Die Photographien einer großen Unbekannten - Charlotte Joël.Über Charlotte Joël (1887-1943), die Photographin vieler berühmter Porträts, ist bis heute wenig bekannt. Bis in die dreißiger Jahre hat sie fünfundzwanzig Jahre lang ein Atelier in Charlottenburg geführt, nahe dem Berliner Bahnhof Zoo. Als Jüdin musste sie es aufgeben. Viele von denen, die vor ihrer Kamera saßen, tragen große Namen: Walter Benjamin und seine Familie etwa, Martin Buber, Marlene Dietrich, die spätere Frau Theodor W. Adornos Gretel Karplus, Karl Kraus oder Gustav Landauer. Ihre emphatischen Aufnahmen von Kindern erschienen in Zeitschriften und wurden von Postkartenverlagen herausgegeben. Doch von ihr selbst ist kein Porträt überliefert.Wer war diese Frau, die so einen bedeutenden Kundenkreis hatte? Persönliche Aufzeichnungen sind nicht bekannt. Nur in wenigen erhaltenen Briefen gibt sie etwas von sich preis.Werner Kohlert hat zusammengetragen, was über ihr Leben, ihre Arbeit und ihr jüdisches Schicksal in Erfahrung zu bringen war. Friedrich Pfäfflin hat über Jahre in öffentlichen und privaten Sammlungen ihre Photographien aufgespürt und den Werkkatalog erarbeitet.Endlich bekommt Charlotte Joël die Aufmerksamkeit, die sie schon lange verdient.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2019Das Atelier
am Zoo
Die Fotografin Charlotte Joël wurde in
Auschwitz ermordet. Von ihr bleibt der intime
Blick derer, die sie aufgenommen hat
VON JENS MALTE FISCHER
Von einer der bedeutendsten Porträtfotografinnen der Weimarer Republik existiert kein einziges Foto, zumindest ist keines überliefert: Wir wissen nicht, wie Charlotte Joël aussah. Das passt zu der Tatsache, dass sie selbst weitgehend hinter ihr fotografisches Werk zurücktrat. Wenn irgendwo auf der Welt ein Porträtfoto von Walter Benjamin oder Karl Kraus benötigt wird, dann kann man nahezu sicher sein, dass dieses Foto von Charlotte Joël stammt, aber über sie selbst wusste man bisher nahezu nichts. Werner Kohlert und Friedrich Pfäfflin haben dem mit einem so schönen wie liebevollen Band abgeholfen. Der Hauptteil des Buches besteht aus den erhaltenen Fotos, die in erstaunlicher Qualität überliefert sind.
Charlotte Joël, Jahrgang 1887, war eine gebürtige Charlottenburgerin. 1913 eröffnete sie ihr Fotoatelier in der Nähe des Bahnhofs Zoo. Es firmierte unter dem Namen Joël-Heinzelmann – Marie Heinzelmann war die Geschäftsführerin. Joël hatte noch einen bemerkenswerten Bruder: Ernst, als Medizinstudent einer der führenden Köpfe der deutschen Jugendbewegung, mit Walter Benjamin befreundet, mit dem er kurz vor dem Ersten Weltkrieg für eine Zeit eine gemeinsame Wohnung hatte. Ernst Joël richtete eine Fürsorgestelle für Suchtkranke ein und wurde dann Stadtoberschularzt. 1929 bereits starb er, wohl an einem Selbstversuch mit Drogen, Experimente, die er auch zusammen mit Benjamin unternommen hatte. Es war ganz offensichtlich der Bruder, der seiner Schwester Kontakte zu bedeutenden Menschen vermittelte. Wie aus Dokumenten hervorgeht, lief es meistens so ab, dass das Atelier Joël-Heinzelmann besondere Menschen der Zeit einlud, sich fotografieren zu lassen. Ohne Zweifel hat Ernst mit seinem reichen Bekanntenkreis dafür gesorgt, dass Martin Buber, Kraus, Benjamin, sein Bruder Georg, dessen Frau Hilde (später DDR-Justizministerin und als solche in der Bundesrepublik übel beleumundet) und die Schwester Dora Benjamin ins Atelier kamen. Auffallend ist die ungewöhnliche Ähnlichkeit der Geschwister Benjamin miteinander, noch verstärkt dadurch, dass Dora in Frisur und Kleidung einen damals nicht ungewöhnlichen androgynen Stil pflegte. Dann gibt es Fotos von einer pausbäckigen siebzehnjährigen Marlene Dietrich und vom jungen Schauspieler Bernhard Minetti, sowie von dem von Kafka und Kraus geschätzten Rezitator Ludwig Hardt. Eine Spezialität des Ateliers waren offensichtlich Kinderfotos von erstaunlicher Lebendigkeit. Geradezu berückend sind die vier Porträts von Gretel Karplus aus dem Jahr 1931, die damals schon mit Theodor W. Adorno verbunden war, den sie später heiratete.
