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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2009

Die Stimmungskanone

In einer heiteren Gemütsverfassung kommen uns die beglückenden Erlebnisse wie von selbst entgegen - jetzt neu nachzulesen bei Otto Friedrich Bollnow.

Es gibt viele Methoden, um sich einen Reim auf sich selbst zu machen. Man kann das Studium der Hormone und Gene betreiben. Man kann psychologische Theorien befragen. Man kann den philosophischen Instrumentenkasten öffnen und nach dem Wesen des Menschen fragen. Letzteres ist nicht so abwegig, wie es im Lichte der exakten Naturwissenschaften scheinen mag. Denn das Exakte ist immer auch von eigentümlicher Magerkeit. Es macht da einen Punkt, wo die Fragen doch erst losgehen. Eine philosophische Beschreibung setzt bei diesen Fragen an und beansprucht noch nicht einmal, sie zu beantworten. Dass philosophische Phänomenologie dennoch befriedigender sein kann als Formeln und Modelle, zeigt auch der fast vergessene Otto Friedrich Bollnow (1903 bis 1991), die Stimmungskanone unter den Existentialontologen.

Der Philosoph und Pädagoge scheute sich nicht, ein Buch mit dem Titel "Das Wesen der Stimmungen" zu schreiben. Dass der Wesensbegriff nicht etwa ein dogmatisches Verfahren voraussetzt, sondern reichhaltige Beobachtungen nach sich ziehen kann, ist bei Bollnow wunderbar zu sehen. "Wesen" ist bei ihm nur ein Suchbegriff zur Klärung der konkreten Erscheinung. Bollnow selbst hat dieses methodische Prinzip auf die Frage gebracht: "Wie muss das Wesen des Menschen im ganzen beschaffen sein, damit sich diese besondere, in der Tatsache des Lebens gegebene Erscheinung darin als sinnvolles und notwendiges Glied begreifen lässt? Ich muß allerdings einschränkend hinzufügen, dass das Wort ,Wesen' hier nur in einem unverbindlichen Sinn genommen ist, um das übergreifende Ganze zu bezeichnen, in dem die einzelne Erscheinung ihre Stelle hat. Über eine zeitlose Wesenheit ist damit noch nichts ausgesagt."

Man muss den Verlag Königshausen & Neumann sehr loben, dass er die Hauptwerke Bollnows, die zum Teil seit Jahren im Buchhandel fehlen, nun als Studienausgabe herausbringt und für eine neue Lesergeneration erschließt. Sie erscheinen als Auswahl in der jeweils letzten, vom Autor selbst besorgten Fassung. Lediglich die Anmerkungen wurden formal vereinheitlicht. Mit dem Buch "Das Wesen der Stimmungen" trat Bollnow 1941 zum ersten Mal mit einem größeren systematischen Werk hervor. Es war, wie die Herausgeber feststellen, der Entwurf einer philosophischen Anthropologie, der für Bollnows ganze spätere Lebensarbeit bestimmend geblieben ist: "Insofern kommt dem Buch für unser heutiges Verständnis von Bollnow eine Art Schlüsselfunktion zu, und es steht nicht zufällig an der Spitze dieser Ausgabe der Schriften."

Anders als beim Modethema "Emotionen" geht es bei der Stimmung um ein ungerichtetes Zumutesein, das keinen speziellen Gegenstand hat, sondern von Bollnow als "tragender Lebensuntergrund" beschrieben wird, der alles tränkt und färbt. Stimmung meint in Abgrenzung zum Gefühl nicht Freude über etwas, Hoffnung auf etwas oder Liebe zu etwas. Stimmungen, so führt Bollnow aus, "haben keinen bestimmten Gegenstand. Sie sind Zuständlichkeiten, Färbungen des gesamten menschlichen Daseins, in denen das Ich seiner selbst in einer bestimmten Weise unmittelbar inne wird, die aber nicht auf etwas außer ihnen Liegendes hinausweisen."

So ist das stets bei Bollnow (und verwandten musikalisch gestimmten Seelendeutern von Ludwig Binswanger bis Wolfgang Blankenburg): eine gewisse Blasiertheit in der Handhabung anthropologischer Kategorien wirft reichen Ertrag ab und ist - von Heideggerschen Manieriertheiten gereinigt - sprachlich nicht selten ein Hochgenuss. So fragt Bollnow nach der jeweiligen Erkenntnisleistung von gehobener und gedrückter Stimmung, lotet die Möglichkeit einer Regulierung der Stimmung aus, geht dem Zusammenhang von Zeiterfahrung und Stimmungslage nach und scheidet den fruchtbaren Augenblick vom leeren Rausch.

Auch wo man es sich nicht bewusst mache: Die Stimmung sei das Apriori der Wahrnehmung, die Grundverfassung des seelischen Lebens. "Wie ich mich einem Ding zuwende und wie es mir erscheint, ist von vornherein durch die Stimmungslage bedingt, in der ich mich befinde. Nur in ängstlicher Stimmung begegnet mir Bedrohliches, und nur in einer heiteren Gemütsverfassung kommen mir die beglückenden Erlebnisse wie von selbst entgegen." Es gibt grundsätzlich keine Befindlichkeit des menschlichen Lebens, keine theoretische Einsicht, die nicht schon in bestimmter Weise gestimmt wären. Stimmungen sind das Areal diesseits der Hermeneutik.

Es ist kein Wunder, dass die ganze Aufmerksamkeit des Autors und des Lesers der Regulierbarkeit der Stimmungen gilt, und man will es eigentlich nicht recht verstehen, dass Bollnows Stimmungsbüchlein der Weg in die Charts versperrt geblieben ist. Am Thema kann es kaum liegen. Man braucht sich ja nur den großen Erfolg zu vergegenwärtigen, den ein Jahrhundert zuvor Ernst von Feuchtersleben mit seinem Stimmungsmanual "Zur Diätetik der Seele" hatte. Es avancierte im Nu zum bürgerlichen Hausbuch.

Schön ist die Pointe Bollnows, wonach jeder für den Erhalt seines intellektuellen Feuchtgebiets selbst verantwortlich ist. Eben deshalb sei Stimmungshygiene das A und O des schöpferischen Menschen. Was nicht heiße, dass man warten soll, bis man in Stimmung ist. Oft stelle sich die richtige Stimmung erst nachträglich, gleichsam per Kooption ein. Mit anderen Worten: dranbleiben an zäher Materie, denn es ist nicht auszuschließen, dass man in Fahrt kommt.

Ein Buch über den Ursprungsmythos Stimmung - wer es heute liest, gerät in Hochstimmung. Man freut sich daran, einmal ohne Bezug auf Gene und Hormone über den Menschen belehrt zu werden. Und neidet, Seite für Seite, dem Autor seine Arglosigkeit.

CHRISTIAN GEYER

Otto Friedrich Bollnow: "Das Wesen der Stimmungen". Schriften. Studienausgabe in zwölf Bänden. Band 1. Hrsg. von Ursula Boelhauve, Gudrun Kühne-Bertram, Hans-Ulrich Lessing und Frithjof Rodi. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009. 226 S., br., 22,- [Euro].

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