Warum gebrauchen Frauen 20 000 Wörter am Tag, während Männer nur 7000 schaffen? Warum erinnern sie sich an Konflikte, von denen Männer meinen, es habe sie nie gegeben und das, obwohl ihr Gehirn um 9 Prozent kleiner ist? Erstmals wurde das weibliche Gehirn erforscht. Brizendine zeigt, warum Frauen die Welt so gründlich anders sehen als Männer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2007Was vom Mythos des weiblichen Gehirns übrigbleibt, sind ein paar Anekdötchen
Hier finden Männer und Frauen reichlich Munition, um übereinander die alten Witze zu reißen: Louann Brizendine bringt die Geschlechterfrage auf die Hormontablette
Als seriöser Bericht über den Stand der Forschung lässt sich Brizendines Schrift kaum lesen. Die Zunft ist weiter als sie.
In Amerika schon ein Bestseller, gaukelt dieses Buch seinen Leserinnen vor, ihr Schicksal hänge am Östrogen.
Populäre Eva-Prinzipien scheinen derzeit wie Pilze aus dem Boden zu sprießen. Mit Eva Herman ist die amerikanische Neuropsychiaterin Louann Brizendine zwar nicht zu vergleichen, denn sie versteht sich als Feministin, und der Abbildung auf dem Buchumschlag zufolge ist sie brünett, nicht blond. Dennoch will auch Brizendine durch politisch unkorrekte Provokation Diskussionen aufmischen. Und mit grobschlächtigen Thesen wie auch der Verwendung von Beispielen aus dem eigenen Leben hat sie kein Problem.
Ihr in der kommenden Woche bei uns erscheinendes Buch "Das weibliche Gehirn. Warum Frauen anders sind als Männer" versteht sich als angewandte Wissenschaft: Es kommt als Lebensratgeber unter Freundinnen daher. Kleine Szenen, Beziehungsgeschichten und Verhaltensprobleme von Freundinnen und Patientinnen werden im Plauderton verhandelt. Und das Thema? Frauen - macht euch die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung zu eigen! Das weibliche Gehirn ist einzigartig! Frauen sind mit besonderen sprachlichen, emotionalen und sozialen Kompetenzen begabt. Von der Wissenschaft nicht hinreichend gewürdigte Fähigkeiten sind "im Gehirn von Frauen fest einprogrammiert". Frauen werden mit solchen Talenten geboren. Männer jedoch nicht.
Anders als man zunächst vermuten mag, sind nicht eigentlich Hirnstrukturen, sondern Hormone das zentrale Thema des Buchs. Die Autorin legt Erkenntnisse der verhaltenspsychologischen Neuroforschung zugrunde - sowie ein soziobiologisches Grundmodell: die Natur organisiert Liebe, Sex und Partnerwahl am Maßstab der erfolgreichen Weitergabe der Gene. Vor diesem doppelten Hintergrund entwickelt sie ihre These: In vielfältiger Weise entscheiden die Hormone, die das Hirn mit seinen "Schaltkreisen" "fluten", über die unterschiedliche Physiologie von Mann und Frau.
"Noch heute wird die Ansicht vertreten, Frauen könnten nur dann Gleichberechtigung erlangen, wenn alle Unterschiede eingeebnet werden. Aber die biologische Realität sieht anders aus: Das ,Unisex-Gehirn' gibt es nicht." Der Text arrangiert Belege für die Unterschiedlichkeit der Geschlechter und eine bisher unerkannte Andersheit der weiblichen Erlebenswelt: Das männliche Gehirn ist zwar größer als das der Frauen, doch die Zahl der Nervenzellen ist gleich, die Hirnzentren für Sprache und Hören enthalten bei Frauen elf Prozent mehr Neuronen als bei Männern, der Hippocampus und die "Schaltkreise, die der Sprache und dem Beobachten von Emotionen bei anderen dienen", sind bei Frauen größer.
Die Daten sind nur die Spitze des Eisbergs. Was für Brizendine den Hauptunterschied ausmacht, ist die hormonelle Entwicklung: "Wegen der Schwankungen, die schon im Alter von drei Monaten beginnen und sich bis in die Zeit nach den Wechseljahren fortsetzen, ist die neurologische Realität einer Frau nicht so konstant wie die eines Mannes. Bei ihm gleicht sie einem Berg, der im Laufe von Jahrtausenden von Gletschern, der Witterung und den tektonischen Bewegungen der Erde unmerklich abgetragen wird. Ihre gleicht eher dem Wetter: Sie ändert sich ständig und lässt sich nur schwer vorhersagen."
Kapitel für Kapitel schreiten wir dann die typischen Etappen eines weiblichen Menschenlebens ab - oder das, was man so für typisch hält: Angefangen vom weiblichen Säugling, der von Anfang an kommunizieren will - nur weibliche Säuglinge suchen aktiv den Blick der Mutter -, über das weibliche Kleinkind, das Gemeinschaft sucht und alles richtig machen will (im Gegensatz zu testosterongesteuerten Jungen). Pubertierende Mädchen telefonieren stundenlang mit Freundinnen, kämmen sich gegenseitig die Haare und gehen zusammen einkaufen: "Dieser Drang zur Vertrautheit und dem damit verbundenen Stressabbau hat seine biologischen Ursachen in der Kombination aus Dopamin und Oxytocin."
Ähnlich profund kommentiert Brizendine weibliche Verliebtheit und Sexualität. "Wie wir heute wissen, ist alles, was uns an dem potentiellen Partner fasziniert, durch die Evolution des Liebestriebs fest in unserem Gehirn verdrahtet: die bevorzugten Merkmale von Gesicht und Körperbau, die Bewegungen, von denen wir uns verführen lassen, und die pulssteigernde Anziehungskraft. Die kurz- und langfristige ,Chemie' zwischen zwei Menschen mag zufällig erscheinen, aber in Wirklichkeit ist unser Gehirn von vornherein entsprechend programmiert." Es führt uns "zu den Partnern, mit denen wir unsere Chancen in der Lotterie der menschlichen Fortpflanzung verbessern können".
Den weiblichen Orgasmus deutet die Autorin als in besonderer Weise durch einen neuronalen "Schalter" gesteuert - dies sei der eigentliche Grund für die zwischen den Geschlechtern bestehende "sexuelle Kluft". Frauen haben ein "Hirn unter der Gürtellinie", für sie zähle auch physisch die Vorgeschichte, der ganze Hinweg zum Sex. Bei Männern hingegen funktioniere alles schlichter. Hier sei Erregung eine Sache von drei Minuten und "im Wesentlichen hydraulischer Natur".
Im Buch folgen das "Muttergehirn", das sich hormonbedingt irreversibel auf die Belange des Kindes einstellt: "Die Veränderungen, die sich im Muttergehirn abspielen, sind die weitreichendsten und dauerhaftesten im gesamten Leben einer Frau". Dann Emotionen ganz allgemein: Vom sublimen Umgang mit Aggression bis zum Durchschauen von Partnern ist das weibliche Gehirn eine Hochleistungs-Gefühlsmaschine. Und schließlich behandelt ein Kapitel ausführlich die Wechseljahre, das "Gehirn der reifen Frau".
Als seriöser Bericht über den Stand der Forschung lässt sich Brizendines Buch schwerlich lesen. Die Zunft ist weiter als sie. So kommt beispielsweise der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Jäncke zog aus, um den kategorialen Unterschied zwischen Mann und Frau zu finden - und fand ihn nicht. "Der Mensch hat sich weitgehend von der Lenkung durch seine Hormone befreit", resümiert Jäncke seine Forschungen. Er warnt vor Fehlschlüssen, welche allein schon durch die biologistische Fragestellung nahegelegt würden. Selbst wenn sich Unterschiede im Gehirn finden ließen, würde das nicht schon bedeuten, dass sie angeboren sind. Vielmehr forme sich unser Gehirn nicht unabhängig von dem, was wir lernen. Kulturelle Faktoren hätten einen derart starken Einfluss auf Form und Funktion des Gehirns, dass es sich ihnen gegenüber wie "Knetmasse" verhalte. Das ist nicht etwa ein Befund der idealistischen Philosophie, sondern ein Befund der Hirnforschung selbst. Sie ist es, die den Biologisten in ihren eigenen Reihen den Boden entzieht. Tatsächlich sind Brizendines "Belege" vage, oft stammen sie aus Tierversuchen und werden ohne klare Theorie im Hintergrund interpretiert. Sind die Hormone und das Hirn für die Situationen oder sind doch die Situationen für die Hormone und die Hirnmuster kausal? Ist unser Hirn "uralt" oder ist es ungeheuer lernfähig? Der Text betont beides.
Auch die Hinweise auf klinische Aspekte bleiben neblig. Im Zweifel zieht sich die Autorin auf anekdotische Verdichtungen ihrer eigenen Behandlungserfolge zurück: "Jill, eine Lehrerin von zweiundvierzig Jahren, bei der die Wechseljahre kurz bevorstanden, kam zu mir und klagte über fehlende Libido, etwas, das ihr in ihrer Ehe Probleme bereitete. Der Testosteronspiegel in ihrem Blut war sehr niedrig, also behandelte ich sie mit diesem Hormon." Oder: "Ich gab ihr Östrogen und ein Beruhigungsmittel. Zwei Wochen später ging es ihr zu ihrer eigenen Verblüffung viel besser. Ihr Gehirn brauchte die chemische Unterstützung." Oder: "Mit siebenundvierzig hatten die Wechseljahre mich voll im Griff. Ich schlief schlecht, wachte mit Hitzewallungen auf. Zwei Wochen nachdem ich angefangen hatte, Östrogen und ein Antidepressivum aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zu nehmen, war ich wieder ganz die Alte." Oder: Im Alter ist es, "als würde das Leben mit besseren Regeln noch einmal von vorn beginnen. Und wenn dieser Lebenshunger nicht vorhanden ist, kann ein Testosteronpflaster ihn unter Umständen anregen."
Das Buch ist klar adressiert - an Frauen, aber auch ebenso klar an potentielle Patientinnen. Im Stil eines Glossars werden zunächst einmal Hormone erläutert: "Östrogen: Die Königin, mächtig, umfassend"; "Oxytocin: weiches schnurrendes Kätzchen"; "Cortisol: hektisch, unruhig, gestresst". Handelt es sich tatsächlich um einen Beitrag zum Thema Geschlechterdifferenz oder nicht doch um ein geschickt verpacktes Werbebuch für den Griff zur Hormontablette? Brizendine - das sollte man an dieser Stelle nachtragen - leitet eine "Women's Mood and Hormone Clinic" in San Francisco.
Dort verschreibt sie unruhigen Teenagern Hormone, Müttern Serotonin gegen Depressionen, älteren Frauen Östrogene gegen Hirnverfall - und gegen abnehmendes sexuelles Interesse "schon seit 1994 die Testosteronersatztherapie". Dies vor Augen, machen auch Aufforderungen hellhörig, die auf den ersten Blick feministisch klingen: Durch ein besseres Verständnis unseres weiblichen Gehirns könnten wir "die Zukunft besser planen" und nehmen "unser Schicksal in die Hand".
Wesentlich interessanter als Brizendines Buch dürften die Reaktionen sein, die es auslösen wird. In den Vereinigten Staaten soll es sich bereits um einen Bestseller handeln. Ganz gewiss passt es in den naturalistischen Zeitgeist und bietet seinen Leserinnen eine geschmeidige Mischung aus einer "neuen Weiblichkeit" der besonderen neuronalen Fähigkeiten und alten Geschlechterklischees, die auf breiter Front bestätigt werden. Männer wie Frauen finden reichlich Munition für Witze jeweils übereinander. Wer sich über das Buch aber vor allem freuen dürfte, sind Hormonhersteller, Endokrinologen und Apotheker - beiderlei Geschlechts.
PETRA GEHRING
Louann Brizendine: "Das weibliche Gehirn". Warum Frauen anders sind als Männer. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007. 359 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier finden Männer und Frauen reichlich Munition, um übereinander die alten Witze zu reißen: Louann Brizendine bringt die Geschlechterfrage auf die Hormontablette
Als seriöser Bericht über den Stand der Forschung lässt sich Brizendines Schrift kaum lesen. Die Zunft ist weiter als sie.