Die Kunst Charlotte Joëls lässt sich prägnant an den berühmtesten Fotos, eben denen von Walter Benjamin und Karl Kraus erkennen. Es gibt keine Staffagen, keine Hintergründe, der Fotografierte sitzt der Kamera auf Augenhöhe gegenüber, er blickt in sie hinein oder an ihr vorbei, die Ausleuchtung vermeidet jeden Anhauch von Atelieratmosphäre, Schmucklosigkeit und Nüchternheit herrschen vor, die Ausstrahlung der Person wirkt ungefiltert. Kraus dominiert mit über 31 Bildern, die zwischen 1921 und 1930 aufgenommen wurden. Zwischen ihm und der Fotografin entstand ein besonderes Vertrauensverhältnis. Zeichen dafür ist, dass er vor ihrer Kamera so entspannt war, wie sonst nie bei seinen zahlreichen Aufnahmen. Eine Postkarte vom Mai 1934 an Kraus lässt die Vereinsamung der wegen ihrer jüdischen Herkunft bereits kaltgestellten Fotografin erkennen.
Im Gegensatz zu einigen ihrer bekannten Kolleginnen wie Lotte Jacobi und Gisèle Freund konnte sich Charlotte Joël nicht mehr zur Emigration aufraffen. Noch 1936 firmierte das Atelier unter dem Doppelnamen. Marie Heinzelmann führte es bis in die Nachkriegsjahre weiter. Ihre Geschäftspartnerin kam 1941 in das Zwangsarbeiterlager Gut Neuendorf, im April 1943 traf dort eine Deportationsliste ein, in der auch Charlotte „Sara“ Joël verzeichnet war. Am 20. April 1943 kam der Transport mit ihr und ihrer Freundin Clara Grunwald in Auschwitz-Birkenau an.
1936 erschien in einem Luzerner Verlag eine Briefanthologie mit dem Titel „Deutsche Menschen“, ausgewählt und kommentiert von Detlef Holz. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der von Charlotte Joël porträtierte Walter Benjamin. Das berühmt gewordene Motto zu diesem Buch lautet: „Von Ehre ohne Ruhm. Von Größe ohne Glanz. Von Würde ohne Sold“. Werner Kohlert und Friedrich Pfäfflin haben der Benjamin’schen Arche mit ihrem Buch ein Beiboot angehängt.
Das Werk der Photographin Charlotte Joël.
Mit einem Essay von
Werner Kohlert und einem Katalog des photographischen Werks von Friedrich Pfäfflin. Wallstein Verlag,
Göttingen 2019.
330 Seiten, 24,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
am Zoo
Die Fotografin Charlotte Joël wurde in
Auschwitz ermordet. Von ihr bleibt der intime
Blick derer, die sie aufgenommen hat
VON JENS MALTE FISCHER
Von einer der bedeutendsten Porträtfotografinnen der Weimarer Republik existiert kein einziges Foto, zumindest ist keines überliefert: Wir wissen nicht, wie Charlotte Joël aussah. Das passt zu der Tatsache, dass sie selbst weitgehend hinter ihr fotografisches Werk zurücktrat. Wenn irgendwo auf der Welt ein Porträtfoto von Walter Benjamin oder Karl Kraus benötigt wird, dann kann man nahezu sicher sein, dass dieses Foto von Charlotte Joël stammt, aber über sie selbst wusste man bisher nahezu nichts. Werner Kohlert und Friedrich Pfäfflin haben dem mit einem so schönen wie liebevollen Band abgeholfen. Der Hauptteil des Buches besteht aus den erhaltenen Fotos, die in erstaunlicher Qualität überliefert sind.
