Gerhard Ringshausen legt mit diesem Buch die erste umfassende Darstellung der regimekritischen Werke christlicher Dichter vor und dokumentiert darin ihre breite und vielfältige Auseinandersetzung mit dem NS-Regime, seiner Weltanschauung und Machtausübung. Neben bekannten Autoren wie Stefan Andres, Werner Bergengruen, Gertrud von le Fort, Jochen Klepper, Reinhold Schneider, Otto von Taube und Ernst Wiechert kommen auch bisher völlig übersehene Schriftsteller in den Blick. Die Spannweite reicht von kirchlicher Bindung bis zu theologisch liberalen und religiös-sozialistischen Einstellungen. Dadurch wird die Literatur während des »Dritten Reichs« neu vermessen; denn die christlichen Autoren bildeten die größte, vielfach miteinander verbundene Gruppe widerständiger Dichter. Sie zogen sich nicht zurück in eine überlieferte Glaubenswelt, sondern nahmen mutig und konkret Stellung, wobei sie die Zensur geschickt unterliefen. Es ist Zeit, diese Literatur neu zu entdecken und zu würdigen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Hans Maier hält das Buch des Religionspädagogen Gerhard Ringshausen für eine ergiebige Gesamtdarstellung zum Thema Widerstand in der christlichen Literatur während der NS-Zeit und darüber hinaus. Auch wenn der Band mit seinen 3781 Anmerkungen für Maier nicht leicht zu lesen ist - sein Studium ermöglicht wichtige, über die bisherige Forschung hinausführende Erkenntnisse betreffend die Innere Emigration oder Autoren wie Rüdiger Syberberg oder Veronika Erdmann, versichert er. Wie der Autor Texte von 30 katholischen und evangelischen Autor:innen auf ihre Regimekritik hin untersucht, kulturelle und religiöse Verbindungen und Netzwerke sichtbar macht und an vergessene Schriften erinnert, scheint Maier höchst lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2022Getarnte
Widerworte
Gerhard Ringshausen hat eine
erste umfassende Geschichte der Literatur
der Inneren Emigration geschrieben
VON HANS MAIER
Christliche Autoren bildeten im Dritten Reich den Kern der sogenannten „Inneren Emigration“. Sie waren klar gegen Hitler, konnten freilich unter der NS-Zensur nur „zwischen den Zeilen“ schreiben. Ihre Botschaft blieb verhüllt, sie musste entschlüsselt und interpretiert werden. Das gilt auch für ihre Rezeption in der Gegenwart. Das Wort „Innere Emigration“ als Bezeichnung für diese Literatur taucht bereits im November 1933 auf – überraschenderweise bei Thomas Mann, der sich diesen heimischen Dissidenten zugehörig fühlte, obwohl er damals schon im Ausland lebte. Zahlreiche Personen und mehrere Publikationsorgane rechneten sich zu dieser Gruppierung, Zeitschriften wie „Hochland“ und „Eckart“, regimekritische Briefe und Flugschriften – nicht zu reden von der Vielzahl unveröffentlichter Texte, die erst nach dem Ende der Diktatur erscheinen konnten (prominentestes Beispiel ist sicher Elisabeth Langgässers Roman „Das unauslöschliche Siegel“, der 1946 erschien). Unterirdische Literatur, oft handschriftlich weitergegeben, verbreitete sich vor allem in der Kriegszeit. Das zeigen etwa die rund 30 000 Soldatenbriefe im Nachlass Reinhold Schneiders in Karlsruhe; sie sind Antworten auf die halblegal im Elsass gedruckten Schriften des Autors, die sich gegen Ende der NS-Herrschaft bis in die Schützengräben und Luftschutzkeller hinein verbreitet hatten. Allein Schneiders „Vaterunser“ brachte es auf eine Auflage von einer halben Million.
Aber auch das in der NS-Zeit öffentlich Verlegte und Gedruckte mit christlichem Inhalt streute weit. Prosaschriften erlebten hohe Auflagen, oft weit über 100 000; Gedichte, voran das strenge Sonett, gewannen eine unerwartete Tagesaktualität; der historische Roman fand viele Leser. In Romanen und Novellen schlug sich Regimekritik nieder, meist in verdeckter Schreibweise, in historischen Bildern und Gegenbildern – so bei Werner Bergengruen, Gertrud von le Fort, Leo Weismantel, Stefan Andres, Erika Mitterer, Ricarda Huch.
Darüber liegen inzwischen zahlreiche Quelleneditionen, Neu- auflagen, Untersuchungen vor – die Literatur der Inneren Emigration reichte ja tief in die Nachkriegsjahre hinein. Von Joël Pottier, John Klapper, Frank-Lothar Kroll, Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund stammen wichtige Monografien. Aber niemand hat sich bisher an eine umfassende Gesamtdarstellung gewagt. Nun ist sie da – in einem großen Band aus der Feder eines Kundigen, des evangelischen Theologen und Religionspädagogen Gerhard Ringshausen, der sich seit vielen Jahren mit der Inneren Emigration befasst. Seine Untersuchung bilanziert das „widerständige Wort“ christlicher Autoren, zielt aber über die NS-Zeit hinaus, indem sie sowohl in die Anfänge christlicher Literatur in der Moderne zurückblickt wie auch die Aufnahme der Schriften der Inneren Emigration nach 1945 bei der Leserschaft und in der Forschung verfolgt.
Das Buch ist nicht ganz leicht zu lesen, es will studiert werden. Mit 700 Seiten und 3781 Anmerkungen gehört es zu den Schriften, die man nicht nur von vorn nach hinten, sondern auch seitenweise „von oben nach unten“ lesen muss – sowohl den Haupttext wie die darunter aufgeführten oft umfangreichen Nachweise und Kommentare. Doch wer die nötige Geduld aufbringt, dem erschließt sich eine Fülle wichtiger Entdeckungen. Sie führen über die bisherige Forschung hinaus, öffnen neue Zugänge und eine umfassende Sicht auf die Innere Emigration, die Literatur der in de NS-Zeit „Daheimgebliebenen“. Ringshausen trägt seine Bilanz in zwei Teilen vor. Der erste schildert die Bedingungen der Literatur im Dritten Reich und charakterisiert das Selbstverständnis der Dichter der Inneren Emigration. Der zweite benennt die Felder der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und fragt nach den leitenden Grundsätzen der Opponenten.
30 katholische und evangelische Autoren kommen in Ringshausens Auswahl in den Blick. Neben den berühmten stehen auch weniger bekannte wie Gertrud Bäumer, Otto von Taube, Johannes Kirschweng, Rüdiger Syberberg, Veronika Erdmann. Ihre Texte erweisen sich als Dokumente einer weit ausholenden, meist jedoch sorgfältig getarnten Regimekritik. Oft sind es nur wenige Zeilen, die in der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat eine Rolle spielten. Ringshausen führt sie auf, beschreibt sie, weiß sie zu entschlüsseln. Dabei werden die vielfältigen Beziehungen zwischen den Gruppen des Widerstandes und den literarischen Dissidenten deutlich. Musterbilder zeigen Hans Scholl in Carl Muths Münchner Bibliothek; oder Jochen Klepper bei der Lektüre Reinhold Schneiders und Gertrud von le Forts. Die vielfältigen kulturellen und religiösen Verbindungen werden sichtbar, auch wenn der Einblick oft bruchstückhaft bleibt. Man erlebt die Wirkung der Netzwerke, den Austausch in Briefen, Telefonaten, Rezensionen, das, was Jochen Klepper den „eisernen Ring“ der „im Glauben Zusammengehörigen“ genannt hat.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht natürlich der Kampf der NS-Partei gegen die Juden. Nicht zufällig stellt daher Ringshausen im zweiten Teil seiner Darstellung Gertrud von le Fort an die Spitze. Denn bei dieser Dichterin reicht die Verwahrung gegen Rassismus und Antisemitismus nachweisbar schon in die Weimarer Zeit zurück. Schockiert durch ein antisemitisches Plakat der Münchner NSDAP aus dem Jahr 1929, das mit den Worten „Juda verrecke!“ endete, schrieb sie ihren Roman „Der Papst aus dem Ghetto“. Es ist die früheste und deutlichste literarische Warnung vor der nach 1933 einsetzenden Judenhetze, dem Vorspiel zur Shoa.
