Als der sechzehnjährige Franklin Starlight herbeigerufen wird, um seinen Vater Eldon, den er kaum kennt, zu besuchen, trifft er auf einen vom Alkohol gezeichneten, dem Tode geweihten Mann. Die beiden machen sich auf den Weg durch das raue Herzland British Columbias und auf die Suche nach einer letzten Ruhestätte, wo Eldon nach Art der indianischen Krieger beerdigt werden will.
Auf der Reise erzählt der Vater dem Sohn seine Lebensgeschichte, die Momente der Verzweiflung genauso wie die Tage der Hoffnung und des Glücks - und so entdeckt Franklin eine Welt, die er nicht kannte, eine Geschichte, die ihm fremd war, und ein Erbe, das er hüten kann.
Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky, Professorin für Amerikanistik an der Universität Augsburg.
Auf der Reise erzählt der Vater dem Sohn seine Lebensgeschichte, die Momente der Verzweiflung genauso wie die Tage der Hoffnung und des Glücks - und so entdeckt Franklin eine Welt, die er nicht kannte, eine Geschichte, die ihm fremd war, und ein Erbe, das er hüten kann.
Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky, Professorin für Amerikanistik an der Universität Augsburg.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus liest den letzten Roman des 2017 verstorbenen Richard Wagamese als autobiografische Geschichte einer spirituellen "Heilungsreise" eines todkranken Vaters mit seinem Sohn. Der Weg der beiden zu Beginn der 1970er Jahre quer durch Kanada entspricht dem des Autors bei seinem Versuch, die eigenen Wurzeln freizulegen, weiß Platthaus. Zeitlos indes erscheint dem Rezensenten die im Buch thematisierte Verbindung des Menschen mit dem Land, für die der Autor intensive Beschreibungen findet, wie Platthaus bewundernd feststellt. Selbst der Alkoholismus des Vaters des Protagonisten wäre zu heilen gewesen, lernt er, hätte sich dieser nur eher "auf den heilsamen 'medicine walk' begeben", lernen wir.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Unsere Zeit friert ein
Die kanadische Literatur ist denkbar multikulturell, und so spiegelt sich in ihr die ganze Welt. Drei Bücher und ein Bildband zeigen, was auch ohne die Buchmesse, deren Gastland Kanada sein sollte, zu entdecken ist.
Von Andreas Platthaus
Dieses Bücherjahr hätte ein kanadisches werden sollen. Als Gastland der Frankfurter Buchmesse wäre das der Fläche nach zweitgrößte Land der Erde literarisch endlich aus dem Schatten seines Nachbarn, der Vereinigten Staaten, herausgekommen. Nun aber ist die Buchmesse als Präsenzveranstaltung abgesagt, und Kanada muss ein Jahr warten, ehe es seine Gastrolle endlich spielen darf. Die Verlage sitzen derweil auf den vielen Büchern, die in der Hoffnung übersetzt wurden, dass sie messebedingt Aufmerksamkeit bekämen. Auch jenseits von Atwood, Coupland, Munro oder Ondaatje: Das Beste, was Kanadas Literatur zu bieten hat, ist jetzt auf Deutsch verfügbar.
Das liegt daran, dass die Übersetzungsförderung noch großzügiger als sonst ausfiel, denn Kanada ist ein reiches Land. Und ein stolzes - stolz auch auf seine kulturelle Vielfalt. Kein anderer Staat der Welt erreichte in den letzten Jahrzehnten eine so hohe Einwanderungsquote, die Bevölkerungszahl hat sich dadurch seit 1960 mehr als verdoppelt. Das verdankte sich nicht mehr vorrangig europäischer Zuwanderung, und so ist die kanadische Literatur mittlerweile über die klassisch westlichen Einflüsse weit hinaus.
Das zeigt sich weniger sprachlich als inhaltlich. Die meisten Bücher erscheinen auf Englisch, obwohl es in der Provinz Québec auch die französische Traditionspflege gibt. Aber die Themen sind in beiden kanadischen Literatursprachen breiter gestreut als in Europa, obwohl auch bei uns die Migrantenliteratur blüht. Doch Kanada hat außerdem Heimatliteratur zu bieten, für die es in Europa kaum ein Äquivalent gibt: die der First Nations und die der kanadischen Inuit.
Diese mit weniger als einem Prozent Bevölkerungsanteil sehr kleine, aber kulturell hochgeachtete Gruppe umfasst nicht nur die Indianer - die angesichts der denkbar unterschiedlichen Kulturen von Ostküsten-, Great-Plains- und Westküstenstämmen ohnehin nicht über einen Kamm geschoren werden dürfen -, sondern auch die Nordvölker aus den kanadischen Eismeer- und Tundra-Regionen. Weit mehr als die Indianer haben sie sich dank der Unwirtlichkeit ihrer Herkunftsgebiete Rückzugszonen bewahren können und damit auch ihre kulturelle Identität. Der Bildband "Unter der Mitternachtssonne", den Paul Seesequasis, selbst indianisch-indigener Abstammung, aus Fotoporträts des zwanzigsten Jahrhunderts von Angehörigen der First Nations und Inuit zusammengestellt hat, belegt diese Unterschiede.
Sein Titel verweist auf den hohen Norden als Idealschauplatz kanadischer Identität: Naturverbundenheit und Naturunberührtheit bilden einen Mythos, von dem die Erläuterungen, die Seesequasis den Aufnahmen beigibt, allerdings wenig übrig lassen: Ganz heil ist keine der indigenen Gruppen aus der rapiden Erschließung des jungen, 1867 gegründeten, aber erst 1931 ganz von England unabhängig gewordenen Kanadas herausgekommen. Und obwohl sie erst die Voraussetzungen für eine indigene Literatur schuf, war ein Unheil die Alphabetisierung. Der kanadische Pflichtunterricht durch staatliche oder kirchliche Schulen erfolgte vor allem in Internaten, die weitab der Heimat ihrer Schüler lagen, weshalb diese zwangsweise von den Familien getrennt wurden - ein traumatisches Erlebnis auch für die Eltern, denen plötzlich die fürs traditionelle Überlebensmodell unentbehrliche Hilfe der Kinder fehlte. Und wenn die aus den Schulen zurückkehrten, hatten sie ihr Wissen um die alten Lebensweisen verlernt.
Kein Wunder, dass Erzählungen über die Folgen dieser jahrzehntelang staatlich betriebenen Entfremdung die indigene kanadische Literatur prägen. Einer ihrer populärsten Autoren ist der 2017 verstorbene Richard Wagamese, ein Angehöriger des in Ontario beheimateten Volks der Ojibwe, der den Zerfall dieser Stammesgemeinschaft als Kind in den fünfziger und sechziger Jahren am eigenen Leibe erlebte: Den alkoholabhängigen Eltern weggenommen, wurde er zu weißen Pflegeeltern gegeben, die ihm alle indianischen Angewohnheiten auszutreiben versuchten. Im Laufe der Rückgewinnung seines kulturellen Erbes verschlug es Wagamese auf die andere Seite des Kontinents, nach British Columbia, wo er mit fast vierzig damit begann, Romane zu schreiben, die das Schicksal der First Nations zum Thema haben. Der letzte zu seinen Lebzeiten erschienene, "Medicine Walk" von 2014, ist jetzt als "Das weite Herz des Landes" übersetzt worden und hat nach wenigen Wochen schon die zweite Auflage erreicht.
Das mag den blumigen deutschen Titel rechtfertigen, der die spirituelle Komponente von "Medicine Walk" vermissen lässt. Seesequasis bringt die Sache auf den Punkt: "Die Menschen besaßen ihren Besitz nicht in Geld und Geldeswert, sondern in medicine power - am treffendsten wohl mit ,Heilkunst' zu übersetzen." Wagameses Roman hat eine Heilungsreise zum Gegenstand: Der siebzehnjährige Franklin Starlight (die für uns poetisch klingenden Familiennamen sind letzte Relikte indianischer Identität) begleitet seinen todkranken Vater Eldon auf dessen letztem Ritt in eine Landschaft, mit der sich die wenigen glücklichen Momente eines Lebens verbinden, das durch den frühen Tod von Eldons eigenem Vater im Zweiten Weltkrieg, einen brutalen Stiefvater und die gewaltsame Loslösung von daheim als Katastrophenkette erscheint. Eldons Lebensweg quer durch Kanada von Ontario ins Nechako Valley entspricht dem, den Wagamese selbst zurücklegte, aber der junge Franklin wiederum ist der Stellvertreter des Autors in der Generationenfolge, denn "Das weite Herz des Landes" spielt in den frühen siebziger Jahren.
Das tut indes wenig zur Sache, weil es ein zeitloses Charakteristikum indigener kanadischer Literatur gibt: die Verbindung mit dem Land. Bei Wagamese wechseln sich Landschaftsbeschreibungen mit Rückblicken in die Vergangenheiten von Eldon und Franklin ab, und je näher Eldons Tod rückt, desto intensiver wird das Naturerlebnis. Selbst gegen seine Alkoholsucht hat eine Indianerin, die den beiden Männern Quartier bietet, ein Heilmittel parat - zu spät, um Eldon noch zu retten, aber ein Zeichen, dass er zu retten gewesen wäre, wenn er sich vorher auf den heilsamen medicine walk begeben hätte.
Wenn die indigene Literatur Kanadas ihre Schauplätze in den Landschaften hat, sucht die migrantische ihre Handlungsorte in den Städten. Die Bücher des vor zwanzig Jahren als politischer Flüchtling aus Togo nach Kanada gelangten Edem Awumey sind Musterbeispiele dafür. Nur in den städtischen Mitleidensgemeinschaften von Schicksalsgenossen finden seine Protagonisten so etwas wie ein Heimatgefühl - und in der französischen Sprache von Québec, weshalb sich dort zahlreiche Immigranten aus dem frankophonen Afrika angesiedelt haben. Das gilt auch für Ito Baraka, den autobiographisch unterfütterten Helden von Awumeys Roman "Nächtliche Erklärungen". Sein Glück hat Ito in Kanada nicht gefunden, dafür den Alkohol, und nun ist auch ihm keine lange Lebensfrist mehr gegeben, weshalb er noch einmal zu seiner Geliebten, einer Angehörigen einer First Nation, reist.
Die Ähnlichkeit der Themen, auch der Handlungsverläufe im jeweiligen Wechsel von Reiseschilderung und Vergangenheitsbeschwörung, zwischen den Büchern von Wagamese und Awumey ist frappant. Doch "Nächtliche Erklärungen" hat nichts Versöhnliches, weder für die Migranten noch für die Indigenen. Ito Barakas Freundin stellt resigniert fest: "Wir haben keine Verbindung mehr zu dem, was wir mal in der Tiefe waren oder was wir einmal sein wollten. Eine neue Art, in der Welt zu sein, hat für uns begonnen, weiterzuexistieren durch die ganzen Besäufnisse hindurch, durch Schmuggel, Verbrechen, Cannabis. Unsere Leute werden oft verhaftet wegen Dealerei, Rauschgiftkonsum, Gewalttaten. Die Zeit, unsere Zeit, friert immer mehr ein."
Eine solch buchstäblich kühle Betrachtung der kanadischen Gegenwart konnte im Land nicht auf allzu große Sympathie hoffen. Eine Förderung der Übersetzung von Awumeys Roman wurde von kanadischer Seite abgelehnt, der Autor nicht nach Frankfurt eingeladen. Dass der Bonner Kleinverlag Weidle das Wagnis der Publikation trotzdem eingegangen ist - Stefan Weidle übersetzte selbst -, darf man einen Glücksfall nennen, weil dadurch auch solche kanadische Literatur zu uns kommt, die keine Wildnisromantik, aber Weltläufigkeit zu bieten hat.
Und die Bücher von Angehörigen der europäischstämmigen Mehrheitsgruppe? Exemplarisch sei hier der Erzählungsband "Fremde Hochzeit" von Lisa Moore genannt, einer 1964 auf Neufundland geborenen Autorin, deren Geschichten alle in St. John's angesiedelt sind, der dortigen Provinzhauptstadt. Aber das Lokalkolorit ist dünn aufgetragen; das St. John's von Lisa Moore ist ein Allerweltsort, in dem sich private Dramen der bürgerlichen Existenz abspielen - einer dezidiert westlichen, deren Probleme fernab von allem sind, was Wagamese und Awumey umtreibt. Identitätsfragen spielen keine Rolle, dafür umso mehr Integritätsfragen. Moores Protagonistinnen sind Zweifelnde: an der Liebe ihrer Männer, an der Erfüllbarkeit der Verheißung von Liebe überhaupt. Und just in der Geschichte, die Moore aus der Perspektive eines Mannes erzählt, stellt dieser alternde Herr mit dem Dutzendnamen Jim fest: "Echte Liebende, wahre Liebende, selbst Menschen, die nur kurz Liebende sind, so wie wir es nie waren, aber mit der Intensität, die ich meine, sprechen nie aus, was ihre Liebe bedeutet."
Darin liegt das Dilemma von Lisa Moores Personal begründet: Es spricht dauernd von der Liebe, aber liebt es überhaupt? Nach den Geschichten von Wagamese und Awumey könnte man die abgeklärte Prosa von Moore fast herzlos nennen: eine Momentaufnahme der Luxusprobleme einer Gesellschaftsschicht, die im ethnisch homogenen St. John's tatsächlich weitgehend unberührt bleiben kann von den existentiellen Problemen jener in ihrer kulturellen oder politischen Identität bedrohten Gemeinschaften, für die Wagamese und Awumey sprechen. Doch damit sind uns Moores Geschichten wiederum besonders nahe. Alle diese drei Beispiele kanadischer Literatur zeigen jedenfalls, was uns entginge, wenn unsere Neugier nur an einem Gastlandauftritt auf der Buchmesse entzündet würde.
Richard Wagamese: "Das weite Herz des Landes". Roman.
Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing Verlag, München 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Lisa Moore: "Fremde Hochzeit". Erzählungen.
Aus dem kanadischen Englisch von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2020. 268 S., geb., 23,- [Euro].
Edem Awumey: "Nächtliche Erklärungen". Roman.
Aus dem Französischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2020. 208 S., br., 22,- [Euro].
Paul Seesequasis: "Unter der Mitternachtssonne". Porträts indigener Gemeinschaften in Kanada.
Aus dem kanadischen Englisch von Leon Mengden. Btb Verlag, München 2020. 185 S., Abb., br., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die kanadische Literatur ist denkbar multikulturell, und so spiegelt sich in ihr die ganze Welt. Drei Bücher und ein Bildband zeigen, was auch ohne die Buchmesse, deren Gastland Kanada sein sollte, zu entdecken ist.
Von Andreas Platthaus
Dieses Bücherjahr hätte ein kanadisches werden sollen. Als Gastland der Frankfurter Buchmesse wäre das der Fläche nach zweitgrößte Land der Erde literarisch endlich aus dem Schatten seines Nachbarn, der Vereinigten Staaten, herausgekommen. Nun aber ist die Buchmesse als Präsenzveranstaltung abgesagt, und Kanada muss ein Jahr warten, ehe es seine Gastrolle endlich spielen darf. Die Verlage sitzen derweil auf den vielen Büchern, die in der Hoffnung übersetzt wurden, dass sie messebedingt Aufmerksamkeit bekämen. Auch jenseits von Atwood, Coupland, Munro oder Ondaatje: Das Beste, was Kanadas Literatur zu bieten hat, ist jetzt auf Deutsch verfügbar.
Das liegt daran, dass die Übersetzungsförderung noch großzügiger als sonst ausfiel, denn Kanada ist ein reiches Land. Und ein stolzes - stolz auch auf seine kulturelle Vielfalt. Kein anderer Staat der Welt erreichte in den letzten Jahrzehnten eine so hohe Einwanderungsquote, die Bevölkerungszahl hat sich dadurch seit 1960 mehr als verdoppelt. Das verdankte sich nicht mehr vorrangig europäischer Zuwanderung, und so ist die kanadische Literatur mittlerweile über die klassisch westlichen Einflüsse weit hinaus.
Das zeigt sich weniger sprachlich als inhaltlich. Die meisten Bücher erscheinen auf Englisch, obwohl es in der Provinz Québec auch die französische Traditionspflege gibt. Aber die Themen sind in beiden kanadischen Literatursprachen breiter gestreut als in Europa, obwohl auch bei uns die Migrantenliteratur blüht. Doch Kanada hat außerdem Heimatliteratur zu bieten, für die es in Europa kaum ein Äquivalent gibt: die der First Nations und die der kanadischen Inuit.
Diese mit weniger als einem Prozent Bevölkerungsanteil sehr kleine, aber kulturell hochgeachtete Gruppe umfasst nicht nur die Indianer - die angesichts der denkbar unterschiedlichen Kulturen von Ostküsten-, Great-Plains- und Westküstenstämmen ohnehin nicht über einen Kamm geschoren werden dürfen -, sondern auch die Nordvölker aus den kanadischen Eismeer- und Tundra-Regionen. Weit mehr als die Indianer haben sie sich dank der Unwirtlichkeit ihrer Herkunftsgebiete Rückzugszonen bewahren können und damit auch ihre kulturelle Identität. Der Bildband "Unter der Mitternachtssonne", den Paul Seesequasis, selbst indianisch-indigener Abstammung, aus Fotoporträts des zwanzigsten Jahrhunderts von Angehörigen der First Nations und Inuit zusammengestellt hat, belegt diese Unterschiede.
Sein Titel verweist auf den hohen Norden als Idealschauplatz kanadischer Identität: Naturverbundenheit und Naturunberührtheit bilden einen Mythos, von dem die Erläuterungen, die Seesequasis den Aufnahmen beigibt, allerdings wenig übrig lassen: Ganz heil ist keine der indigenen Gruppen aus der rapiden Erschließung des jungen, 1867 gegründeten, aber erst 1931 ganz von England unabhängig gewordenen Kanadas herausgekommen. Und obwohl sie erst die Voraussetzungen für eine indigene Literatur schuf, war ein Unheil die Alphabetisierung. Der kanadische Pflichtunterricht durch staatliche oder kirchliche Schulen erfolgte vor allem in Internaten, die weitab der Heimat ihrer Schüler lagen, weshalb diese zwangsweise von den Familien getrennt wurden - ein traumatisches Erlebnis auch für die Eltern, denen plötzlich die fürs traditionelle Überlebensmodell unentbehrliche Hilfe der Kinder fehlte. Und wenn die aus den Schulen zurückkehrten, hatten sie ihr Wissen um die alten Lebensweisen verlernt.
Kein Wunder, dass Erzählungen über die Folgen dieser jahrzehntelang staatlich betriebenen Entfremdung die indigene kanadische Literatur prägen. Einer ihrer populärsten Autoren ist der 2017 verstorbene Richard Wagamese, ein Angehöriger des in Ontario beheimateten Volks der Ojibwe, der den Zerfall dieser Stammesgemeinschaft als Kind in den fünfziger und sechziger Jahren am eigenen Leibe erlebte: Den alkoholabhängigen Eltern weggenommen, wurde er zu weißen Pflegeeltern gegeben, die ihm alle indianischen Angewohnheiten auszutreiben versuchten. Im Laufe der Rückgewinnung seines kulturellen Erbes verschlug es Wagamese auf die andere Seite des Kontinents, nach British Columbia, wo er mit fast vierzig damit begann, Romane zu schreiben, die das Schicksal der First Nations zum Thema haben. Der letzte zu seinen Lebzeiten erschienene, "Medicine Walk" von 2014, ist jetzt als "Das weite Herz des Landes" übersetzt worden und hat nach wenigen Wochen schon die zweite Auflage erreicht.
Das mag den blumigen deutschen Titel rechtfertigen, der die spirituelle Komponente von "Medicine Walk" vermissen lässt. Seesequasis bringt die Sache auf den Punkt: "Die Menschen besaßen ihren Besitz nicht in Geld und Geldeswert, sondern in medicine power - am treffendsten wohl mit ,Heilkunst' zu übersetzen." Wagameses Roman hat eine Heilungsreise zum Gegenstand: Der siebzehnjährige Franklin Starlight (die für uns poetisch klingenden Familiennamen sind letzte Relikte indianischer Identität) begleitet seinen todkranken Vater Eldon auf dessen letztem Ritt in eine Landschaft, mit der sich die wenigen glücklichen Momente eines Lebens verbinden, das durch den frühen Tod von Eldons eigenem Vater im Zweiten Weltkrieg, einen brutalen Stiefvater und die gewaltsame Loslösung von daheim als Katastrophenkette erscheint. Eldons Lebensweg quer durch Kanada von Ontario ins Nechako Valley entspricht dem, den Wagamese selbst zurücklegte, aber der junge Franklin wiederum ist der Stellvertreter des Autors in der Generationenfolge, denn "Das weite Herz des Landes" spielt in den frühen siebziger Jahren.
Das tut indes wenig zur Sache, weil es ein zeitloses Charakteristikum indigener kanadischer Literatur gibt: die Verbindung mit dem Land. Bei Wagamese wechseln sich Landschaftsbeschreibungen mit Rückblicken in die Vergangenheiten von Eldon und Franklin ab, und je näher Eldons Tod rückt, desto intensiver wird das Naturerlebnis. Selbst gegen seine Alkoholsucht hat eine Indianerin, die den beiden Männern Quartier bietet, ein Heilmittel parat - zu spät, um Eldon noch zu retten, aber ein Zeichen, dass er zu retten gewesen wäre, wenn er sich vorher auf den heilsamen medicine walk begeben hätte.
Wenn die indigene Literatur Kanadas ihre Schauplätze in den Landschaften hat, sucht die migrantische ihre Handlungsorte in den Städten. Die Bücher des vor zwanzig Jahren als politischer Flüchtling aus Togo nach Kanada gelangten Edem Awumey sind Musterbeispiele dafür. Nur in den städtischen Mitleidensgemeinschaften von Schicksalsgenossen finden seine Protagonisten so etwas wie ein Heimatgefühl - und in der französischen Sprache von Québec, weshalb sich dort zahlreiche Immigranten aus dem frankophonen Afrika angesiedelt haben. Das gilt auch für Ito Baraka, den autobiographisch unterfütterten Helden von Awumeys Roman "Nächtliche Erklärungen". Sein Glück hat Ito in Kanada nicht gefunden, dafür den Alkohol, und nun ist auch ihm keine lange Lebensfrist mehr gegeben, weshalb er noch einmal zu seiner Geliebten, einer Angehörigen einer First Nation, reist.
Die Ähnlichkeit der Themen, auch der Handlungsverläufe im jeweiligen Wechsel von Reiseschilderung und Vergangenheitsbeschwörung, zwischen den Büchern von Wagamese und Awumey ist frappant. Doch "Nächtliche Erklärungen" hat nichts Versöhnliches, weder für die Migranten noch für die Indigenen. Ito Barakas Freundin stellt resigniert fest: "Wir haben keine Verbindung mehr zu dem, was wir mal in der Tiefe waren oder was wir einmal sein wollten. Eine neue Art, in der Welt zu sein, hat für uns begonnen, weiterzuexistieren durch die ganzen Besäufnisse hindurch, durch Schmuggel, Verbrechen, Cannabis. Unsere Leute werden oft verhaftet wegen Dealerei, Rauschgiftkonsum, Gewalttaten. Die Zeit, unsere Zeit, friert immer mehr ein."
Eine solch buchstäblich kühle Betrachtung der kanadischen Gegenwart konnte im Land nicht auf allzu große Sympathie hoffen. Eine Förderung der Übersetzung von Awumeys Roman wurde von kanadischer Seite abgelehnt, der Autor nicht nach Frankfurt eingeladen. Dass der Bonner Kleinverlag Weidle das Wagnis der Publikation trotzdem eingegangen ist - Stefan Weidle übersetzte selbst -, darf man einen Glücksfall nennen, weil dadurch auch solche kanadische Literatur zu uns kommt, die keine Wildnisromantik, aber Weltläufigkeit zu bieten hat.
Und die Bücher von Angehörigen der europäischstämmigen Mehrheitsgruppe? Exemplarisch sei hier der Erzählungsband "Fremde Hochzeit" von Lisa Moore genannt, einer 1964 auf Neufundland geborenen Autorin, deren Geschichten alle in St. John's angesiedelt sind, der dortigen Provinzhauptstadt. Aber das Lokalkolorit ist dünn aufgetragen; das St. John's von Lisa Moore ist ein Allerweltsort, in dem sich private Dramen der bürgerlichen Existenz abspielen - einer dezidiert westlichen, deren Probleme fernab von allem sind, was Wagamese und Awumey umtreibt. Identitätsfragen spielen keine Rolle, dafür umso mehr Integritätsfragen. Moores Protagonistinnen sind Zweifelnde: an der Liebe ihrer Männer, an der Erfüllbarkeit der Verheißung von Liebe überhaupt. Und just in der Geschichte, die Moore aus der Perspektive eines Mannes erzählt, stellt dieser alternde Herr mit dem Dutzendnamen Jim fest: "Echte Liebende, wahre Liebende, selbst Menschen, die nur kurz Liebende sind, so wie wir es nie waren, aber mit der Intensität, die ich meine, sprechen nie aus, was ihre Liebe bedeutet."
Darin liegt das Dilemma von Lisa Moores Personal begründet: Es spricht dauernd von der Liebe, aber liebt es überhaupt? Nach den Geschichten von Wagamese und Awumey könnte man die abgeklärte Prosa von Moore fast herzlos nennen: eine Momentaufnahme der Luxusprobleme einer Gesellschaftsschicht, die im ethnisch homogenen St. John's tatsächlich weitgehend unberührt bleiben kann von den existentiellen Problemen jener in ihrer kulturellen oder politischen Identität bedrohten Gemeinschaften, für die Wagamese und Awumey sprechen. Doch damit sind uns Moores Geschichten wiederum besonders nahe. Alle diese drei Beispiele kanadischer Literatur zeigen jedenfalls, was uns entginge, wenn unsere Neugier nur an einem Gastlandauftritt auf der Buchmesse entzündet würde.
Richard Wagamese: "Das weite Herz des Landes". Roman.
Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing Verlag, München 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Lisa Moore: "Fremde Hochzeit". Erzählungen.
Aus dem kanadischen Englisch von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2020. 268 S., geb., 23,- [Euro].
Edem Awumey: "Nächtliche Erklärungen". Roman.
Aus dem Französischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2020. 208 S., br., 22,- [Euro].
Paul Seesequasis: "Unter der Mitternachtssonne". Porträts indigener Gemeinschaften in Kanada.
Aus dem kanadischen Englisch von Leon Mengden. Btb Verlag, München 2020. 185 S., Abb., br., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»sehr ergreifend [und] literarisch ausgesprochen klug gemacht« FAZ Bücher-Podcast, Tilman Spreckelsen
Unsere Zeit friert ein
Die kanadische Literatur ist denkbar multikulturell, und so spiegelt sich in ihr die ganze Welt. Drei Bücher und ein Bildband zeigen, was auch ohne die Buchmesse, deren Gastland Kanada sein sollte, zu entdecken ist.
Von Andreas Platthaus
Dieses Bücherjahr hätte ein kanadisches werden sollen. Als Gastland der Frankfurter Buchmesse wäre das der Fläche nach zweitgrößte Land der Erde literarisch endlich aus dem Schatten seines Nachbarn, der Vereinigten Staaten, herausgekommen. Nun aber ist die Buchmesse als Präsenzveranstaltung abgesagt, und Kanada muss ein Jahr warten, ehe es seine Gastrolle endlich spielen darf. Die Verlage sitzen derweil auf den vielen Büchern, die in der Hoffnung übersetzt wurden, dass sie messebedingt Aufmerksamkeit bekämen. Auch jenseits von Atwood, Coupland, Munro oder Ondaatje: Das Beste, was Kanadas Literatur zu bieten hat, ist jetzt auf Deutsch verfügbar.
Das liegt daran, dass die Übersetzungsförderung noch großzügiger als sonst ausfiel, denn Kanada ist ein reiches Land. Und ein stolzes - stolz auch auf seine kulturelle Vielfalt. Kein anderer Staat der Welt erreichte in den letzten Jahrzehnten eine so hohe Einwanderungsquote, die Bevölkerungszahl hat sich dadurch seit 1960 mehr als verdoppelt. Das verdankte sich nicht mehr vorrangig europäischer Zuwanderung, und so ist die kanadische Literatur mittlerweile über die klassisch westlichen Einflüsse weit hinaus.
Das zeigt sich weniger sprachlich als inhaltlich. Die meisten Bücher erscheinen auf Englisch, obwohl es in der Provinz Québec auch die französische Traditionspflege gibt. Aber die Themen sind in beiden kanadischen Literatursprachen breiter gestreut als in Europa, obwohl auch bei uns die Migrantenliteratur blüht. Doch Kanada hat außerdem Heimatliteratur zu bieten, für die es in Europa kaum ein Äquivalent gibt: die der First Nations und die der kanadischen Inuit.
Diese mit weniger als einem Prozent Bevölkerungsanteil sehr kleine, aber kulturell hochgeachtete Gruppe umfasst nicht nur die Indianer - die angesichts der denkbar unterschiedlichen Kulturen von Ostküsten-, Great-Plains- und Westküstenstämmen ohnehin nicht über einen Kamm geschoren werden dürfen -, sondern auch die Nordvölker aus den kanadischen Eismeer- und Tundra-Regionen. Weit mehr als die Indianer haben sie sich dank der Unwirtlichkeit ihrer Herkunftsgebiete Rückzugszonen bewahren können und damit auch ihre kulturelle Identität. Der Bildband "Unter der Mitternachtssonne", den Paul Seesequasis, selbst indianisch-indigener Abstammung, aus Fotoporträts des zwanzigsten Jahrhunderts von Angehörigen der First Nations und Inuit zusammengestellt hat, belegt diese Unterschiede.
Sein Titel verweist auf den hohen Norden als Idealschauplatz kanadischer Identität: Naturverbundenheit und Naturunberührtheit bilden einen Mythos, von dem die Erläuterungen, die Seesequasis den Aufnahmen beigibt, allerdings wenig übrig lassen: Ganz heil ist keine der indigenen Gruppen aus der rapiden Erschließung des jungen, 1867 gegründeten, aber erst 1931 ganz von England unabhängig gewordenen Kanadas herausgekommen. Und obwohl sie erst die Voraussetzungen für eine indigene Literatur schuf, war ein Unheil die Alphabetisierung. Der kanadische Pflichtunterricht durch staatliche oder kirchliche Schulen erfolgte vor allem in Internaten, die weitab der Heimat ihrer Schüler lagen, weshalb diese zwangsweise von den Familien getrennt wurden - ein traumatisches Erlebnis auch für die Eltern, denen plötzlich die fürs traditionelle Überlebensmodell unentbehrliche Hilfe der Kinder fehlte. Und wenn die aus den Schulen zurückkehrten, hatten sie ihr Wissen um die alten Lebensweisen verlernt.
Kein Wunder, dass Erzählungen über die Folgen dieser jahrzehntelang staatlich betriebenen Entfremdung die indigene kanadische Literatur prägen. Einer ihrer populärsten Autoren ist der 2017 verstorbene Richard Wagamese, ein Angehöriger des in Ontario beheimateten Volks der Ojibwe, der den Zerfall dieser Stammesgemeinschaft als Kind in den fünfziger und sechziger Jahren am eigenen Leibe erlebte: Den alkoholabhängigen Eltern weggenommen, wurde er zu weißen Pflegeeltern gegeben, die ihm alle indianischen Angewohnheiten auszutreiben versuchten. Im Laufe der Rückgewinnung seines kulturellen Erbes verschlug es Wagamese auf die andere Seite des Kontinents, nach British Columbia, wo er mit fast vierzig damit begann, Romane zu schreiben, die das Schicksal der First Nations zum Thema haben. Der letzte zu seinen Lebzeiten erschienene, "Medicine Walk" von 2014, ist jetzt als "Das weite Herz des Landes" übersetzt worden und hat nach wenigen Wochen schon die zweite Auflage erreicht.
Das mag den blumigen deutschen Titel rechtfertigen, der die spirituelle Komponente von "Medicine Walk" vermissen lässt. Seesequasis bringt die Sache auf den Punkt: "Die Menschen besaßen ihren Besitz nicht in Geld und Geldeswert, sondern in medicine power - am treffendsten wohl mit ,Heilkunst' zu übersetzen." Wagameses Roman hat eine Heilungsreise zum Gegenstand: Der siebzehnjährige Franklin Starlight (die für uns poetisch klingenden Familiennamen sind letzte Relikte indianischer Identität) begleitet seinen todkranken Vater Eldon auf dessen letztem Ritt in eine Landschaft, mit der sich die wenigen glücklichen Momente eines Lebens verbinden, das durch den frühen Tod von Eldons eigenem Vater im Zweiten Weltkrieg, einen brutalen Stiefvater und die gewaltsame Loslösung von daheim als Katastrophenkette erscheint. Eldons Lebensweg quer durch Kanada von Ontario ins Nechako Valley entspricht dem, den Wagamese selbst zurücklegte, aber der junge Franklin wiederum ist der Stellvertreter des Autors in der Generationenfolge, denn "Das weite Herz des Landes" spielt in den frühen siebziger Jahren.
Das tut indes wenig zur Sache, weil es ein zeitloses Charakteristikum indigener kanadischer Literatur gibt: die Verbindung mit dem Land. Bei Wagamese wechseln sich Landschaftsbeschreibungen mit Rückblicken in die Vergangenheiten von Eldon und Franklin ab, und je näher Eldons Tod rückt, desto intensiver wird das Naturerlebnis. Selbst gegen seine Alkoholsucht hat eine Indianerin, die den beiden Männern Quartier bietet, ein Heilmittel parat - zu spät, um Eldon noch zu retten, aber ein Zeichen, dass er zu retten gewesen wäre, wenn er sich vorher auf den heilsamen medicine walk begeben hätte.
Wenn die indigene Literatur Kanadas ihre Schauplätze in den Landschaften hat, sucht die migrantische ihre Handlungsorte in den Städten. Die Bücher des vor zwanzig Jahren als politischer Flüchtling aus Togo nach Kanada gelangten Edem Awumey sind Musterbeispiele dafür. Nur in den städtischen Mitleidensgemeinschaften von Schicksalsgenossen finden seine Protagonisten so etwas wie ein Heimatgefühl - und in der französischen Sprache von Québec, weshalb sich dort zahlreiche Immigranten aus dem frankophonen Afrika angesiedelt haben. Das gilt auch für Ito Baraka, den autobiographisch unterfütterten Helden von Awumeys Roman "Nächtliche Erklärungen". Sein Glück hat Ito in Kanada nicht gefunden, dafür den Alkohol, und nun ist auch ihm keine lange Lebensfrist mehr gegeben, weshalb er noch einmal zu seiner Geliebten, einer Angehörigen einer First Nation, reist.
Die Ähnlichkeit der Themen, auch der Handlungsverläufe im jeweiligen Wechsel von Reiseschilderung und Vergangenheitsbeschwörung, zwischen den Büchern von Wagamese und Awumey ist frappant. Doch "Nächtliche Erklärungen" hat nichts Versöhnliches, weder für die Migranten noch für die Indigenen. Ito Barakas Freundin stellt resigniert fest: "Wir haben keine Verbindung mehr zu dem, was wir mal in der Tiefe waren oder was wir einmal sein wollten. Eine neue Art, in der Welt zu sein, hat für uns begonnen, weiterzuexistieren durch die ganzen Besäufnisse hindurch, durch Schmuggel, Verbrechen, Cannabis. Unsere Leute werden oft verhaftet wegen Dealerei, Rauschgiftkonsum, Gewalttaten. Die Zeit, unsere Zeit, friert immer mehr ein."
Eine solch buchstäblich kühle Betrachtung der kanadischen Gegenwart konnte im Land nicht auf allzu große Sympathie hoffen. Eine Förderung der Übersetzung von Awumeys Roman wurde von kanadischer Seite abgelehnt, der Autor nicht nach Frankfurt eingeladen. Dass der Bonner Kleinverlag Weidle das Wagnis der Publikation trotzdem eingegangen ist - Stefan Weidle übersetzte selbst -, darf man einen Glücksfall nennen, weil dadurch auch solche kanadische Literatur zu uns kommt, die keine Wildnisromantik, aber Weltläufigkeit zu bieten hat.
Und die Bücher von Angehörigen der europäischstämmigen Mehrheitsgruppe? Exemplarisch sei hier der Erzählungsband "Fremde Hochzeit" von Lisa Moore genannt, einer 1964 auf Neufundland geborenen Autorin, deren Geschichten alle in St. John's angesiedelt sind, der dortigen Provinzhauptstadt. Aber das Lokalkolorit ist dünn aufgetragen; das St. John's von Lisa Moore ist ein Allerweltsort, in dem sich private Dramen der bürgerlichen Existenz abspielen - einer dezidiert westlichen, deren Probleme fernab von allem sind, was Wagamese und Awumey umtreibt. Identitätsfragen spielen keine Rolle, dafür umso mehr Integritätsfragen. Moores Protagonistinnen sind Zweifelnde: an der Liebe ihrer Männer, an der Erfüllbarkeit der Verheißung von Liebe überhaupt. Und just in der Geschichte, die Moore aus der Perspektive eines Mannes erzählt, stellt dieser alternde Herr mit dem Dutzendnamen Jim fest: "Echte Liebende, wahre Liebende, selbst Menschen, die nur kurz Liebende sind, so wie wir es nie waren, aber mit der Intensität, die ich meine, sprechen nie aus, was ihre Liebe bedeutet."
Darin liegt das Dilemma von Lisa Moores Personal begründet: Es spricht dauernd von der Liebe, aber liebt es überhaupt? Nach den Geschichten von Wagamese und Awumey könnte man die abgeklärte Prosa von Moore fast herzlos nennen: eine Momentaufnahme der Luxusprobleme einer Gesellschaftsschicht, die im ethnisch homogenen St. John's tatsächlich weitgehend unberührt bleiben kann von den existentiellen Problemen jener in ihrer kulturellen oder politischen Identität bedrohten Gemeinschaften, für die Wagamese und Awumey sprechen. Doch damit sind uns Moores Geschichten wiederum besonders nahe. Alle diese drei Beispiele kanadischer Literatur zeigen jedenfalls, was uns entginge, wenn unsere Neugier nur an einem Gastlandauftritt auf der Buchmesse entzündet würde.
Richard Wagamese: "Das weite Herz des Landes". Roman.
Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing Verlag, München 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Lisa Moore: "Fremde Hochzeit". Erzählungen.