In Amerika schon ein Bestseller, gaukelt dieses Buch seinen Leserinnen vor, ihr Schicksal hänge am Östrogen.
Populäre Eva-Prinzipien scheinen derzeit wie Pilze aus dem Boden zu sprießen. Mit Eva Herman ist die amerikanische Neuropsychiaterin Louann Brizendine zwar nicht zu vergleichen, denn sie versteht sich als Feministin, und der Abbildung auf dem Buchumschlag zufolge ist sie brünett, nicht blond. Dennoch will auch Brizendine durch politisch unkorrekte Provokation Diskussionen aufmischen. Und mit grobschlächtigen Thesen wie auch der Verwendung von Beispielen aus dem eigenen Leben hat sie kein Problem.
Ihr in der kommenden Woche bei uns erscheinendes Buch "Das weibliche Gehirn. Warum Frauen anders sind als Männer" versteht sich als angewandte Wissenschaft: Es kommt als Lebensratgeber unter Freundinnen daher. Kleine Szenen, Beziehungsgeschichten und Verhaltensprobleme von Freundinnen und Patientinnen werden im Plauderton verhandelt. Und das Thema? Frauen - macht euch die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung zu eigen! Das weibliche Gehirn ist einzigartig! Frauen sind mit besonderen sprachlichen, emotionalen und sozialen Kompetenzen begabt. Von der Wissenschaft nicht hinreichend gewürdigte Fähigkeiten sind "im Gehirn von Frauen fest einprogrammiert". Frauen werden mit solchen Talenten geboren. Männer jedoch nicht.
Anders als man zunächst vermuten mag, sind nicht eigentlich Hirnstrukturen, sondern Hormone das zentrale Thema des Buchs. Die Autorin legt Erkenntnisse der verhaltenspsychologischen Neuroforschung zugrunde - sowie ein soziobiologisches Grundmodell: die Natur organisiert Liebe, Sex und Partnerwahl am Maßstab der erfolgreichen Weitergabe der Gene. Vor diesem doppelten Hintergrund entwickelt sie ihre These: In vielfältiger Weise entscheiden die Hormone, die das Hirn mit seinen "Schaltkreisen" "fluten", über die unterschiedliche Physiologie von Mann und Frau.
"Noch heute wird die Ansicht vertreten, Frauen könnten nur dann Gleichberechtigung erlangen, wenn alle Unterschiede eingeebnet werden. Aber die biologische Realität sieht anders aus: Das ,Unisex-Gehirn' gibt es nicht." Der Text arrangiert Belege für die Unterschiedlichkeit der Geschlechter und eine bisher unerkannte Andersheit der weiblichen Erlebenswelt: Das männliche Gehirn ist zwar größer als das der Frauen, doch die Zahl der Nervenzellen ist gleich, die Hirnzentren für Sprache und Hören enthalten bei Frauen elf Prozent mehr Neuronen als bei Männern, der Hippocampus und die "Schaltkreise, die der Sprache und dem Beobachten von Emotionen bei anderen dienen", sind bei Frauen größer.
Die Daten sind nur die Spitze des Eisbergs. Was für Brizendine den Hauptunterschied ausmacht, ist die hormonelle Entwicklung: "Wegen der Schwankungen, die schon im Alter von drei Monaten beginnen und sich bis in die Zeit nach den Wechseljahren fortsetzen, ist die neurologische Realität einer Frau nicht so konstant wie die eines Mannes. Bei ihm gleicht sie einem Berg, der im Laufe von Jahrtausenden von Gletschern, der Witterung und den tektonischen Bewegungen der Erde unmerklich abgetragen wird. Ihre gleicht eher dem Wetter: Sie ändert sich ständig und lässt sich nur schwer vorhersagen."
Kapitel für Kapitel schreiten wir dann die typischen Etappen eines weiblichen Menschenlebens ab - oder das, was man so für typisch hält: Angefangen vom weiblichen Säugling, der von Anfang an kommunizieren will - nur weibliche Säuglinge suchen aktiv den Blick der Mutter -, über das weibliche Kleinkind, das Gemeinschaft sucht und alles richtig machen will (im Gegensatz zu testosterongesteuerten Jungen). Pubertierende Mädchen telefonieren stundenlang mit Freundinnen, kämmen sich gegenseitig die Haare und gehen zusammen einkaufen: "Dieser Drang zur Vertrautheit und dem damit verbundenen Stressabbau hat seine biologischen Ursachen in der Kombination aus Dopamin und Oxytocin."
Ähnlich profund kommentiert Brizendine weibliche Verliebtheit und Sexualität. "Wie wir heute wissen, ist alles, was uns an dem potentiellen Partner fasziniert, durch die Evolution des Liebestriebs fest in unserem Gehirn verdrahtet: die bevorzugten Merkmale von Gesicht und Körperbau, die Bewegungen, von denen wir uns verführen lassen, und die pulssteigernde Anziehungskraft. Die kurz- und langfristige ,Chemie' zwischen zwei Menschen mag zufällig erscheinen, aber in Wirklichkeit ist unser Gehirn von vornherein entsprechend programmiert." Es führt uns "zu den Partnern, mit denen wir unsere Chancen in der Lotterie der menschlichen Fortpflanzung verbessern können".
Den weiblichen Orgasmus deutet die Autorin als in besonderer Weise durch einen neuronalen "Schalter" gesteuert - dies sei der eigentliche Grund für die zwischen den Geschlechtern bestehende "sexuelle Kluft". Frauen haben ein "Hirn unter der Gürtellinie", für sie zähle auch physisch die Vorgeschichte, der ganze Hinweg zum Sex. Bei Männern hingegen funktioniere alles schlichter. Hier sei Erregung eine Sache von drei Minuten und "im Wesentlichen hydraulischer Natur".
Im Buch folgen das "Muttergehirn", das sich hormonbedingt irreversibel auf die Belange des Kindes einstellt: "Die Veränderungen, die sich im Muttergehirn abspielen, sind die weitreichendsten und dauerhaftesten im gesamten Leben einer Frau". Dann Emotionen ganz allgemein: Vom sublimen Umgang mit Aggression bis zum Durchschauen von Partnern ist das weibliche Gehirn eine Hochleistungs-Gefühlsmaschine. Und schließlich behandelt ein Kapitel ausführlich die Wechseljahre, das "Gehirn der reifen Frau".
Als seriöser Bericht über den Stand der Forschung lässt sich Brizendines Buch schwerlich lesen. Die Zunft ist weiter als sie. So kommt beispielsweise der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Jäncke zog aus, um den kategorialen Unterschied zwischen Mann und Frau zu finden - und fand ihn nicht. "Der Mensch hat sich weitgehend von der Lenkung durch seine Hormone befreit", resümiert Jäncke seine Forschungen. Er warnt vor Fehlschlüssen, welche allein schon durch die biologistische Fragestellung nahegelegt würden. Selbst wenn sich Unterschiede im Gehirn finden ließen, würde das nicht schon bedeuten, dass sie angeboren sind. Vielmehr forme sich unser Gehirn nicht unabhängig von dem, was wir lernen. Kulturelle Faktoren hätten einen derart starken Einfluss auf Form und Funktion des Gehirns, dass es sich ihnen gegenüber wie "Knetmasse" verhalte. Das ist nicht etwa ein Befund der idealistischen Philosophie, sondern ein Befund der Hirnforschung selbst. Sie ist es, die den Biologisten in ihren eigenen Reihen den Boden entzieht. Tatsächlich sind Brizendines "Belege" vage, oft stammen sie aus Tierversuchen und werden ohne klare Theorie im Hintergrund interpretiert. Sind die Hormone und das Hirn für die Situationen oder sind doch die Situationen für die Hormone und die Hirnmuster kausal? Ist unser Hirn "uralt" oder ist es ungeheuer lernfähig? Der Text betont beides.
Auch die Hinweise auf klinische Aspekte bleiben neblig. Im Zweifel zieht sich die Autorin auf anekdotische Verdichtungen ihrer eigenen Behandlungserfolge zurück: "Jill, eine Lehrerin von zweiundvierzig Jahren, bei der die Wechseljahre kurz bevorstanden, kam zu mir und klagte über fehlende Libido, etwas, das ihr in ihrer Ehe Probleme bereitete. Der Testosteronspiegel in ihrem Blut war sehr niedrig, also behandelte ich sie mit diesem Hormon." Oder: "Ich gab ihr Östrogen und ein Beruhigungsmittel. Zwei Wochen später ging es ihr zu ihrer eigenen Verblüffung viel besser. Ihr Gehirn brauchte die chemische Unterstützung." Oder: "Mit siebenundvierzig hatten die Wechseljahre mich voll im Griff. Ich schlief schlecht, wachte mit Hitzewallungen auf. Zwei Wochen nachdem ich angefangen hatte, Östrogen und ein Antidepressivum aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zu nehmen, war ich wieder ganz die Alte." Oder: Im Alter ist es, "als würde das Leben mit besseren Regeln noch einmal von vorn beginnen. Und wenn dieser Lebenshunger nicht vorhanden ist, kann ein Testosteronpflaster ihn unter Umständen anregen."
Das Buch ist klar adressiert - an Frauen, aber auch ebenso klar an potentielle Patientinnen. Im Stil eines Glossars werden zunächst einmal Hormone erläutert: "Östrogen: Die Königin, mächtig, umfassend"; "Oxytocin: weiches schnurrendes Kätzchen"; "Cortisol: hektisch, unruhig, gestresst". Handelt es sich tatsächlich um einen Beitrag zum Thema Geschlechterdifferenz oder nicht doch um ein geschickt verpacktes Werbebuch für den Griff zur Hormontablette? Brizendine - das sollte man an dieser Stelle nachtragen - leitet eine "Women's Mood and Hormone Clinic" in San Francisco.
Dort verschreibt sie unruhigen Teenagern Hormone, Müttern Serotonin gegen Depressionen, älteren Frauen Östrogene gegen Hirnverfall - und gegen abnehmendes sexuelles Interesse "schon seit 1994 die Testosteronersatztherapie". Dies vor Augen, machen auch Aufforderungen hellhörig, die auf den ersten Blick feministisch klingen: Durch ein besseres Verständnis unseres weiblichen Gehirns könnten wir "die Zukunft besser planen" und nehmen "unser Schicksal in die Hand".
Wesentlich interessanter als Brizendines Buch dürften die Reaktionen sein, die es auslösen wird. In den Vereinigten Staaten soll es sich bereits um einen Bestseller handeln. Ganz gewiss passt es in den naturalistischen Zeitgeist und bietet seinen Leserinnen eine geschmeidige Mischung aus einer "neuen Weiblichkeit" der besonderen neuronalen Fähigkeiten und alten Geschlechterklischees, die auf breiter Front bestätigt werden. Männer wie Frauen finden reichlich Munition für Witze jeweils übereinander. Wer sich über das Buch aber vor allem freuen dürfte, sind Hormonhersteller, Endokrinologen und Apotheker - beiderlei Geschlechts.
PETRA GEHRING
Louann Brizendine: "Das weibliche Gehirn". Warum Frauen anders sind als Männer. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007. 359 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Was lange nach Sicht des Rezensenten aus Gründen der political correctness ausgespart worden sei, erfährt jetzt durch die amerikanische Neurobiologin Louann Brizendine eine gründliche Untersuchung. Gut nachvollziehbar, so Erhard Oeser, wenn auch manchmal vielleicht etwas zu vereinfachend, erklärt die Autorin die grundlegenden neurologischen Unterschiede in den Gehirnen von Mann und Frau und leitet daraus auch die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Geschlechter ab, erklärt der Rezensent. Dabei gefällt es Oeser, wie die Autorin ihre populärwissenschaftliche Darstellung mit Metaphern und Vergleichen auflockert und zudem mit vielen Beispielen aus ihrer klinischen Praxis unterfüttert. Zielrichtung des Buches sei nicht nur naturwissenschaftliche Aufklärung, Brizendine wolle einen Beitrag leisten, Frauen in spezifischen Lebensphasen durch Kenntnisse über die Funktion des weiblichen Gehirns zu helfen und das Verhältnis der Geschlechter durch dieses Wissen zu verbessern, so Oeser eingenommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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