Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 5,23 €
  • Broschiertes Buch

Als eine "Art Resümee meiner bisherigen schriftstellerischen Arbeit" betrachtete Leonardo Sciascia diese dreizehn sizilianischen Geschichten. Und in der Tat sind sie nicht nur literarische Meisterstücke; sie entführen den Leser in die Welt dieser Sehnsuchtsinsel, machen ihn mit den blutigen Regeln der Scheidung auf Sizilianisch bekannt, mit dem männlichen Ehrenkodex in Fragen weiblicher Treue, sie erläutern den tieferen Sinn des Wortes "Familienbande" anhand der Diktatur der Kinder einer vierköpfigen Familie während einer Zugfahrt, und sie erzählen davon, wie einer mit einem ehrlichen Gesicht die Armen noch um ihr Letztes bringt.…mehr

Produktbeschreibung
Als eine "Art Resümee meiner bisherigen schriftstellerischen Arbeit" betrachtete Leonardo Sciascia diese dreizehn sizilianischen Geschichten. Und in der Tat sind sie nicht nur literarische Meisterstücke; sie entführen den Leser in die Welt dieser Sehnsuchtsinsel, machen ihn mit den blutigen Regeln der Scheidung auf Sizilianisch bekannt, mit dem männlichen Ehrenkodex in Fragen weiblicher Treue, sie erläutern den tieferen Sinn des Wortes "Familienbande" anhand der Diktatur der Kinder einer vierköpfigen Familie während einer Zugfahrt, und sie erzählen davon, wie einer mit einem ehrlichen Gesicht die Armen noch um ihr Letztes bringt.
Autorenporträt
Leonardo Sciascia geboren 1921 in Sizilien und dort 1989 verstorben, war zuerst Volksschullehrer, danach freier Schriftsteller, zeitweilig Parlamentsabgeordneter. Seine bekanntesten Bücher sind die Mafia-Romane 'Der Tag der Eule' und 'Tote auf Bestellung'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997

Insel des Wahns
Leonardo Sciascia erzählt aus Sizilien / Von Winfried Wehle

Sizilien ist ein Phänomen: So bedürftig das Land, so reich ist die Literatur, die es hervorgebracht hat. Es liegt am Rande - am Ende - Europas. Doch nicht nur, daß hier alle Begriffe, die im Zentrum gelten, ungleich schwächer sind. Sie treffen vor allem auf ein über Jahrhunderte erhärtetes Inselbewußtsein. Zeit seiner Geschichte versuchten andere, dieses Land unter ihre Gewalt zu bringen. Die Einwohner wurden darüber zu Experten des Fremden: Sie waren zu Hause, mußten ihre Insel aber wie ein Exil wahrnehmen. Immer besser leben zu wollen - der Frage der Zivilisation - hatte deshalb verhängnisvoll hinter der Frage nach dem Überleben zurückzustehen. Entsprechend eisern fällt ihr Rationalismus der Selbstbehauptung aus. Auch Europa hat daran nichts geändert. So jedenfalls sieht es einer der großen Erzähler des sizilianischen Realismus, Leonardo Sciascia (1921 bis 1989).

Sein umfangreiches Werk behandelt im Grunde stets aufs neue die offene Wunde in der Mentalität Siziliens: nach draußen sich zusammenschließen zu müssen, sich im Inneren aber eingeschlossen zu fühlen. Aus dieser Entzweiung ist ein "Volk" geworden, "das nur die Extreme kennt". Zwischen ihnen hat sich der Erzähler Sciascia eingerichtet, für den Sizilien vor allem "Metapher" ist. Es rührt an Grundlegendes aus der Welt des Menschlich-Allzumenschlichen, mit dem Gleichnisse und Parabeln umgehen. Exemplarisch dafür sind seine Erzählungen mit dem Titel "Das weinfarbene Meer", zwischen 1959 und 1972 entstanden und jetzt, in der gelungenen Übersetzung von Sigrid Vagt, auf deutsch erschienen. Gewiß, wer psychologische Feinkost liebt, sollte woanders suchen. Sciascia ist Realist, seine Geschichten wollen ermessen, wieviel der einzelne der Gesellschaft und diese ihm schuldig ist oder, besser: schuldig bleibt.

Als Schriftsteller ist er engagiert, Antifaschist, ein Intellektueller, der wider das bessere Wissen seiner Geschichten auf die Tugenden der Aufklärung setzt. Kein Überbau hat ihm diese Überzeugung diktiert; sie ist aus der Erfahrung des Selbsterlebens geboren. Aus sizilianischer Sicht ist "die Welt ein wildes Tier". Es läßt im Grunde nur die Wahl zwischen Widerstehen oder Fliehen. Bleiben aber heißt, sich bis hin zur Selbstaufgabe seiner Gemeinschaft unterzuordnen. Ein Adliger stößt im Zorn einen Bauern; dieser kommt zu Tode. Er selbst entzieht sich dem Gesetz durch Flucht. Zufällig übernachtet der Generalstaatsanwalt im Hause des Schwiegervaters. Die zwanzigjährige Tochter des Hauses verwandelt dessen sechzigjähriges Herz in einen Ätna. Er bittet um ihre Hand. Der Vater fragt ihr den familiären Katechismus ab. Darauf willigt sie ein; der Schwager wird entschuldet. Der Richter stirbt nach sechs Monaten Ehe. Jetzt nimmt die junge - und reiche - Frau sich einen Mann nach ihren Wünschen und verläßt Sizilien. Eine Parabel auf den Doppelsinn des Wortes "Familienbande". Schutz kann nur dem gewährt werden, der sich selbst Zwang antut. Das Gesetz des Überlebens ist rigoros: Wer nicht hört, gehört nicht dazu.

Inbegriff dieser Unbedingtheit ist die Mafia, ein starker Beweggrund von Sciascias Erzählen. Einer darf das Mädchen nicht heiraten, weil seine Liebe nicht in die Interessen der "Vereinigung" paßt. Doch sein Wille fügt sich nicht dem Willen des "Gesetzes". Er inszeniert einen Krieg zwischen zwei Clans. Er hat sich dadurch zwar gerächt, aber nichts geändert: Am Ende muß auch er erwartungsgemäß "daran" glauben. Der Tod des einzelnen gilt nichts, nicht einmal der des eigenen Sohnes, wenn es um das Leben der "Familie" geht. Schweigen ist dabei Pflicht. Wer es bricht, muß unter der Gemeinschaft mehr leiden als unter seinen Gewissensbissen. Solidarität ist ein teuer erkauftes Gut. Kaum eine Figur, die an ihrem Gewinn nicht gleichermaßen schwer trägt. Oft ist das Gefühl der Zugehörigkeit mit dem von Einsperrung und Unterdrückung dessen verbunden, was jemand von sich aus wünscht und begehrt. Selbstverwirklichung, die Gottheit des modernen Individualismus, ist aus diesem Sizilien verbannt.

Geopfert wird jedoch auch ihr allenthalben, aber wie einer Exilierten: in Figuren der Entfremdung (alienazione, sagt Sciascia). Ihr gelten die vielen Fluchtbewegungen nach außen und innen. Wie Mythos und Trauma liegt über dieser Insel die amerikanische Versuchung, der Generationen in der Auswanderung nachgegeben haben. Aber es ist oft genug ein Weg, der zwar aus der Entfremdung, aber doch nur in die Fremde führt. Wer sein Leben selbst in die Hand nehmen will, setzt sich der Begehrlichkeit der anderen aus, wie die blinden Passagiere, die nach elf Tagen elender Schiffsfahrt nicht in Amerika, sondern, jetzt ohne ihr letztes Hab und Gut, wieder in Sizilien an Land gesetzt werden. Oder der Gastarbeiter, der in Deutschland und in der Schweiz zwar korrekt bezahlt, aber wie ein Hund behandelt wird. Oder das Mädchen, das nur bis Rom gekommen ist. "Sie gehen hinter dem Leben her wie hinter einem Leichenwagen." Draußen ist es zwar anders, aber keineswegs besser.

Also doch lieber bleiben? Und die Ausflüchte nach innen suchen, wo das Verdrängte sich auf Inseln der Illusion und des Wahns (follia) rettet? Einige wenden sich zur Madonna, andere zur Heilslehre des Kommunismus. Wieder anderen geht der Gemeinsinn gänzlich in die Fremde und macht sie zu Narren, Triebtätern, Terroristen. Am Ende bleibt die harte Lehre, daß, wer Solidarität will, das Opfer der Individualität bringen muß, und umgekehrt. Im Grunde gibt es nur ein Entweder-Oder; aber das eine bleibt doch eine Lebensprüfung für das andere. Es ist, als ob hoch über den Köpfen der Betroffenen Hobbes und Rousseau noch immer um ihr Menschenbild stritten. Die Stücke geben beiden recht, das heißt: Alle müssen leiden.

Diese irritierenden sizilianischen Verhältnisse sind für Sciascia jedoch nur Anlässe, um das zur Sprache zu bringen, was ihn eigentlich - zum Schreiben - bewegt. Für seine Figuren gibt es keinen wirklichen Ausweg, weil sie nur die Extreme, aber keine Mitte zwischen ihnen kennen. Ihrer sozialen Grammatik fehlt eine erste Person im Plural: Es gibt nichts, in dessen Namen alle "wir" sagen könnten. Keine Frage, da ist der Staat, die Kirche, Obrigkeiten, Gesetze und was sonst für öffentliche Ordnung zuständig ist. Doch sie sind ihrerseits Partei wie alle anderen auch. Für das verbindende Dritte zwischen den Extremen demonstrieren Sciascias Geschichten (und Romane). Der Zwiespalt, der durch seine Figuren geht, ließe sich nur mildern, wenn die eigene Lebensnotwendigkeit auch dem "anderen" das Recht auf eine eigene zugestände. Dann könnten sich alle auf dem Boden von Gerechtigkeit, Wahrheit und Vernunft treffen - Sciascias aufgeklärter Menschenfreundlichkeit.

Doch was zunächst wie archaische Rückständigkeit Siziliens anmutet, entdeckt sich nach und nach zugleich auch als kommende Barbarei, auf die die aufgeklärte Zivilisation des Nordens sich zuzubewegen droht. So wie Sciascias Gestalten sie erleben, ist ihr Rationalismus auf dem besten Wege, seinen humanen Verstand zu verlieren. Eine wirkliche Alternative ist auch er nicht. "Ich glaube", sagt die junge Frau, obwohl sie in Rom medizinisch geheilt wurde, "in meinem Dorf wird das Leben noch ernst genommen . . . Aber von außen gesehen, wirkt es beschränkt und unerträglich . . ." Der Autor hat diese Kulturkritik im Bild von der unaufhaltsam nach Norden wandernden Palmengrenze festgehalten. Sie gibt eine Vorstellung von der voranschreitenden - ethischen - Versteppung und Verwüstung. Dagegen hat Sciascia seinen ganzen Kunstverstand aufgeboten. Er will nichts Unmögliches: einen ganz anderen Menschen; nur diesen etwas menschlicher, wie seine Geschichten.

Leonardo Sciascia: "Das weinfarbene Meer". Erzählungen. Aus dem Italienischen übersetzt von Sigrid Vagt. Wagenbach Verlag, Berlin 1997. 160 S., geb., 36,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr