Der junge Arzt Norton Perina kehrt mit einer unfassbaren Entdeckung von der Insel Ivu'ivu zurück: Hat er wirklich ein Mittel gegen die Sterblichkeit gefunden? Eine uralte Schildkrötenart soll die Formel des ewigen Lebens bergen. So kometenhaft er damit zur Spitze der Wissenschaft aufsteigt, so rasant vollzieht sich die Kolonisierung und Zerstörung der Insel. Mit gnadenloser Verführungskraft zieht Hanya Yanagihara uns hinein in den Forscherrausch im Urwald und lässt uns auch dann nicht entkommen, als Perina dort eine weitere Entdeckung macht: seine fatale Liebe zu Kindern. Wie betrachten wir eine Lebensleistung, wenn sich das Genie als Monster entpuppt? Ein brillant geschriebener, gefährlicher Dschungel von einem Roman.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Christoph Vormweg rät dringend, sich das Vorwort zu Hanya Yanagiharas Roman bis zum Ende aufzusparen. Ansonsten verlören die Erinnerungen des Forschungsreisenden Perina einiges an Spannung. Was der Erzähler über seine Reise zu einem isolierten mikronesischen Volksstamm berichtet, scheint Vormweg darüber hinaus präzis und bildreich gefasst, detailliert in den Naturbeschreibungen und von atmosphärischer Dichte. Über die Kabale im Forschermilieu scheint ihm die Autorin besonders gut Bescheid zu wissen, die Kollision eines primitiven Wertesystems mit dem christlichen Weltbild schildert Yanagihara laut Rezensent mitreißend, mit Gespür für menschliche Abgründe und enstprechend desillusionierend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2019Geschenke
für den Kopf
Die Weihnachtsempfehlungen
des SZ-Feuilletons
ILLUSTRATIONEN: STEFAN DIMITROV
David Steinitz
EINE HERAUSFORDERUNG (1)
Es ist in diesem Jahr kein spannenderer Krimi erschienen als dieser. Don Winslows „Jahre des Jägers“ ist das knapp 1000-seitige Finale seiner monumentalen Romantrilogie über den amerikanischen Drogenkrieg. Ein brutaler Thriller und ein trauriger Abgesang auf die USA. Kann man auch unabhängig von den ersten beiden Teilen lesen, aber besser: alle drei hintereinander.
Don Winslow: Jahre des Jägers. Droemer, München 2019. 992 S., 28 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Noch besser als der Regisseur Quentin Tarantino ist eigentlich nur der DJ Quentin Tarantino. Für „Once Upon A Time in Hollywood“, sein tragikomisches Sittengemälde der Sechzigerjahre, hat er eine famose Platte ohne Angst vor Kitsch kompiliert. „Choo Choo Train“ von den Box Tops und „Mrs. Robinson“ von Simon & Garfunkel sind die Lieder seiner Kindheit. Und ein paar irre Radiowerbespots von damals – „Numero Uno Cologne!“ – gibt es als Intermezzi noch dazu. So fühlt man sich auch im Volkswagen im Schwabinger Regen für ein paar Sekunden wie im Cabrio unter der Sonne von Los Angeles.
Once Upon A Time In Hollywood. Soundtrack. Mit The Village Callers, Simon & Garfunkel u.a. CD, 10 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG (2)
Die fünf Folgen der Miniserie „Chernobyl“ von Craig Mazin sind ein Meisterstück der TV-Erzählkunst. Ein perfekt ausgestatteter und gespielter Albtraum über das Reaktorunglück von 1986.
Chernobyl Mit Jared Harris, Stellan Skarsgård. Von Craig Mazin. 2 DVDs, 14 Euro oder Stream.
Christine Dössel
EIN GENUSS
Die Memoiren der wunderbaren Angela Winkler, nicht wichtigtuerisch, sondern so, wie sie ist: lebensfreudig, offen, unkonventionell. Ein episodenhaftes Buch, das wie ein frischer Luftzug daherweht. Man kann sich die Schauspielerin danach nicht mehr ohne Gummistiefel und dreckige Fingernägel vorstellen, so oft wie sie sich dem Beruf entzogen und mit ihrem Mann alte, entlegene Häuser umgebaut hat. Vier Kinder haben sie, eines mit Downsyndrom. Viel Freiheit ist hier zu spüren – als Basis feiner Kunst.
Angela Winkler: Mein blaues Zimmer. Autobiographische Skizzen. Kiwi, Köln 2019. 240 Seiten, 22 Euro.
EIN AUFREGER
Der Theaterprofessor und ehemalige SZ-Kritiker C. Bernd Sucher erzählt von seiner strengen, gefühlskalten jüdischen Mutter, einer KZ-Überlebenden – und damit viel von sich selbst. Ein sehr persönliches, berührendes, teils erschütterndes Buch, sowohl zeithistorisch als auch psychopathologisch interessant.
C. Bernd Sucher: Mamsi und ich.
Die Geschichte einer Befreiung. Piper, München 2019. 256 Seiten, 20 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht...“ Goethes Kultbriefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, inbrünstig interpretiert von Philipp Hochmair, der selber ein Maniac ist und mit seinem Bühnensolo „Werther!“ seit 1997 tourt. Auch als Hörbuch ein irrer Gefühlstrip, begleitet von Hochmairs Band Die Elektrohand Gottes.
Philipp Hochmair / Die Elektrohand Gottes: Werther! Elektrohand Records, hoanzl.at. 18 Euro.
Lothar Müller
EIN LIEBESBEWEIS
Die Geschichte eines Bonvivants und Spions, eines Kommunisten, der Jude war, ohne es sein zu wollen, und doch blieb. Ein Rückblick auf die Kulturaristokratie der DDR und Deutschland im 20. Jahrhundert. Vor allem aber das Buch einer Tochter, die das abgründige Leben ihres Vaters erzählt, ohne ihm den Prozess zu machen.