Aus dem kanadischen Englisch von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2020. 268 S., geb., 23,- [Euro].
Edem Awumey: "Nächtliche Erklärungen". Roman.
Aus dem Französischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2020. 208 S., br., 22,- [Euro].
Paul Seesequasis: "Unter der Mitternachtssonne". Porträts indigener Gemeinschaften in Kanada.
Aus dem kanadischen Englisch von Leon Mengden. Btb Verlag, München 2020. 185 S., Abb., br., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die kanadische Literatur ist denkbar multikulturell, und so spiegelt sich in ihr die ganze Welt. Drei Bücher und ein Bildband zeigen, was auch ohne die Buchmesse, deren Gastland Kanada sein sollte, zu entdecken ist.
Von Andreas Platthaus
Dieses Bücherjahr hätte ein kanadisches werden sollen. Als Gastland der Frankfurter Buchmesse wäre das der Fläche nach zweitgrößte Land der Erde literarisch endlich aus dem Schatten seines Nachbarn, der Vereinigten Staaten, herausgekommen. Nun aber ist die Buchmesse als Präsenzveranstaltung abgesagt, und Kanada muss ein Jahr warten, ehe es seine Gastrolle endlich spielen darf. Die Verlage sitzen derweil auf den vielen Büchern, die in der Hoffnung übersetzt wurden, dass sie messebedingt Aufmerksamkeit bekämen. Auch jenseits von Atwood, Coupland, Munro oder Ondaatje: Das Beste, was Kanadas Literatur zu bieten hat, ist jetzt auf Deutsch verfügbar.
Das liegt daran, dass die Übersetzungsförderung noch großzügiger als sonst ausfiel, denn Kanada ist ein reiches Land. Und ein stolzes - stolz auch auf seine kulturelle Vielfalt. Kein anderer Staat der Welt erreichte in den letzten Jahrzehnten eine so hohe Einwanderungsquote, die Bevölkerungszahl hat sich dadurch seit 1960 mehr als verdoppelt. Das verdankte sich nicht mehr vorrangig europäischer Zuwanderung, und so ist die kanadische Literatur mittlerweile über die klassisch westlichen Einflüsse weit hinaus.
Das zeigt sich weniger sprachlich als inhaltlich. Die meisten Bücher erscheinen auf Englisch, obwohl es in der Provinz Québec auch die französische Traditionspflege gibt. Aber die Themen sind in beiden kanadischen Literatursprachen breiter gestreut als in Europa, obwohl auch bei uns die Migrantenliteratur blüht. Doch Kanada hat außerdem Heimatliteratur zu bieten, für die es in Europa kaum ein Äquivalent gibt: die der First Nations und die der kanadischen Inuit.
Diese mit weniger als einem Prozent Bevölkerungsanteil sehr kleine, aber kulturell hochgeachtete Gruppe umfasst nicht nur die Indianer - die angesichts der denkbar unterschiedlichen Kulturen von Ostküsten-, Great-Plains- und Westküstenstämmen ohnehin nicht über einen Kamm geschoren werden dürfen -, sondern auch die Nordvölker aus den kanadischen Eismeer- und Tundra-Regionen. Weit mehr als die Indianer haben sie sich dank der Unwirtlichkeit ihrer Herkunftsgebiete Rückzugszonen bewahren können und damit auch ihre kulturelle Identität. Der Bildband "Unter der Mitternachtssonne", den Paul Seesequasis, selbst indianisch-indigener Abstammung, aus Fotoporträts des zwanzigsten Jahrhunderts von Angehörigen der First Nations und Inuit zusammengestellt hat, belegt diese Unterschiede.
Sein Titel verweist auf den hohen Norden als Idealschauplatz kanadischer Identität: Naturverbundenheit und Naturunberührtheit bilden einen Mythos, von dem die Erläuterungen, die Seesequasis den Aufnahmen beigibt, allerdings wenig übrig lassen: Ganz heil ist keine der indigenen Gruppen aus der rapiden Erschließung des jungen, 1867 gegründeten, aber erst 1931 ganz von England unabhängig gewordenen Kanadas herausgekommen. Und obwohl sie erst die Voraussetzungen für eine indigene Literatur schuf, war ein Unheil die Alphabetisierung. Der kanadische Pflichtunterricht durch staatliche oder kirchliche Schulen erfolgte vor allem in Internaten, die weitab der Heimat ihrer Schüler lagen, weshalb diese zwangsweise von den Familien getrennt wurden - ein traumatisches Erlebnis auch für die Eltern, denen plötzlich die fürs traditionelle Überlebensmodell unentbehrliche Hilfe der Kinder fehlte. Und wenn die aus den Schulen zurückkehrten, hatten sie ihr Wissen um die alten Lebensweisen verlernt.
Kein Wunder, dass Erzählungen über die Folgen dieser jahrzehntelang staatlich betriebenen Entfremdung die indigene kanadische Literatur prägen. Einer ihrer populärsten Autoren ist der 2017 verstorbene Richard Wagamese, ein Angehöriger des in Ontario beheimateten Volks der Ojibwe, der den Zerfall dieser Stammesgemeinschaft als Kind in den fünfziger und sechziger Jahren am eigenen Leibe erlebte: Den alkoholabhängigen Eltern weggenommen, wurde er zu weißen Pflegeeltern gegeben, die ihm alle indianischen Angewohnheiten auszutreiben versuchten. Im Laufe der Rückgewinnung seines kulturellen Erbes verschlug es Wagamese auf die andere Seite des Kontinents, nach British Columbia, wo er mit fast vierzig damit begann, Romane zu schreiben, die das Schicksal der First Nations zum Thema haben. Der letzte zu seinen Lebzeiten erschienene, "Medicine Walk" von 2014, ist jetzt als "Das weite Herz des Landes" übersetzt worden und hat nach wenigen Wochen schon die zweite Auflage erreicht.
Das mag den blumigen deutschen Titel rechtfertigen, der die spirituelle Komponente von "Medicine Walk" vermissen lässt. Seesequasis bringt die Sache auf den Punkt: "Die Menschen besaßen ihren Besitz nicht in Geld und Geldeswert, sondern in medicine power - am treffendsten wohl mit ,Heilkunst' zu übersetzen." Wagameses Roman hat eine Heilungsreise zum Gegenstand: Der siebzehnjährige Franklin Starlight (die für uns poetisch klingenden Familiennamen sind letzte Relikte indianischer Identität) begleitet seinen todkranken Vater Eldon auf dessen letztem Ritt in eine Landschaft, mit der sich die wenigen glücklichen Momente eines Lebens verbinden, das durch den frühen Tod von Eldons eigenem Vater im Zweiten Weltkrieg, einen brutalen Stiefvater und die gewaltsame Loslösung von daheim als Katastrophenkette erscheint. Eldons Lebensweg quer durch Kanada von Ontario ins Nechako Valley entspricht dem, den Wagamese selbst zurücklegte, aber der junge Franklin wiederum ist der Stellvertreter des Autors in der Generationenfolge, denn "Das weite Herz des Landes" spielt in den frühen siebziger Jahren.
Das tut indes wenig zur Sache, weil es ein zeitloses Charakteristikum indigener kanadischer Literatur gibt: die Verbindung mit dem Land. Bei Wagamese wechseln sich Landschaftsbeschreibungen mit Rückblicken in die Vergangenheiten von Eldon und Franklin ab, und je näher Eldons Tod rückt, desto intensiver wird das Naturerlebnis. Selbst gegen seine Alkoholsucht hat eine Indianerin, die den beiden Männern Quartier bietet, ein Heilmittel parat - zu spät, um Eldon noch zu retten, aber ein Zeichen, dass er zu retten gewesen wäre, wenn er sich vorher auf den heilsamen medicine walk begeben hätte.
Wenn die indigene Literatur Kanadas ihre Schauplätze in den Landschaften hat, sucht die migrantische ihre Handlungsorte in den Städten. Die Bücher des vor zwanzig Jahren als politischer Flüchtling aus Togo nach Kanada gelangten Edem Awumey sind Musterbeispiele dafür. Nur in den städtischen Mitleidensgemeinschaften von Schicksalsgenossen finden seine Protagonisten so etwas wie ein Heimatgefühl - und in der französischen Sprache von Québec, weshalb sich dort zahlreiche Immigranten aus dem frankophonen Afrika angesiedelt haben. Das gilt auch für Ito Baraka, den autobiographisch unterfütterten Helden von Awumeys Roman "Nächtliche Erklärungen". Sein Glück hat Ito in Kanada nicht gefunden, dafür den Alkohol, und nun ist auch ihm keine lange Lebensfrist mehr gegeben, weshalb er noch einmal zu seiner Geliebten, einer Angehörigen einer First Nation, reist.
Die Ähnlichkeit der Themen, auch der Handlungsverläufe im jeweiligen Wechsel von Reiseschilderung und Vergangenheitsbeschwörung, zwischen den Büchern von Wagamese und Awumey ist frappant. Doch "Nächtliche Erklärungen" hat nichts Versöhnliches, weder für die Migranten noch für die Indigenen. Ito Barakas Freundin stellt resigniert fest: "Wir haben keine Verbindung mehr zu dem, was wir mal in der Tiefe waren oder was wir einmal sein wollten. Eine neue Art, in der Welt zu sein, hat für uns begonnen, weiterzuexistieren durch die ganzen Besäufnisse hindurch, durch Schmuggel, Verbrechen, Cannabis. Unsere Leute werden oft verhaftet wegen Dealerei, Rauschgiftkonsum, Gewalttaten. Die Zeit, unsere Zeit, friert immer mehr ein."
Eine solch buchstäblich kühle Betrachtung der kanadischen Gegenwart konnte im Land nicht auf allzu große Sympathie hoffen. Eine Förderung der Übersetzung von Awumeys Roman wurde von kanadischer Seite abgelehnt, der Autor nicht nach Frankfurt eingeladen. Dass der Bonner Kleinverlag Weidle das Wagnis der Publikation trotzdem eingegangen ist - Stefan Weidle übersetzte selbst -, darf man einen Glücksfall nennen, weil dadurch auch solche kanadische Literatur zu uns kommt, die keine Wildnisromantik, aber Weltläufigkeit zu bieten hat.
Und die Bücher von Angehörigen der europäischstämmigen Mehrheitsgruppe? Exemplarisch sei hier der Erzählungsband "Fremde Hochzeit" von Lisa Moore genannt, einer 1964 auf Neufundland geborenen Autorin, deren Geschichten alle in St. John's angesiedelt sind, der dortigen Provinzhauptstadt. Aber das Lokalkolorit ist dünn aufgetragen; das St. John's von Lisa Moore ist ein Allerweltsort, in dem sich private Dramen der bürgerlichen Existenz abspielen - einer dezidiert westlichen, deren Probleme fernab von allem sind, was Wagamese und Awumey umtreibt. Identitätsfragen spielen keine Rolle, dafür umso mehr Integritätsfragen. Moores Protagonistinnen sind Zweifelnde: an der Liebe ihrer Männer, an der Erfüllbarkeit der Verheißung von Liebe überhaupt. Und just in der Geschichte, die Moore aus der Perspektive eines Mannes erzählt, stellt dieser alternde Herr mit dem Dutzendnamen Jim fest: "Echte Liebende, wahre Liebende, selbst Menschen, die nur kurz Liebende sind, so wie wir es nie waren, aber mit der Intensität, die ich meine, sprechen nie aus, was ihre Liebe bedeutet."
Darin liegt das Dilemma von Lisa Moores Personal begründet: Es spricht dauernd von der Liebe, aber liebt es überhaupt? Nach den Geschichten von Wagamese und Awumey könnte man die abgeklärte Prosa von Moore fast herzlos nennen: eine Momentaufnahme der Luxusprobleme einer Gesellschaftsschicht, die im ethnisch homogenen St. John's tatsächlich weitgehend unberührt bleiben kann von den existentiellen Problemen jener in ihrer kulturellen oder politischen Identität bedrohten Gemeinschaften, für die Wagamese und Awumey sprechen. Doch damit sind uns Moores Geschichten wiederum besonders nahe. Alle diese drei Beispiele kanadischer Literatur zeigen jedenfalls, was uns entginge, wenn unsere Neugier nur an einem Gastlandauftritt auf der Buchmesse entzündet würde.
Richard Wagamese: "Das weite Herz des Landes". Roman.
Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing Verlag, München 2020. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Lisa Moore: "Fremde Hochzeit". Erzählungen.
Aus dem kanadischen Englisch von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2020. 268 S., geb., 23,- [Euro].
Edem Awumey: "Nächtliche Erklärungen". Roman.
Aus dem Französischen von Stefan Weidle. Weidle Verlag, Bonn 2020. 208 S., br., 22,- [Euro].
Paul Seesequasis: "Unter der Mitternachtssonne". Porträts indigener Gemeinschaften in Kanada.
Aus dem kanadischen Englisch von Leon Mengden. Btb Verlag, München 2020. 185 S., Abb., br., 25,- [Euro].
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