Der Komponist und Musiktheoretiker Othmar Steinbauer (1892–1962) war Schüler von Anton Webern, Arnold Schönberg und später von Josef Matthias Hauer. In diesem Sinne steht er genau zwischen den beiden bedeutenden Wiener Richtungen der Zwölftonmusik und begründete auf dieser Grundlage seine eigene, dritte Schule zwölftöniger Musik. In der Mitte der 1920'er Jahre befasste er sich eingehend mit tonaler Harmonik und Musiktheorie. Zugleich unternahm er philosophische Studien im Sinne der Theorien des österreichischen Soziologen und Philosophen Othmar Spann (1878–1950), dessen Ganzheitsphilosophie als eine der international bedeutendsten und einflussreichsten geisteswissenschaftlichen Errungenschaften Österreichs der Zwischenkriegszeit gilt. In seinem 1928 erschienenen Buch “Das Wesen der Tonalität” unternimmt Steinbauer den Versuch einer Synthese aus tonal-harmonikaler Musiktheorie und der Spannschen Ganzheitsphilosophie. Der geradezu tollkühne Versuch einer ganzheitlich-philosophischen Zugrundelegung von Musiktheorie ist seiner Natur nach ebenso interdisziplinär wie speziell und alternativ. Steinbauer nimmt bewusst Abstand von der traditionellen akademischen Musiktheorie und ihren zeitgenössischen Entwicklungen. Doch geht es ihm darin keineswegs um eine Ausbesserung der Funktionsharmonik oder gar um eine Alternative zur Harmonielehre. Seine Intention ist weniger die Darstellung einer Lehre, vielmehr ist seine Absicht eine Sinnsuche: Musiktheoretische und philosophische Zweifel gegenüber der zeitgenössischen Atonalität führen ihn zu den Grundlagen der Tonalität und in restaurative Tendenzen: zur Suche nach einer philosophischen Basis von tonaler Musik. Es ist keineswegs die Absicht der Herausgeber, die Überlegungen Steinbauers in der Neuausgabe der Schrift als Lösung aus Problemen der Musiktheorie anzupreisen, ebenso wollen sie sein dargestelltes ganzheitliches Tonalitäts- und Musikbild propagieren. Vielmehr will die erläuterte und kommentierte Neuerscheinung die Gedankengänge Steinbauers in erster Linie seriös und kritisch diskutieren und dokumentieren. Und darin ist Steinbauer ein Kind der Zwischenkriegszeit, einer Zeit der Hochblüte der Atonalität und der Zwölftontheorie, die von ihren Gegnern meist mit mehr Emotionalität als Rationalität bekämpft wird. Und es ist eine Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit ganzheitlicher Philosophie der Gegenwart, ebenso wie der frühen Neuzeit sowie der griechischen und ostasiatischen Antike. Der Text Steinbauers ist in zwei Hauptteile untergliedert. Der erste Teil ist überwiegend von musiktheoretischem, der zweite Teil von philosophischem Charakter. Im ersten Teil formt Steinbauer ein Tonalitätsbild auf Basis des teiltönigen Prinzips, dem er ein multiplikatives Prinzip polar gegenüberstellt. Als einen Ausdruck dieser Polarität sieht er die Durskala und, als komplementäres Moll, die phrygische Tonleiter. Auf Grundlage dieses polaren Systems bildet er dann einen mediantischen Skalenkreis, in dem eine Vielzahl von Tönen tonal gebunden ist und dessen Regionen er besondere harmonische Phänomene (z.B. Nebendominanten) zuordnet. Den Abschluss des theoretischen Teils bilden Ausführungen über eine Kadenzform auf Basis ganztöniger Klänge, wie sie bereits in Schönbergs Harmonielehre angedeutet ist. Der zweite Hauptteil besteht im ersten Teil überwiegend aus Untersuchungen der Teiltonreihe, wobei er das ihr innewohnende generative Teilungsprinzip mit dem Spannschen Begriff der Ausgliederung verbindet. Der zweite Teil besteht weitgehend aus philosophischen Erörterungen der Zahlen 1 und 0 sowie deren Bezug auf das Teilungs- bzw. Multiplikationsprinzip. Der Anhang Steinbauers diskutiert vor allem die polaren Harmoniesysteme nach Hugo Riemann und Sigfrid Karg-Elert und nimmt Stellung gegen die Sichtweise, eine akkordische Harmonielehre als Grundlage von Musiktheorie zu verwenden. Im Anschluss an den mit Fußnoten bereits erläuterten Originaltext Steinbauers folgt ein umfangreicher Kommentar, der die angestellten Überlegungen und deren Hintergründe noch einmal zusammenzufassen und kritisch zu diskutieren versucht, sowohl aus musiktheoretischer und musikhistorischer Sicht als auch aus Sicht der Spannschen Philosophie.