Barbara Honigmann: Georg. Roman. Hanser, 2019, 160 Seiten, 18 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Der Staub, angeblich in Archiven zu Hause, ist eine Großmacht. Wer die Staubwolken und das Staubsieben nach der Lektüre dieses so gelehrten wie humorvollen Essays noch unterschätzt, dem ist nicht zu helfen.
Joachim Kalka: Staub. Berenberg Verlag, Berlin 2019, 152 S., 22 Euro).
EIN GENUSS
In diesem großen Roman des 19. Jahrhunderts findet das Welttheater in der englischen Provinz um 1830 statt. Eine kleine Frau mit runden Augen sieht darin aus wie ein gezähmter Falke. Die Autorin nimmt es nicht nur mit Liebe, Ökonomie und Politik auf, sondern auch mit den modernen Wissenschaften.
George Eliot: Middlemarch. Neuübersetzung. Rowohlt. 1264 S., 45 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Wer bei dem Wort „Traumlandschaften“ nicht an paradiesische Reiseziele denkt, sondern an das Unheimliche, die Ängste und Obsessionen, kommt als Teilnehmer dieser furiosen Expedition ins Reich der Finsternis infrage.
Mircea Cărtărescu: Solenoid. Roman. Zsolnay, 2019. 912 Seiten, 36 Euro.
Felix Stephan
EINE HILFE
Über die kommenden Zwanzigerjahre wird oft gesprochen, als stünde ein Revival des berühmten Vorgängerjahrzehnts aus dem 20. Jahrhundert an: Starke politische Ränder, soziale Ungleichheit und ein rasanter technologischer Wandel ergeben ein autoritäres Gebräu. Lehrreicher ist der Ansatz des Politologen Philip Manow: Er erklärt den Aufstieg des europäischen Populismus nicht anhand historischer Formatvorlagen, sondern anhand der ökonomischen Bedingungen der Gegenwart.
Philip Manow: Die politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp, Berlin 2018. 160 Seiten, 16 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Computerspiele sind ästhetisch unerfreulich, aber allgegenwärtig. Im Falle des monumentalen Computerspiel-Romans „Miami Punk“ von Juan S. Guse verhält es sich genau andersrum. Ein dunkles Zeichengewitter, eine soziologisch informierte Gesellschaftshochrechnung, Literatur aus der Zukunft.
Juan S. Guse: Miami Punk. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019. 640 Seiten, 26 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
In „Menschheitsdämmerung“, der bedeutendsten Lyrik-Anthologie des deutschen Expressionismus, herrscht eine besondere Stimmung. Als wäre die deutsche Lyrik unter einem Apfelbaum eingedämmert und in einer industrialisierten Metropole wieder aufgewacht. Der Urknall des 20. Jahrhunderts.
Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Rowohlt, Hamburg 2019. 448 Seiten, 34 Euro.
Catrin Lorch
EIN GENUSS
Ein Loch graben. Die Erde um die halbe Welt fahren. Wieder graben, wieder Erde verschiffen. Die in Nigeria geborene Otobong Nkanga bringt in ihren Werken Konzeptkunst und Kolonialismusdebatte zusammen – und es sieht fantastisch aus: Weil Otobong Nkanga auch das Buch dazu gezeichnet hat und die harte, künstlerische Setzung in eine bestechend klare, zarte Bildsprache übersetzt hat.
Otobong Nkanga: To Dig A Hole That Collapses Again. Katalog zur Ausstellung mit Essays von Omar Kholeif und Teju Cole. Museum of Contemporary Art Chicago und DelMonico Books, 2018. 41 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Klaus Theweleit hat alles erklärt. Die Männer, die Welt, wie das miteinander zusammenhängt. Mehr als tausend Seiten, die alle gelesen hatten, vor vierzig Jahren. Und offensichtlich vergessen haben – es ist ernüchternd, wie aktuell sich die Neuauflage liest.
Klaus Theweleit: Männerphantasien. Matthes & Seitz, Berlin 2019.
1278 Seiten, 42 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Ein Buch zum Ausklang des Bauhausjahres. Das „Notebook“ ist ein Faksimile des Hefts, in dem die Künstlerin Anni Albers sich Notizen machte. Mit Bleistift auf Karopapier, ein Webmuster nach dem anderen. Näher kann man der Kunst nicht kommen.
Anni Albers: Notebook
Nachwort von Brenda Danilowitz. David Zwirner Books, New York 2017. 152 Seiten, 26 Euro (über Buchhandlung Walther König).
Theresa Hein
EIN LIEBESBEWEIS
Es mag zwar sein, dass den beiden Genies ein bisschen mehr Duett-Routine gutgetan hätte. Das gelegentliche Gekicher von Johnny Cash macht aber jede Schlamperei vergessen. Vor allem für Menschen, die sich mit Bob Dylan eher schwertun.
Bob Dylan, Johnny Cash: Travelin’ Thru,1967 –1969: The Bootleg Series Volume 15. 3 CDs, 23 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Eine Kritik des 21. Jahrhunderts an dir, mir, uns. Ein Theatergedicht.
Wolfram Lotz: Die Politiker. Spector Books, Leipzig 2019. 96 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Phoebe Waller-Bridge spielt eine Frau, die Angst hat, dass sie habgierig, sexsüchtig, egoistisch, zynisch ist und zu allem Überfluss nicht mal eine gute Feministin. „Fleabag“ ist nicht nur die beste britische Serie der vergangenen Jahre, sondern zeigt nebenbei noch, wie erfüllend und notwendig die Liebe einer Schwester sein kann.
Fleabag Von und mit Phoebe Waller-Bridge. DVD/Bluray, 22 Euro/40 Euro. Oder via Streaming.
EIN AUFREGER
Wie geht eine Gesellschaft damit um, wenn herauskommt, dass ein gefeiertes Wissenschaftsgenie Kinder missbraucht? Hanya Yanagihara gibt in ihrem ersten Roman keine Antwort, dafür einem verachtenswerten Protagonisten eine Stimme. „Schwieriges Thema“ wäre eine Untertreibung.
Hanya Yanagihara: Das Volk der Bäume. Roman. Hanser Berlin, 2019. 478 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
für den Kopf
Die Weihnachtsempfehlungen
des SZ-Feuilletons
ILLUSTRATIONEN: STEFAN DIMITROV
David Steinitz
EINE HERAUSFORDERUNG (1)
Es ist in diesem Jahr kein spannenderer Krimi erschienen als dieser. Don Winslows „Jahre des Jägers“ ist das knapp 1000-seitige Finale seiner monumentalen Romantrilogie über den amerikanischen Drogenkrieg. Ein brutaler Thriller und ein trauriger Abgesang auf die USA. Kann man auch unabhängig von den ersten beiden Teilen lesen, aber besser: alle drei hintereinander.
Don Winslow: Jahre des Jägers. Droemer, München 2019. 992 S., 28 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Noch besser als der Regisseur Quentin Tarantino ist eigentlich nur der DJ Quentin Tarantino. Für „Once Upon A Time in Hollywood“, sein tragikomisches Sittengemälde der Sechzigerjahre, hat er eine famose Platte ohne Angst vor Kitsch kompiliert. „Choo Choo Train“ von den Box Tops und „Mrs. Robinson“ von Simon & Garfunkel sind die Lieder seiner Kindheit. Und ein paar irre Radiowerbespots von damals – „Numero Uno Cologne!“ – gibt es als Intermezzi noch dazu. So fühlt man sich auch im Volkswagen im Schwabinger Regen für ein paar Sekunden wie im Cabrio unter der Sonne von Los Angeles.
Once Upon A Time In Hollywood. Soundtrack. Mit The Village Callers, Simon & Garfunkel u.a. CD, 10 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG (2)
Die fünf Folgen der Miniserie „Chernobyl“ von Craig Mazin sind ein Meisterstück der TV-Erzählkunst. Ein perfekt ausgestatteter und gespielter Albtraum über das Reaktorunglück von 1986.
Chernobyl Mit Jared Harris, Stellan Skarsgård. Von Craig Mazin. 2 DVDs, 14 Euro oder Stream.
Christine Dössel
EIN GENUSS
Die Memoiren der wunderbaren Angela Winkler, nicht wichtigtuerisch, sondern so, wie sie ist: lebensfreudig, offen, unkonventionell. Ein episodenhaftes Buch, das wie ein frischer Luftzug daherweht. Man kann sich die Schauspielerin danach nicht mehr ohne Gummistiefel und dreckige Fingernägel vorstellen, so oft wie sie sich dem Beruf entzogen und mit ihrem Mann alte, entlegene Häuser umgebaut hat. Vier Kinder haben sie, eines mit Downsyndrom. Viel Freiheit ist hier zu spüren – als Basis feiner Kunst.
Angela Winkler: Mein blaues Zimmer. Autobiographische Skizzen. Kiwi, Köln 2019. 240 Seiten, 22 Euro.
EIN AUFREGER
Der Theaterprofessor und ehemalige SZ-Kritiker C. Bernd Sucher erzählt von seiner strengen, gefühlskalten jüdischen Mutter, einer KZ-Überlebenden – und damit viel von sich selbst. Ein sehr persönliches, berührendes, teils erschütterndes Buch, sowohl zeithistorisch als auch psychopathologisch interessant.
C. Bernd Sucher: Mamsi und ich.
Die Geschichte einer Befreiung. Piper, München 2019. 256 Seiten, 20 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht...“ Goethes Kultbriefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, inbrünstig interpretiert von Philipp Hochmair, der selber ein Maniac ist und mit seinem Bühnensolo „Werther!“ seit 1997 tourt. Auch als Hörbuch ein irrer Gefühlstrip, begleitet von Hochmairs Band Die Elektrohand Gottes.
Philipp Hochmair / Die Elektrohand Gottes: Werther! Elektrohand Records, hoanzl.at. 18 Euro.
Lothar Müller
EIN LIEBESBEWEIS
Die Geschichte eines Bonvivants und Spions, eines Kommunisten, der Jude war, ohne es sein zu wollen, und doch blieb. Ein Rückblick auf die Kulturaristokratie der DDR und Deutschland im 20. Jahrhundert. Vor allem aber das Buch einer Tochter, die das abgründige Leben ihres Vaters erzählt, ohne ihm den Prozess zu machen.
Barbara Honigmann: Georg. Roman. Hanser, 2019, 160 Seiten, 18 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Der Staub, angeblich in Archiven zu Hause, ist eine Großmacht. Wer die Staubwolken und das Staubsieben nach der Lektüre dieses so gelehrten wie humorvollen Essays noch unterschätzt, dem ist nicht zu helfen.
Joachim Kalka: Staub. Berenberg Verlag, Berlin 2019, 152 S., 22 Euro).
EIN GENUSS
In diesem großen Roman des 19. Jahrhunderts findet das Welttheater in der englischen Provinz um 1830 statt. Eine kleine Frau mit runden Augen sieht darin aus wie ein gezähmter Falke. Die Autorin nimmt es nicht nur mit Liebe, Ökonomie und Politik auf, sondern auch mit den modernen Wissenschaften.
George Eliot: Middlemarch. Neuübersetzung. Rowohlt. 1264 S., 45 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Wer bei dem Wort „Traumlandschaften“ nicht an paradiesische Reiseziele denkt, sondern an das Unheimliche, die Ängste und Obsessionen, kommt als Teilnehmer dieser furiosen Expedition ins Reich der Finsternis infrage.
Mircea Cărtărescu: Solenoid. Roman. Zsolnay, 2019. 912 Seiten, 36 Euro.
Felix Stephan
EINE HILFE
Über die kommenden Zwanzigerjahre wird oft gesprochen, als stünde ein Revival des berühmten Vorgängerjahrzehnts aus dem 20. Jahrhundert an: Starke politische Ränder, soziale Ungleichheit und ein rasanter technologischer Wandel ergeben ein autoritäres Gebräu. Lehrreicher ist der Ansatz des Politologen Philip Manow: Er erklärt den Aufstieg des europäischen Populismus nicht anhand historischer Formatvorlagen, sondern anhand der ökonomischen Bedingungen der Gegenwart.
Philip Manow: Die politische Ökonomie des Populismus. Suhrkamp, Berlin 2018. 160 Seiten, 16 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Computerspiele sind ästhetisch unerfreulich, aber allgegenwärtig. Im Falle des monumentalen Computerspiel-Romans „Miami Punk“ von Juan S. Guse verhält es sich genau andersrum. Ein dunkles Zeichengewitter, eine soziologisch informierte Gesellschaftshochrechnung, Literatur aus der Zukunft.
Juan S. Guse: Miami Punk. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019. 640 Seiten, 26 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
In „Menschheitsdämmerung“, der bedeutendsten Lyrik-Anthologie des deutschen Expressionismus, herrscht eine besondere Stimmung. Als wäre die deutsche Lyrik unter einem Apfelbaum eingedämmert und in einer industrialisierten Metropole wieder aufgewacht. Der Urknall des 20. Jahrhunderts.
Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Rowohlt, Hamburg 2019. 448 Seiten, 34 Euro.
Catrin Lorch
EIN GENUSS
Ein Loch graben. Die Erde um die halbe Welt fahren. Wieder graben, wieder Erde verschiffen. Die in Nigeria geborene Otobong Nkanga bringt in ihren Werken Konzeptkunst und Kolonialismusdebatte zusammen – und es sieht fantastisch aus: Weil Otobong Nkanga auch das Buch dazu gezeichnet hat und die harte, künstlerische Setzung in eine bestechend klare, zarte Bildsprache übersetzt hat.
Otobong Nkanga: To Dig A Hole That Collapses Again. Katalog zur Ausstellung mit Essays von Omar Kholeif und Teju Cole. Museum of Contemporary Art Chicago und DelMonico Books, 2018. 41 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Klaus Theweleit hat alles erklärt. Die Männer, die Welt, wie das miteinander zusammenhängt. Mehr als tausend Seiten, die alle gelesen hatten, vor vierzig Jahren. Und offensichtlich vergessen haben – es ist ernüchternd, wie aktuell sich die Neuauflage liest.
Klaus Theweleit: Männerphantasien. Matthes & Seitz, Berlin 2019.
1278 Seiten, 42 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Ein Buch zum Ausklang des Bauhausjahres. Das „Notebook“ ist ein Faksimile des Hefts, in dem die Künstlerin Anni Albers sich Notizen machte. Mit Bleistift auf Karopapier, ein Webmuster nach dem anderen. Näher kann man der Kunst nicht kommen.
Anni Albers: Notebook
Nachwort von Brenda Danilowitz. David Zwirner Books, New York 2017. 152 Seiten, 26 Euro (über Buchhandlung Walther König).
Theresa Hein
EIN LIEBESBEWEIS
Es mag zwar sein, dass den beiden Genies ein bisschen mehr Duett-Routine gutgetan hätte. Das gelegentliche Gekicher von Johnny Cash macht aber jede Schlamperei vergessen. Vor allem für Menschen, die sich mit Bob Dylan eher schwertun.
Bob Dylan, Johnny Cash: Travelin’ Thru,1967 –1969: The Bootleg Series Volume 15. 3 CDs, 23 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Eine Kritik des 21. Jahrhunderts an dir, mir, uns. Ein Theatergedicht.
Wolfram Lotz: Die Politiker. Spector Books, Leipzig 2019. 96 Seiten, 10 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Phoebe Waller-Bridge spielt eine Frau, die Angst hat, dass sie habgierig, sexsüchtig, egoistisch, zynisch ist und zu allem Überfluss nicht mal eine gute Feministin. „Fleabag“ ist nicht nur die beste britische Serie der vergangenen Jahre, sondern zeigt nebenbei noch, wie erfüllend und notwendig die Liebe einer Schwester sein kann.
Fleabag Von und mit Phoebe Waller-Bridge. DVD/Bluray, 22 Euro/40 Euro. Oder via Streaming.
EIN AUFREGER
Wie geht eine Gesellschaft damit um, wenn herauskommt, dass ein gefeiertes Wissenschaftsgenie Kinder missbraucht? Hanya Yanagihara gibt in ihrem ersten Roman keine Antwort, dafür einem verachtenswerten Protagonisten eine Stimme. „Schwieriges Thema“ wäre eine Untertreibung.
Hanya Yanagihara: Das Volk der Bäume. Roman. Hanser Berlin, 2019. 478 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2019Genie und Verbrechen - kann man das trennen?
"Das Volk der Bäume", der erste Roman der großartigen Autorin Hanya Yanagihara, erscheint auf Deutsch
Neulich im Café: Alles war gerade ganz friedlich, da kam plötzlich "Billie Jean". Und dann, als der Schock sich gelegt hatte, kurz danach auch noch "Black or White". Was tun? Sofort aufstehen? Sitzen bleiben und das nicht zu verhindernde innere Mitsingen nach außen hin durch einen besonders kritisch-alarmierten Gesichtsausdruck kompensieren? Auch nach all den Feuilletondebatten über die wahrscheinlich nötige, aber höchstwahrscheinlich unmögliche Trennung zwischen zu schützender Kunst und zu verurteilendem Künstler weiß man immer noch nicht mehr, als dass das Ganze ein Dilemma ist. Unlösbar.
Ach, hätte man doch "Das Volk der Bäume" von Hanya Yanagihara im Café dabeigehabt! Dieser Roman nämlich, das Debüt der Schriftstellerin und Journalistin, die 2016 mit ihrem zweiten Buch "Ein wenig Leben" ("A Little Life") weltbekannt wurde, gibt eine sehr überzeugende ästhetische Antwort darauf, wie man Werk und Verbrechen trennen beziehungsweise: mit beiden zusammen umgehen kann.
Achtzehn Jahre hat Yanagihara an ihrem Debüt geschrieben. "Die Erinnerung daran ist vor allem die Erinnerung an eine furchtbare Zeit in meinem Leben: Es ist Sommer, alle sind irgendwo draußen am Strand, nur ich sitze am Schreibtisch", sagte sie neulich bei einer Lesung in Berlin ziemlich fröhlich. Es ist ja auch ein großes Glück: Nicht nur, dass sie achtzehn Jahre lang hartnäckig geblieben ist, sondern auch, dass das Buch sechs Jahre nach Publikation des amerikanischen Originals endlich ins Deutsche übersetzt worden ist.
"Das Volk der Bäume" ist ein grundlegend anderes Buch als "Ein wenig Leben": keines, das man fast ohne Pause verschlingt und beweint, keines, das rückhaltlose Identifikation mit den Hauptfiguren fordert. Hier geht es nicht um vier enge Freunde in New York, sondern um eine Gruppe einander nicht besonders sympathischer Wissenschaftler auf einer fiktiven Insel. Anstelle des Ortes, der einem zutiefst vertraut ist, und sei es nur aus anderen Büchern, Filmen, Songs, also ein imaginärer Ort, für dessen allererste innere Vorstellung man im Kopf erst Platz schaffen muss. Anstelle von Identifikationsfiguren eine Hauptfigur, die einem noch vor dem ersten Kapitel durch Zeitungsberichte als Verbrecher offenbart wird. Auch der sexuelle Missbrauch, der in beiden Texten zentral ist, wird von der entgegengesetzten Seite beleuchtet: in "Ein wenig Leben" durch die Psyche eines Überlebenden, in "Das Volk der Bäume" durch die Memoiren eines Täters. Wo "Ein wenig Leben" hineinzieht, hält "Das Volk der Bäume" auf Distanz. Und gerade die Konstruktion dieser Distanz ist es, die an dem Buch so sehr fasziniert, die es zu einem so beeindruckenden, beinahe experimentellen Stück Literatur macht.
Es geht um den Arzt Dr. Norton Perina, der in den 1950er Jahren als junger Medizinabsolvent zusammen mit einem berühmten Ethnologen eine Forschungsreise zu einer Inselgruppe in der Südsee unternimmt. Die wichtigste der fiktiven Inseln ist Ivu'ivu, Perina ist dort für die Untersuchung der indigenen Bewohner des Dschungels zuständig. Ziel der Forschungen ist es vor allem, hinter das Geheimnis der hohen Lebenserwartung der Inselbewohner zu kommen: Einige sind schon über zweihundert Jahre alt. Dabei entdeckt er unter anderem eine Schildkrötenart namens Opa'ivu'eke, verschiedene, auch problematische Rituale - und seine große Liebe zu den Kindern der Inselfamilien, von denen er über die Jahre insgesamt mehr als vierzig adoptieren und mit sich zurück in die Vereinigten Staaten nehmen wird. In den 1970er Jahren wird ihm für seine Entdeckungen der Nobelpreis verliehen, seine Veröffentlichungen machen die Insel aber auch bekannt und setzen sie massiven Eingriffen und Veränderungen aus. Perina ist darüber entsetzt. Für seine eigenen Taten, für die er 1997 angeklagt und verurteilt wurde, die mehrfache Vergewaltigung von einem seiner Adoptivsöhne, gilt das nicht.
Mehr braucht man zum Inhalt des Romans nicht zu wissen - höchstens noch, dass Dr. Perina ein reales Vorbild hat: der Mediziner Dr. Daniel Gajdusek, ebenfalls Nobelpreisträger, ebenfalls wegen sexuellen Missbrauchs an einem Adoptivsohn verurteilt, arbeitete mit Yanagiharas Onkel am gleichen Forschungszentrum, sein Name war ihr als Kind sehr vertraut. Dass sie eines Tages über ihn schreiben wollte, wusste sie schon früh. Für Recherche und Schreiben hat sie allerdings noch einmal achtzehn Jahre gebraucht. Als "Das Volk der Bäume" dann 2013 erschien, bekam es ein paar positive Rezensionen, wurde insgesamt aber wenig beachtet. Den zweiten Roman schrieb sie daraufhin in nur achtzehn Monaten, der Erfolg machte sie 2016 weltweit bekannt.
Das Entscheidende aber ist die Textform. "Das Volk der Bäume" ist als Herausgeberfiktion konstruiert. Das heißt, die Veröffentlichungsumstände der Erzählung werden miterzählt, als ebenfalls fiktionale Geschichte: Ronald Kubodera, Perinas ihm treu ergebener Assistent, spricht in einem Vorwort und in umfangreichen Fußnoten, und er schickt dem Text eine Karte der Inseln und zwei Zeitungsartikel zur Verhaftung Perinas voraus. Daran muss man erst einmal vorbei, ehe man zu den Memoiren kommt. Ganz am Ende folgen noch ein Epilog, ein Nachtrag, ein Anhang mit zeitlichem Überblick und einem Glossar ausgewählter u'ivuanischer Begriffe.
So entsteht eine Schutzzone um die Stimme des Verbrechers herum: Sie ordnen das, was er erzählen wird, in einen Kontext ein, sorgen zum Beispiel dafür, dass der Roman mit der Benennung der Taten beginnt und endet. Dazwischen folgt man Perinas eigener Erzählung seines Lebens, von der Kindheit über das Studium und die minutiöse Entdeckung und Erforschung der Insel bis zur Adoption und Erziehung der Kinder. Er scheint genau und beinahe naiv offen zu beschreiben. Entlarvend wirkt erst recht die bedingungslose Loyalität seines Assistenten. "Norton ist ein Genie, und das ist alles, was in meinen Augen zählt und meiner Ansicht nach für die Geschichte zählen sollte", schreibt er gleich zu Anfang: "Ich möchte nicht weniger als Nortons Ruf wiederherstellen. Weniger als das für einen Mann zu tun, welcher der Welt der Wissenschaft und der Medizin so viel gegeben hat, wäre, in einem Wort, unverzeihlich." Die übrigens großartige Übersetzung von Stephan Kleiner lässt den doppelbödigen Humor der stellenweise satirischen Übertreibungen und der Wissenschaftssprache der Fußnoten perfekt durchscheinen.
Zwischen diesen verschiedenen Textbausteinen findet das Spiel zwischen Distanz und Einfühlung statt: Man kann ja nicht anders, als sich in jemanden, dessen Lebenserzählung man liest, hineinzuversetzen - auch, wenn man von Anfang an weiß, dass man der Erzählung eines Verbrechers folgt. Ständig ist man beim Lesen damit beschäftigt, diese beiden Gefühlszustände auszutarieren: ohne Anteilnahme kann man einer Erzählung nicht folgen, ohne Distanz aber kann man eine Ich-Erzählung, die in die Vergewaltigung eines Kindes münden wird, nicht ertragen.
Und geht es bei der Hilflosigkeit gegenüber Michael Jacksons eingängiger Musik nicht genau darum: um die Angst, nichts tun zu können gegen eine automatische Identifikation, die Angst davor, den nötigen Abstand nicht halten zu können, sondern beim Zuhören automatisch zu bejahen und zu bestärken, weiter zu erhöhen und zu bewundern? Gibt es eine Art der Kunstrezeption, die nicht überhöhend, nicht affirmativ ist? Hanya Yanagihara zeigt mit "Das Volk der Bäume", dass es geht.
Die Haltung der Erzählerin ist dennoch eindeutig. Ein Zitat aus Shakespeares "Der Sturm" ist dem Roman als Motto vorangestellt: "Prospero: Ein geborner Teufel ist's, / An dem Erziehung nichts verbessern kann." Erziehung kann nichts verbessern. Erzählung schon. Vor allem wenn sie so vollkommen undidaktisch und erfinderisch ist wie in "Das Volk der Bäume".
"Ich interessiere mich dafür, was es bedeutet, menschlich zu sein" ("what it means to be human", formulierte sie neulich in einem Gespräch mit dem Fotografen Alec Soth im "T Magazine" der "New York Times", dessen Herausgeberin sie ist, ihren eigenen Schreibantrieb. Menschlich ist es auch, sich nach der vollkommenen Identifikation und Bejahung in der Kunst zu sehnen. "Ich kann verstehen, wenn jemand die Musik von Michael Jackson nicht mehr hören mag", sagte sie in Berlin auch: "Ich aber höre sie weiter." Kein Wunder: Sie weiß schließlich, wie das gelingt, die großartige Hanya Yanagihara.
JULIA DETTKE.
Hanya Yanagihara: "Das Volk der Bäume". Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin, 480 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das Volk der Bäume", der erste Roman der großartigen Autorin Hanya Yanagihara, erscheint auf Deutsch
Neulich im Café: Alles war gerade ganz friedlich, da kam plötzlich "Billie Jean". Und dann, als der Schock sich gelegt hatte, kurz danach auch noch "Black or White". Was tun? Sofort aufstehen? Sitzen bleiben und das nicht zu verhindernde innere Mitsingen nach außen hin durch einen besonders kritisch-alarmierten Gesichtsausdruck kompensieren? Auch nach all den Feuilletondebatten über die wahrscheinlich nötige, aber höchstwahrscheinlich unmögliche Trennung zwischen zu schützender Kunst und zu verurteilendem Künstler weiß man immer noch nicht mehr, als dass das Ganze ein Dilemma ist. Unlösbar.
Ach, hätte man doch "Das Volk der Bäume" von Hanya Yanagihara im Café dabeigehabt! Dieser Roman nämlich, das Debüt der Schriftstellerin und Journalistin, die 2016 mit ihrem zweiten Buch "Ein wenig Leben" ("A Little Life") weltbekannt wurde, gibt eine sehr überzeugende ästhetische Antwort darauf, wie man Werk und Verbrechen trennen beziehungsweise: mit beiden zusammen umgehen kann.
Achtzehn Jahre hat Yanagihara an ihrem Debüt geschrieben. "Die Erinnerung daran ist vor allem die Erinnerung an eine furchtbare Zeit in meinem Leben: Es ist Sommer, alle sind irgendwo draußen am Strand, nur ich sitze am Schreibtisch", sagte sie neulich bei einer Lesung in Berlin ziemlich fröhlich. Es ist ja auch ein großes Glück: Nicht nur, dass sie achtzehn Jahre lang hartnäckig geblieben ist, sondern auch, dass das Buch sechs Jahre nach Publikation des amerikanischen Originals endlich ins Deutsche übersetzt worden ist.
"Das Volk der Bäume" ist ein grundlegend anderes Buch als "Ein wenig Leben": keines, das man fast ohne Pause verschlingt und beweint, keines, das rückhaltlose Identifikation mit den Hauptfiguren fordert. Hier geht es nicht um vier enge Freunde in New York, sondern um eine Gruppe einander nicht besonders sympathischer Wissenschaftler auf einer fiktiven Insel. Anstelle des Ortes, der einem zutiefst vertraut ist, und sei es nur aus anderen Büchern, Filmen, Songs, also ein imaginärer Ort, für dessen allererste innere Vorstellung man im Kopf erst Platz schaffen muss. Anstelle von Identifikationsfiguren eine Hauptfigur, die einem noch vor dem ersten Kapitel durch Zeitungsberichte als Verbrecher offenbart wird. Auch der sexuelle Missbrauch, der in beiden Texten zentral ist, wird von der entgegengesetzten Seite beleuchtet: in "Ein wenig Leben" durch die Psyche eines Überlebenden, in "Das Volk der Bäume" durch die Memoiren eines Täters. Wo "Ein wenig Leben" hineinzieht, hält "Das Volk der Bäume" auf Distanz. Und gerade die Konstruktion dieser Distanz ist es, die an dem Buch so sehr fasziniert, die es zu einem so beeindruckenden, beinahe experimentellen Stück Literatur macht.
Es geht um den Arzt Dr. Norton Perina, der in den 1950er Jahren als junger Medizinabsolvent zusammen mit einem berühmten Ethnologen eine Forschungsreise zu einer Inselgruppe in der Südsee unternimmt. Die wichtigste der fiktiven Inseln ist Ivu'ivu, Perina ist dort für die Untersuchung der indigenen Bewohner des Dschungels zuständig. Ziel der Forschungen ist es vor allem, hinter das Geheimnis der hohen Lebenserwartung der Inselbewohner zu kommen: Einige sind schon über zweihundert Jahre alt. Dabei entdeckt er unter anderem eine Schildkrötenart namens Opa'ivu'eke, verschiedene, auch problematische Rituale - und seine große Liebe zu den Kindern der Inselfamilien, von denen er über die Jahre insgesamt mehr als vierzig adoptieren und mit sich zurück in die Vereinigten Staaten nehmen wird. In den 1970er Jahren wird ihm für seine Entdeckungen der Nobelpreis verliehen, seine Veröffentlichungen machen die Insel aber auch bekannt und setzen sie massiven Eingriffen und Veränderungen aus. Perina ist darüber entsetzt. Für seine eigenen Taten, für die er 1997 angeklagt und verurteilt wurde, die mehrfache Vergewaltigung von einem seiner Adoptivsöhne, gilt das nicht.
Mehr braucht man zum Inhalt des Romans nicht zu wissen - höchstens noch, dass Dr. Perina ein reales Vorbild hat: der Mediziner Dr. Daniel Gajdusek, ebenfalls Nobelpreisträger, ebenfalls wegen sexuellen Missbrauchs an einem Adoptivsohn verurteilt, arbeitete mit Yanagiharas Onkel am gleichen Forschungszentrum, sein Name war ihr als Kind sehr vertraut. Dass sie eines Tages über ihn schreiben wollte, wusste sie schon früh. Für Recherche und Schreiben hat sie allerdings noch einmal achtzehn Jahre gebraucht. Als "Das Volk der Bäume" dann 2013 erschien, bekam es ein paar positive Rezensionen, wurde insgesamt aber wenig beachtet. Den zweiten Roman schrieb sie daraufhin in nur achtzehn Monaten, der Erfolg machte sie 2016 weltweit bekannt.
Das Entscheidende aber ist die Textform. "Das Volk der Bäume" ist als Herausgeberfiktion konstruiert. Das heißt, die Veröffentlichungsumstände der Erzählung werden miterzählt, als ebenfalls fiktionale Geschichte: Ronald Kubodera, Perinas ihm treu ergebener Assistent, spricht in einem Vorwort und in umfangreichen Fußnoten, und er schickt dem Text eine Karte der Inseln und zwei Zeitungsartikel zur Verhaftung Perinas voraus. Daran muss man erst einmal vorbei, ehe man zu den Memoiren kommt. Ganz am Ende folgen noch ein Epilog, ein Nachtrag, ein Anhang mit zeitlichem Überblick und einem Glossar ausgewählter u'ivuanischer Begriffe.
So entsteht eine Schutzzone um die Stimme des Verbrechers herum: Sie ordnen das, was er erzählen wird, in einen Kontext ein, sorgen zum Beispiel dafür, dass der Roman mit der Benennung der Taten beginnt und endet. Dazwischen folgt man Perinas eigener Erzählung seines Lebens, von der Kindheit über das Studium und die minutiöse Entdeckung und Erforschung der Insel bis zur Adoption und Erziehung der Kinder. Er scheint genau und beinahe naiv offen zu beschreiben. Entlarvend wirkt erst recht die bedingungslose Loyalität seines Assistenten. "Norton ist ein Genie, und das ist alles, was in meinen Augen zählt und meiner Ansicht nach für die Geschichte zählen sollte", schreibt er gleich zu Anfang: "Ich möchte nicht weniger als Nortons Ruf wiederherstellen. Weniger als das für einen Mann zu tun, welcher der Welt der Wissenschaft und der Medizin so viel gegeben hat, wäre, in einem Wort, unverzeihlich." Die übrigens großartige Übersetzung von Stephan Kleiner lässt den doppelbödigen Humor der stellenweise satirischen Übertreibungen und der Wissenschaftssprache der Fußnoten perfekt durchscheinen.
Zwischen diesen verschiedenen Textbausteinen findet das Spiel zwischen Distanz und Einfühlung statt: Man kann ja nicht anders, als sich in jemanden, dessen Lebenserzählung man liest, hineinzuversetzen - auch, wenn man von Anfang an weiß, dass man der Erzählung eines Verbrechers folgt. Ständig ist man beim Lesen damit beschäftigt, diese beiden Gefühlszustände auszutarieren: ohne Anteilnahme kann man einer Erzählung nicht folgen, ohne Distanz aber kann man eine Ich-Erzählung, die in die Vergewaltigung eines Kindes münden wird, nicht ertragen.
Und geht es bei der Hilflosigkeit gegenüber Michael Jacksons eingängiger Musik nicht genau darum: um die Angst, nichts tun zu können gegen eine automatische Identifikation, die Angst davor, den nötigen Abstand nicht halten zu können, sondern beim Zuhören automatisch zu bejahen und zu bestärken, weiter zu erhöhen und zu bewundern? Gibt es eine Art der Kunstrezeption, die nicht überhöhend, nicht affirmativ ist? Hanya Yanagihara zeigt mit "Das Volk der Bäume", dass es geht.
Die Haltung der Erzählerin ist dennoch eindeutig. Ein Zitat aus Shakespeares "Der Sturm" ist dem Roman als Motto vorangestellt: "Prospero: Ein geborner Teufel ist's, / An dem Erziehung nichts verbessern kann." Erziehung kann nichts verbessern. Erzählung schon. Vor allem wenn sie so vollkommen undidaktisch und erfinderisch ist wie in "Das Volk der Bäume".