Charlotte Joël, Jahrgang 1887, war eine gebürtige Charlottenburgerin. 1913 eröffnete sie ihr Fotoatelier in der Nähe des Bahnhofs Zoo. Es firmierte unter dem Namen Joël-Heinzelmann – Marie Heinzelmann war die Geschäftsführerin. Joël hatte noch einen bemerkenswerten Bruder: Ernst, als Medizinstudent einer der führenden Köpfe der deutschen Jugendbewegung, mit Walter Benjamin befreundet, mit dem er kurz vor dem Ersten Weltkrieg für eine Zeit eine gemeinsame Wohnung hatte. Ernst Joël richtete eine Fürsorgestelle für Suchtkranke ein und wurde dann Stadtoberschularzt. 1929 bereits starb er, wohl an einem Selbstversuch mit Drogen, Experimente, die er auch zusammen mit Benjamin unternommen hatte. Es war ganz offensichtlich der Bruder, der seiner Schwester Kontakte zu bedeutenden Menschen vermittelte. Wie aus Dokumenten hervorgeht, lief es meistens so ab, dass das Atelier Joël-Heinzelmann besondere Menschen der Zeit einlud, sich fotografieren zu lassen. Ohne Zweifel hat Ernst mit seinem reichen Bekanntenkreis dafür gesorgt, dass Martin Buber, Kraus, Benjamin, sein Bruder Georg, dessen Frau Hilde (später DDR-Justizministerin und als solche in der Bundesrepublik übel beleumundet) und die Schwester Dora Benjamin ins Atelier kamen. Auffallend ist die ungewöhnliche Ähnlichkeit der Geschwister Benjamin miteinander, noch verstärkt dadurch, dass Dora in Frisur und Kleidung einen damals nicht ungewöhnlichen androgynen Stil pflegte. Dann gibt es Fotos von einer pausbäckigen siebzehnjährigen Marlene Dietrich und vom jungen Schauspieler Bernhard Minetti, sowie von dem von Kafka und Kraus geschätzten Rezitator Ludwig Hardt. Eine Spezialität des Ateliers waren offensichtlich Kinderfotos von erstaunlicher Lebendigkeit. Geradezu berückend sind die vier Porträts von Gretel Karplus aus dem Jahr 1931, die damals schon mit Theodor W. Adorno verbunden war, den sie später heiratete.
Die Kunst Charlotte Joëls lässt sich prägnant an den berühmtesten Fotos, eben denen von Walter Benjamin und Karl Kraus erkennen. Es gibt keine Staffagen, keine Hintergründe, der Fotografierte sitzt der Kamera auf Augenhöhe gegenüber, er blickt in sie hinein oder an ihr vorbei, die Ausleuchtung vermeidet jeden Anhauch von Atelieratmosphäre, Schmucklosigkeit und Nüchternheit herrschen vor, die Ausstrahlung der Person wirkt ungefiltert. Kraus dominiert mit über 31 Bildern, die zwischen 1921 und 1930 aufgenommen wurden. Zwischen ihm und der Fotografin entstand ein besonderes Vertrauensverhältnis. Zeichen dafür ist, dass er vor ihrer Kamera so entspannt war, wie sonst nie bei seinen zahlreichen Aufnahmen. Eine Postkarte vom Mai 1934 an Kraus lässt die Vereinsamung der wegen ihrer jüdischen Herkunft bereits kaltgestellten Fotografin erkennen.
Im Gegensatz zu einigen ihrer bekannten Kolleginnen wie Lotte Jacobi und Gisèle Freund konnte sich Charlotte Joël nicht mehr zur Emigration aufraffen. Noch 1936 firmierte das Atelier unter dem Doppelnamen. Marie Heinzelmann führte es bis in die Nachkriegsjahre weiter. Ihre Geschäftspartnerin kam 1941 in das Zwangsarbeiterlager Gut Neuendorf, im April 1943 traf dort eine Deportationsliste ein, in der auch Charlotte „Sara“ Joël verzeichnet war. Am 20. April 1943 kam der Transport mit ihr und ihrer Freundin Clara Grunwald in Auschwitz-Birkenau an.
1936 erschien in einem Luzerner Verlag eine Briefanthologie mit dem Titel „Deutsche Menschen“, ausgewählt und kommentiert von Detlef Holz. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der von Charlotte Joël porträtierte Walter Benjamin. Das berühmt gewordene Motto zu diesem Buch lautet: „Von Ehre ohne Ruhm. Von Größe ohne Glanz. Von Würde ohne Sold“. Werner Kohlert und Friedrich Pfäfflin haben der Benjamin’schen Arche mit ihrem Buch ein Beiboot angehängt.
Das Werk der Photographin Charlotte Joël.
Mit einem Essay von
Werner Kohlert und einem Katalog des photographischen Werks von Friedrich Pfäfflin. Wallstein Verlag,
Göttingen 2019.
330 Seiten, 24,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2020Beim Bahnhof Zoo
Vor ihrer Kamera posierten Karl Kraus und Marlene Dietrich, Martin Buber und Walter Benjamin: Ein Katalog sammelt die Fotografien von Charlotte Joël.
Eine junge Frau mit großer Schleife im Haar, im Kleid mit hoher Taille und breitem Spitzenkragen: Wenige Jahre später wird sie eine Ausbildung zur Geigerin abbrechen, um zum Theater zu gehen, und bald darauf eine steile Karriere beim Film machen. Warum die siebzehnjährige Marlene Dietrich unter den Hunderten Fotostudios Berlins gerade jenes von Charlotte Joël aufsuchte, um sich ablichten zu lassen, darüber scheint nichts bekannt. Aber die einzige (zukünftige) Prominenz, die sich in diesem Studio beim Zoologischen Garten porträtieren ließ, war sie nicht. Auch Fotografien von Gustav Landauer, Martin Buber, Walter Benjamin und Karl Kraus sind dort entstanden. In ihrem Fall weiß man allerdings, wer die Porträtierten ins Charlottenburger Studio vermittelte: Es war der jüngere Bruder der Fotografin, Ernst Joël, der sich zuerst in der Freien Studentenschaft engagiert hatte und dann als Arzt medizinische Fürsorge- und Aufklärungseinrichtungen in Berlin aufbaute, bevor er 1929 bei Selbstversuchen mit Drogen - diejenigen Walter Benjamins mit Haschisch hatte er begleitet - starb.
Über das kurze Leben des charismatischen Ernst Joël wissen wir einiges, über das seiner Schwester, 1887 geboren und in Auschwitz ermordet, nur sehr wenig. Dieses wenige ist in einem knappen Essay nachzulesen, der einem nun erschienenen Katalog der fotografischen Arbeiten Charlotte Joëls, soweit sie erhalten geblieben sind und aufgespürt werden konnten, vorangestellt ist. Gerade über ihre Tätigkeit als Fotografin geben allerdings so gut wie keine Quellen oder Dokumente nähere Auskunft. Wenige Zeilen nur sind von ihr erhalten geblieben, keine Negative, keine Fotografie, die sie selbst zeigt. Und spärlich sind auch die Spuren, die ihren Weg nach 1933 verfolgen lassen, als sie das 1913 gegründete Fotostudio an ihre Geschäftspartnerin übergeben musste, aber offenbar weiterhin dort fotografierte, bevor sie 1939 von der nationalsozialistischen Verfolgungsmaschinerie erfasst und nach mehreren Einweisungen - zuletzt in ein Lager beim brandenburgischen Fürstenwalde - im Frühjahr 1943 ins Vernichtungslager deportiert wurde.
Friedrich Pfäfflin hat in jahrelanger Arbeit den Fotografien Charlotte Joëls nachgespürt, ausgehend zweifellos von ihrer wohl bekanntesten Serie, den zwischen 1921 und 1930 entstandenen über dreißig Porträts von Karl Kraus. Insgesamt dokumentiert sein Katalog über zweihundert Fotografien, darunter auch solche aus den letzten drei Jahren vor der Deportation, deren Negative offenbar von Freunden oder Vertrauensleuten der Internierten zum Entwickeln gebracht wurden.
Die Porträts von Walter Benjamin stehen im Kontext der Fotografien seiner Schwester Dora und der Familie seines Bruders Georg, auch Gretel Karplus, Theodor W. Adornos zukünftiger Ehefrau, begegnet man, und Kinderbilder stellen als Spezialität des Fotostudios - wie manche der Porträts manchmal als Postkarten verkauft - einen großen Anteil. Alle Fotografien zeichnet eine auf einfache gestalterische Mittel konzentrierte Formensprache aus. Mit Licht und Schatten wird kaum gespielt, aparte Bildausschnitte werden nicht gesucht, die neutralen Hintergründe mischen sich nicht ein, Retuschen findet man keine. Alle diese Entscheidungen - für sie stand wohl die "moderne Fotografie" im Firmennamen des Studios - steigern die Präsenz der Porträtierten.
Vollständig kann der Katalog nicht sein, aber schon in der kurzen Zeit, die bis zur zweiten Auflage in diesem Frühjahr verging, sind vier neue Fotografien hinzugekommen. Die Sammelarbeit ist noch nicht abgeschlossen.
HELMUT MAYER
"Das Werk der Photographin Charlotte Joël". Katalog von Friedrich Pfäfflin, mit einem Essay von Werner Kohlert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 336 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor ihrer Kamera posierten Karl Kraus und Marlene Dietrich, Martin Buber und Walter Benjamin: Ein Katalog sammelt die Fotografien von Charlotte Joël.
Eine junge Frau mit großer Schleife im Haar, im Kleid mit hoher Taille und breitem Spitzenkragen: Wenige Jahre später wird sie eine Ausbildung zur Geigerin abbrechen, um zum Theater zu gehen, und bald darauf eine steile Karriere beim Film machen. Warum die siebzehnjährige Marlene Dietrich unter den Hunderten Fotostudios Berlins gerade jenes von Charlotte Joël aufsuchte, um sich ablichten zu lassen, darüber scheint nichts bekannt. Aber die einzige (zukünftige) Prominenz, die sich in diesem Studio beim Zoologischen Garten porträtieren ließ, war sie nicht. Auch Fotografien von Gustav Landauer, Martin Buber, Walter Benjamin und Karl Kraus sind dort entstanden. In ihrem Fall weiß man allerdings, wer die Porträtierten ins Charlottenburger Studio vermittelte: Es war der jüngere Bruder der Fotografin, Ernst Joël, der sich zuerst in der Freien Studentenschaft engagiert hatte und dann als Arzt medizinische Fürsorge- und Aufklärungseinrichtungen in Berlin aufbaute, bevor er 1929 bei Selbstversuchen mit Drogen - diejenigen Walter Benjamins mit Haschisch hatte er begleitet - starb.
Über das kurze Leben des charismatischen Ernst Joël wissen wir einiges, über das seiner Schwester, 1887 geboren und in Auschwitz ermordet, nur sehr wenig. Dieses wenige ist in einem knappen Essay nachzulesen, der einem nun erschienenen Katalog der fotografischen Arbeiten Charlotte Joëls, soweit sie erhalten geblieben sind und aufgespürt werden konnten, vorangestellt ist. Gerade über ihre Tätigkeit als Fotografin geben allerdings so gut wie keine Quellen oder Dokumente nähere Auskunft. Wenige Zeilen nur sind von ihr erhalten geblieben, keine Negative, keine Fotografie, die sie selbst zeigt. Und spärlich sind auch die Spuren, die ihren Weg nach 1933 verfolgen lassen, als sie das 1913 gegründete Fotostudio an ihre Geschäftspartnerin übergeben musste, aber offenbar weiterhin dort fotografierte, bevor sie 1939 von der nationalsozialistischen Verfolgungsmaschinerie erfasst und nach mehreren Einweisungen - zuletzt in ein Lager beim brandenburgischen Fürstenwalde - im Frühjahr 1943 ins Vernichtungslager deportiert wurde.
Friedrich Pfäfflin hat in jahrelanger Arbeit den Fotografien Charlotte Joëls nachgespürt, ausgehend zweifellos von ihrer wohl bekanntesten Serie, den zwischen 1921 und 1930 entstandenen über dreißig Porträts von Karl Kraus. Insgesamt dokumentiert sein Katalog über zweihundert Fotografien, darunter auch solche aus den letzten drei Jahren vor der Deportation, deren Negative offenbar von Freunden oder Vertrauensleuten der Internierten zum Entwickeln gebracht wurden.
Die Porträts von Walter Benjamin stehen im Kontext der Fotografien seiner Schwester Dora und der Familie seines Bruders Georg, auch Gretel Karplus, Theodor W. Adornos zukünftiger Ehefrau, begegnet man, und Kinderbilder stellen als Spezialität des Fotostudios - wie manche der Porträts manchmal als Postkarten verkauft - einen großen Anteil. Alle Fotografien zeichnet eine auf einfache gestalterische Mittel konzentrierte Formensprache aus. Mit Licht und Schatten wird kaum gespielt, aparte Bildausschnitte werden nicht gesucht, die neutralen Hintergründe mischen sich nicht ein, Retuschen findet man keine. Alle diese Entscheidungen - für sie stand wohl die "moderne Fotografie" im Firmennamen des Studios - steigern die Präsenz der Porträtierten.
Vollständig kann der Katalog nicht sein, aber schon in der kurzen Zeit, die bis zur zweiten Auflage in diesem Frühjahr verging, sind vier neue Fotografien hinzugekommen. Die Sammelarbeit ist noch nicht abgeschlossen.
HELMUT MAYER
"Das Werk der Photographin Charlotte Joël". Katalog von Friedrich Pfäfflin, mit einem Essay von Werner Kohlert. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 336 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»ein so schöner wie liebevoller Band« (Jens Malte Fischer, Süddeutsche Zeitung, 26.11.2019) »eine emphatische Würdigung der ermordeten Charlotte Joël, die sie vor dem vollständigen Vergessen bewahrt« (Wilfried Weinke, taz, 28.04.2020) »Mit bemerkenswerter Geduld und enormem Spürsinn haben Friedrich Pfäfflin und Werner Kohlert zusammengetragen, was sich noch finden lässt« (Klaus Bellin, neues deutschland, 09./10.05.2020)