Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 3,50 €
Produktdetails
  • Bibliothek der Romane
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 285
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 428g
  • ISBN-13: 9783882436150
  • Artikelnr.: 23998366
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Ein Zwieback hilft der Mutter auf
Knusprig und frisch: Zwei Romane von Herman Bang in neuer Übersetzung / Von Michael Maar

Seinem Vornamen gibt man gerne ein "n" zuviel, das ist aber auch der einzige Überschwang, der Herman Bang heute zuteil zu werden pflegt. Der im Jahr 1857 geborene dänische Autor ist nicht vergessen, aber etwas verblaßt, zu einer Blässe, die sich nur noch schwer von der der Toten unterscheiden läßt. Die zwei Romane, die jetzt in neuer Übersetzung von Walter Boehlich wiederaufgelegt werden, formen sich da wie zwei Hände zu einem Trichter, durch den der Scheintote zurück ins Leben gerufen wird - denn was eine Karteileiche der Literaturgeschichte schien, ist ein Lazarus, der vitaler durch die Gegenwart wandelt als viele der hundert Jahre Jüngeren.

"Das weiße Haus" von 1898 und "Das graue Haus" von 1901, Pendantromane, wie die Titel erkennen lassen, zeigen Herman Bang als einen Autor von düsterer Komik, mit einem starken Sinn fürs Szenische und einer Erzähltechnik, die weit über die Jahrhundertwende vorausweist. "Das graue Haus" erinnert darum eher als an "Buddenbrooks", die im selben Jahr erschienen, an "Mrs Dalloway" von Virginia Woolf. Zum einen, weil auch dort ein Tag in Erwartung einer illustren Gesellschaft geschildert wird, mit Jugenderinnerungen, die persönlich im gealterten Fleische erscheinen, und melancholischen Rückblicken der weiblichen Hauptfigur, deren subtiles Scheitern durch das krasse Scheitern der Nebenfiguren erhellt und erhöht wird. Zum anderen, weil schon Bang die Technik des fließenden, scheinmäandernden Erzählens übt, bei dem die wichtigsten Informationen nach und nach heranschwimmen wie Inselchen, die der Stromfahrer kreuzt. Noch Thomas Mann, der viel von Bang gelernt hat, fühlt sich verpflichtet, eine Figur ordentlich vorzustellen und mit Gesicht und Hintergrund in eine präsentable Handlung einzupassen. Kaum noch etwas davon bei Bang, den Boehlich darum mit manchem Recht zu dem moderneren Schriftsteller erklärt. Er selbst als Übersetzer hat alles getan, den Staub abzuwaschen, der sich auf den Verblaßten gelegt haben könnte, und Bangs Dänisch in ein Deutsch übertragen, das sich liest wie am ersten Tag, borstig und geschmeidig und prägnant.

Ein Stilmerkmal unterscheidet Bang von Virginia Woolf. Er erzählt von außen, Bewußtsein gibt es nur, sofern es sich in Sprache, Gestik oder Mimik überträgt. Bang ist ein Meister des verknappten Dialogs. Die Sätze, die an die Oberfläche dringen, sind die Maulwurfshügel auf dem weiten Feld der Konversation, darunter laufen die Gänge und halb geheimen Tunnel von einem Thema zum andern, über die der Erzähler kein Wort fallenläßt und die der Leser dennoch bis in alle Windungen verfolgen kann. Die Pausen sind so wichtig wie das Gesagte, und noch wichtiger sind die unkontrollierten Regungen. Deshalb werden Bangs Figuren immer weiß und rot, werden die Pupillen der Exzellenz größer beim Anblick der Gemahlin, leuchten die Augen auf, bevor die Lider es verbergen können, zittern die Falten, die ein Fräuleinsgesicht bedecken "wie die Netzmaske den Fechter".

Bang hätte den stechenden Blick, diese Netzmasken zu durchdringen, aber er begnügt sich mit ihrer Außenhaut. Sein Grundton ist humoristisch wie bei Mann oder Hamsun. Von Hamsun hätte die Passage sein können, die von einem Ausflug des Königs erzählt, der sich mit seiner Frau über den See rudern läßt: "Plötzlich wurde Seine Majestät der Freiheitskönig wütend. - Schmeißt sie in den See, rief er - Schmeißt die alte Schachtel ins Wasser, rief er. Die Leute zögerten. - Zum Teufel - schmeißt die Vettel in den See, kommandierte die Majestät. Und Majestäts Frau ,mußte in den See' und ans Ufer waten. Die Mutter lachte wie besessen."

Die Mutter ist die Hauptfigur der beiden Romane - im zweiten teilt sie sich die Rolle mit dem Großvater, der Exzellenz -, und daß sie so besessen lacht, hat sein Bedenkliches. "Das weiße Haus" ist eine Hommage an sie und die Kinderwelt, die Bang in diesem von vielen Versen durchflochtenen Buch wiederauferstehen läßt - ein Jahr in einem dörflichen dänischen Pfarrhaus, mit allem, was ein Jahr an brennenden Weihnachtskerzen, Schneeglöckchen, Anemonen und reifenden Trauben, an Kindheitsgerüchen und Atmosphären herbeiträgt, und mit der kindlichen Göttin, der Mutter Stella, in der zeitlosen Mitte. Sie ist Bangs große Frauenfigur, die sich in ihren Eigentümlichkeiten und Ticks der Lesererinnerung so plastisch eindrückt wie der Wappenring Ihrer Exzellenz im Siegellack (was eben Wappen und Siegel der exzellenten Literatur sein wird): die großzügige, abergläubische, quecksilbrige Mutter, die Zwieback essen muß, wenn sie erschrickt, die hastig und zierlich mit den Schultern zuckt, wenn sie sich auf eine Speise freut, und zweimal im Jahr die Pferde auf den Hof läßt, wenn es sie überkommt; ein dezent symbolisches Motiv, das im "Grauen Haus" dezenter wiederaufgenommen wird.

Der Vater, ihr Mann, erscheint fast nur als Schatten, und ein solcher scheint über ihrer Ehe zu liegen. Das Eigenartige ist, daß Bang diese innere Kammer des Romans fast im Dunkeln beläßt und nur gelegentlich mit einem Kerzenstummel vor ihr auf und ab spaziert. Was es mit dieser Ehe auf sich hat, warum das Glück der Mutter für immer verloren ist - man erfährt es nicht genau, und erst im "Grauen Haus", das in der Kopenhagener Vaterwelt spielt, lichtet es sich etwas. So wie sie ab und zu die Pferde herauslassen muß, hat die Mutter Anfälle von Lesegier, in denen sie für Wochen nicht ansprechbar ist. Diese Gier flaut immer wieder ab, weil sie von den Dichtern enttäuscht ist: Sie wagen es nicht, die Wahrheit über die Liebe zu sagen. Es ist eine physiologisch krude Wahrheit, wie man aus den Andeutungen schließen muß, die auch der Dichter Bang den offenen Worten vorzieht. Wieder ist es ein gestisches Detail, in das er das Entscheidende verlegt. Auf den Satz, eine Frau habe in der Ehe erst verloren, wenn sie für ihren Mann nicht länger ein weibliches Wesen sei, nickt die Mutter, "wie eine Statue nicken würde, wenn sie ihr Haupt bewegen könnte". Woraus wir wohl folgern sollen, daß ihre Pastorenehe zur Josephsehe verkümmert ist. Das Glück scheint für sie die Sexuallust und nichts anderes zu sein, in einer schopenhauerisch gefärbten Lebensanschauung, die sie mit Thomas Buddenbrook teilt. Aber auch das Unglück liegt in dem Organ, in dem der Philosoph den Brennpunkt des Willens lokalisierte, und genau weiß man nicht, wo der Wurm im Falle Stellas nun nagt. "Erst paart das Tier sich, und dann ekelt sich der Mensch", sagt sie, was für Verklemmtheit sprechen würde, die aber nicht zu ihrem blühenden Sensualismus paßt. Es sei so schwer für den, der liebt, "neben dem zu gehen, der nur an ihm hängt" - das könnte, wenn sie noch ihre Zunge hätte, die kleine Seejungfrau des dänischen Nationaldichters sagen, über den im "Grauen Haus" geplaudert wird. Aber paßt es zu dieser Mutter, wie Bang sie uns bislang geschildert hat? Wenn ihr Pastor der Prinz ist, den sie unerwidert liebt, warum sollte der ersehnte Akt sie mit Ekel erfüllen?

Irgend etwas stimmt hier nicht, irgend etwas stimmt auch mit ihren Bekenntnis-Monologen nicht, die nicht zufällig aus der Erzählhaltung kippen und von dem Kind, das im "Weißen Haus" regiert, nicht hätten belauscht werden können. Boehlich schreibt in seinem Nachwort von Bangs Einsamkeit und Verzweiflung, von seinem Narzißmus und der lebenslangen Muttermagie als einer Quelle seiner Leiden wie seines Künstlertums. Offensichtlich mischt Bang etwas von diesen Leiden in die Seele der angehimmelten Mutter; er, dem die Liebeserfüllung in der Tat verwehrt oder problematisch war. Das kann man aus der Studie "Das offene Geheimnis" von Heinrich Detering erfahren, in der nachgewiesen wird, wie Bang in den "Vaterlandslosen" das eigene Außenseitertum des Homosexuellen auf seine Romanfiguren überträgt, deren Außenseitertum darin besteht, ohne Staat und Heimat zu sein; eine Äußerlichkeit, die Bang mit ihnen teilte. Auch er führte ein Nomadenleben, verließ Dänemark, nachdem er als Student und Schauspieler gescheitert war und als Journalist und Romancier noch nicht anerkannt, wohnte in Norwegen, Berlin, Paris, Wien und Prag, kam immer wieder ins Land der Mutter zurück und starb 1912 auf einer Vortragsreise in Utah.

Manches schwer Erklärliche in der Figur der Mutter läßt sich mit dieser Leselupe, die Detering uns in die Hand legt, leichter entziffern. Das Wichtigere ist, was ohne Lupe ins Auge springt: die Kunst dieses Psychologen und Schriftstellers, die sich hinter der Schlichtheit verbirgt und in den nackten rauhen Quadern, aus denen sich "Das graue Haus" aufbaut, ihr Bestes erreicht. Hier in der kalten Kopenhagener Welt, die von der Exzellenz beherrscht wird, dem Hofarzt und Zyniker mit weicher Stelle, ist alles Süßliche aufgesogen, und wenn man noch die Verse streichen dürfte und die stillen Tränen, die auf sie niederfallen, hätte man ein Meisterwerk, das die Leser lehren könnte, Herman Bang nicht zu früh zu den Heimgegangenen zu rechnen.

Herman Bang: "Das weiße Haus". "Das graue Haus". Romane. Aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Walter Boehlich. Steidl Verlag, Göttingen 1998. 285 S., geb., 20,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr