giesecke scharfsinnig über den Buchdruck in der frühen Neuzeit als "historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien" geschrieben, freilich basierte sein Buch auf überbordenden eigenen Quellenstudien. Unter dem Eindruck der so genannten neuen Medien unserer Zeit räsonierte Giesecke über das technologisch bedingte Entstehen neuer Märkte, Wissenskanäle und Aufschreibsysteme im sechzehnten Jahrhundert, und er beschrieb mitleidsvoll die Nöte der Zensoren.
Standages Nacherzählung bleibt demgegenüber lahm wie einst die optische Telegrafie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, deren Botschaften mittels Signalmännern von Hügel zu Hügel geschickt wurden. Ständig ahnt man, was als Nächstes passiert. Das Grundmuster seines Buches bildet die Erfolgsgeschichte einer Erfindung; die Nacherzählung wird nicht dadurch origineller, dass Standage einen gekonnten Plauderton wählt. Dass der Autor bisweilen kuriose Episoden einflicht, nimmt ihr nichts von ihrem antiquierten heroischen Pathos. Man kann den Erfinderkitsch, den etwa Edward Morse über seinen Vater erzählt, durchaus zitieren, aber doch bitte nicht unkommentiert. Wahrscheinlich aber hätte man das historische Material selbst neu lesen müssen, um etwas anderes zu entdecken als das Fortschrittspathos der tollkühnen Männer an ihren singenden Drähten.
Doch Standages Buch enttäuscht nicht nur deswegen, weil es ein lauer Aufguss bereits bekannter Fakten ist. Sein Vergleichsansatz ist fast ebenso naiv wie die von ihm vorgeführten Technikenthusiasten und Technikverächter. Neue Medien brächten nicht nur Fortschritt, so Standages Credo, sondern auch Kriminalität; sie bewirkten eine Beschleunigung unserer Zeitvorstellungen. So wie heute Sex ein wichtiger Motor des Internets ist (Standage formuliert: "Liebe"), so knüpften sich auch im neunzehnten Jahrhundert über die harten Drähte zarte "Fernromanzen" (Standages Ton ist so keusch, wie das Viktorianische Zeitalter es nie war).
Nichts findet sich in Standages Vergleich, worauf man nicht auf Anhieb von selbst gekommen wäre. Wo aber liegt bei dem Vergleich von Alt und Neu das Tertium Comparationis? Sicher gab es durch die Unterseekabel bald ein internationales telegrafisches "Netzwerk"; Standage lässt bei solchen Beobachtungen gerne Begriffe wie "Globalisierung" fallen. Genau diese Leichtfertigkeit bei der Kategorienbildung verwischt aber wichtige Unterschiede. Denn wie sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie durch die Kabelverbindung zwischen dem englischen Mutterland und den überseeischen Kolonien geändert hat, erörtert er nicht. Auch die Veränderung der Zeitbegriffe wird nur oberflächlich angesprochen. Hier liegt die Crux des ganzen Buches: Standage greift einige modische Begriffe auf, die er kulturgeschichtlich bearbeitet. Dem historischen Phänomen Telegrafie wird eine naive Vorstellung der Internet-Welt übergestülpt.
Welche Leser daran Geschmack finden sollen, ergibt sich aus der Verlagswerbung: Mitglieder der Internet-Gemeinde, die bislang aber weder über ihr Medium nachgedacht haben noch einen blassen Schimmer von der Sozial- und Technikgeschichte des elektrischen Telegrafen haben. Diese netizens könnten es wohl ganz komisch finden, mit den viktorianischen "Sonderlingen, Exzentrikern und Visionären" (Klappentext), die Standage aufmarschieren lässt, in eine Linie gestellt zu werden. Und in der Tat dürfte es heilsam für manche von ihnen sein, wenn sie ihre gegenwartsbesessenen Ängste und Hoffnungen im historischen Kontext sähen. Aber dann doch besser mit Michael Giesecke und dem Buchdruck im sechzehnten Jahrhundert. Wir werden es ihnen zu Weihnachten unter die Tastatur legen.
MILOS VEC.
Tom Standage: "Das viktorianische Internet". Die erstaunliche Geschichte des Telegraphen und der ersten Online-Pioniere des 19. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Annemarie Pumpernig. Midas Management Verlag AG, Zürich 1999. 256 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ganz und gar ärgerlich findet Milos Vec diese "Nacherzählung" über die Erfindung des Telegraphen; der Autor hat nicht nur unkommentiert "Erfinderkitsch" des 19.Jahrhunderts zitiert, sondern auch auf naive und gar fahrlässige Weise Parallelen zum Internet hergestellt, die jeder historischen Genauigkeit Hohn lachen. Natürlich gibt es Parallelen, vor allem in der Hoffnung auf Demokratisierung durch technischen Fortschritt damals und heute, gesteht Vec zu. Aber die leichtfertige Art, in der Standage beispielsweise von "Globalisierung" schon zur Zeit der Viktorianer spricht, verwischt Unterschiede derart, dass der Vergleich schon gar nichts mehr hergibt. Der Rezensent vergleicht dieses Buch mit der vor Jahren erschienenen Arbeit Michael Gieseckes, einer "Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien" anhand der Erfindung des Buchdrucks. Diese, so Vec, weist all jene Qualitäten auf, die er in Standages Buch so sehr vermisst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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