"Ich interessiere mich dafür, was es bedeutet, menschlich zu sein" ("what it means to be human", formulierte sie neulich in einem Gespräch mit dem Fotografen Alec Soth im "T Magazine" der "New York Times", dessen Herausgeberin sie ist, ihren eigenen Schreibantrieb. Menschlich ist es auch, sich nach der vollkommenen Identifikation und Bejahung in der Kunst zu sehnen. "Ich kann verstehen, wenn jemand die Musik von Michael Jackson nicht mehr hören mag", sagte sie in Berlin auch: "Ich aber höre sie weiter." Kein Wunder: Sie weiß schließlich, wie das gelingt, die großartige Hanya Yanagihara.
JULIA DETTKE.
Hanya Yanagihara: "Das Volk der Bäume". Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin, 480 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine sehr überzeugende ästhetische Antwort darauf, wie man Werk und Verbrechen trennen beziehungsweise: mit beiden zusammen umgehen kann. ...Ein beeindruckendes, beinahe experimentelles Stück Literatur." Julia Dettke, Frankfurter Allgemeine Sonntagzeitung, 07.07.19
"Sprachlich imminent wuchtig, auf verschiedenen Ebenen klug komponiert inklusive wissenschaftlichen Berichten, die mit erfundenen Fußnoten über halbe Seiten Zeitungsartikel zitieren, gearbeitet. Und man kann sich nur wundern, dass damals noch eine junge Frau ihr erstes Werk so reif, so fantastisch komponieren kann. Es ist sprachlich ungeheuer fesselnd und eindringlich." Robert Habeck, Literarisches Quartett, 04.03.19
"Es ist wirklich sprachlich fantastisch, wie diese unberührte Natur beschrieben wird." Volker Weidemann, Literarisches Quartett, 04.03.19
"Ich habe irgendwann völlig vergessen, dass es ein Roman ist und habe es irgendwann für die Wirklichkeit gehalten. ... Es hat mich total fasziniert, es hat mich total reingezogen und das ist ein Buch, was ich von Herzen weiterempfehlen möchte. Das ist ein Buch, mit dem man unbedingt mit jemanden drüber reden möchte." Christine Westermann, Literarisches Quartett, 04.03.19
"Heilloser und zugleich üppiger ist die Natur, ob Menschennatur, Pflanzennatur, Tiernatur, selten einmal literarisch bebildert worden als hier. Das ist unheimlich und faszinierend." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 23.02.19
"Die Lektüre von Yanagiharas Roman gleicht einer Expedition in einen Dschungel der Düsternis." Claudia Voigt, Der Spiegel, 09.02.19
"[Der Autorin gelingt es] diese vielfältigen Aspekte dieses Stoffs sehr übersichtlich zu entfalten und auch klug zu organisieren. Dieser Roman hat einen große Detailreichtum und eine große Faktenfülle und damit gibt er sich einen derart überzeugenden dokumentarischen Anstrich, dass es sogar dann glaubwürdig wirkt, wo er mit dem Thema Unsterblichkeit ins Fantastische abdreht." Sigrid Löffler, Deutschlandfunk Kultur, 31.01.19
"'Das Volk der Bäume' handelt von den Abgründen der Forschung, von Ehrgeiz, westlicher Arroganz, dem Sog des Fremden und - wieder - vom Missbrauch der Schwächsten. Das alles ist im Dschungel, so sinnlich erzählt und übersetzt, dass man denkt, man ist drin." Barbara Weitzel, Welt am Sonntag kompakt, 27.01.19
"Sprachlich imminent wuchtig, auf verschiedenen Ebenen klug komponiert inklusive wissenschaftlichen Berichten, die mit erfundenen Fußnoten über halbe Seiten Zeitungsartikel zitieren, gearbeitet. Und man kann sich nur wundern, dass damals noch eine junge Frau ihr erstes Werk so reif, so fantastisch komponieren kann. Es ist sprachlich ungeheuer fesselnd und eindringlich." Robert Habeck, Literarisches Quartett, 04.03.19
"Es ist wirklich sprachlich fantastisch, wie diese unberührte Natur beschrieben wird." Volker Weidemann, Literarisches Quartett, 04.03.19
"Ich habe irgendwann völlig vergessen, dass es ein Roman ist und habe es irgendwann für die Wirklichkeit gehalten. ... Es hat mich total fasziniert, es hat mich total reingezogen und das ist ein Buch, was ich von Herzen weiterempfehlen möchte. Das ist ein Buch, mit dem man unbedingt mit jemanden drüber reden möchte." Christine Westermann, Literarisches Quartett, 04.03.19
"Heilloser und zugleich üppiger ist die Natur, ob Menschennatur, Pflanzennatur, Tiernatur, selten einmal literarisch bebildert worden als hier. Das ist unheimlich und faszinierend." Christoph Bartmann, Süddeutsche Zeitung, 23.02.19
"Die Lektüre von Yanagiharas Roman gleicht einer Expedition in einen Dschungel der Düsternis." Claudia Voigt, Der Spiegel, 09.02.19
"[Der Autorin gelingt es] diese vielfältigen Aspekte dieses Stoffs sehr übersichtlich zu entfalten und auch klug zu organisieren. Dieser Roman hat einen große Detailreichtum und eine große Faktenfülle und damit gibt er sich einen derart überzeugenden dokumentarischen Anstrich, dass es sogar dann glaubwürdig wirkt, wo er mit dem Thema Unsterblichkeit ins Fantastische abdreht." Sigrid Löffler, Deutschlandfunk Kultur, 31.01.19
"'Das Volk der Bäume' handelt von den Abgründen der Forschung, von Ehrgeiz, westlicher Arroganz, dem Sog des Fremden und - wieder - vom Missbrauch der Schwächsten. Das alles ist im Dschungel, so sinnlich erzählt und übersetzt, dass man denkt, man ist drin." Barbara Weitzel, Welt am Sonntag kompakt, 27.01.19
»'Das Volk der Bäume' ist eines jener herausragenden Bücher, von denen nur zu hoffen ist, dass sie eines Tages zum sogenannten Kanon gehören und auf Schullehrplänen stehen.« Radio ZuSa 20210413