Folgt man Ringshausen, so tritt die Wendung gegen Antisemitismus, Judenhetze, Judenverfolgung und die Verteidigung der Juden im christlichen Namen auch in den Schriften von Ricarda Huch, Reinhold Schneider, Werner Bergengruen deutlich als Kontinuum hervor. Zwar fragten sich nahezu alle Autoren nach dem Krieg selbstkritisch, ob sie mit ihren historisch verkleideten Plädoyers genug für die Juden getan hätten. Doch wie hatten sich andere Schriftsteller verhalten, und was hatten die Deutschen in ihrer Mehrheit getan, um das Unheil abzuwenden?
Zweifellos fand die Literatur der Inneren Emigration in der NS-Zeit ein Echo. Das zeigen vor allem die Millionenauflagen der Bücher. Ein Grund lag auch darin, dass die Schriftsteller unter der NS-Herrschaft das verhüllende Schreiben gelernt hatten. Aber die Leserinnen und Leser hatten im Gegensinn auch das entschlüsselnde Lesen gelernt – und so bildete sich rasch eine neue Form literarisch-politischer Kommunikation heraus. Doch nach 1945 geriet die Literatur der Daheimgebliebenen unter Rechtfertigungsdruck. Thomas Mann, nunmehr ganz auf der Seite der „Äußeren Emigration“, entdeckte in ihren Schriften einen „Geruch von Blut und Schande“. Bertolt Brecht vermisste in der Literatur der christlichen Autoren die Handhabbarkeit als „Waffe“. Literaturkritiker tadelten das christlich-konservative Weltbild, die Rückzüge in Allegorien und historische Bilder, die „Flucht nach innen“. Dabei war es den Daheimgebliebenen doch auf das „Bleibende“ angekommen: das Gewissen, die Gerechtigkeit, die Bewahrung der Menschenwürde, die europäische Gemeinsamkeit, die christliche Tradition. In der Tat kann man fragen, ob nicht ein offen geäußerter, von vielen Seiten getragener Widerspruch angesehener Autoren die Kraft gehabt hätte, das NS-Regime zu tangieren – ein Regime, das ja weder über konsistente Ideen noch über bedeutende Autoren verfügte.
Doch der Blick auf die wenigen Fälle öffentlicher Regimekritik wirkt ernüchternd: Ernst Wiechert kam nach mutigen Äußerungen in KZ-Haft und wurde nach der Entlassung von Goebbels mit „physischer Vernichtung“ bedroht. Reinhold Schneider, des Hochverrats beschuldigt, konnte nur durch die Intervention seiner Ärzte vor einem Prozess mit sicherer Todesfolge gerettet werden.
Immerhin hat sich in der Gegenwart der Blick auf die Innere Emigration verändert. Man ist heute bereit, dem indirekten kritischen Sprechen in totalitären Regimen einen höheren Eigenwert zuzugestehen. Die Zahl der Diktatoren hat ja nicht abgenommen, und Regimekritik zieht in vielen Staaten der heutigen Welt Verfolgung, Gefangenschaft, Tod nach sich. Es kommt hinzu, dass heute auch Literaturkritiker und Literaturhistoriker die Kunst poetischer Camouflage unter totalitären Bedingungen besser zu würdigen wissen als früher. Viele sehen in verhüllten Schreibweisen nicht mehr nur einfach ein politisches Sich-Wegducken. Schreiben „zwischen den Zeilen“ gilt vielmehr als eine – unter bestimmten Umständen unvermeidliche – literarische Äußerungsform.
Zweifellos kommt dieser Wandel Gerhard Ringshausen in seinem Buch zugute. Er kann einen neuen Blick auf alte, heute so gut wie vergessene Schriften werfen, die sich in der Zeit nach 1945 für fast zwei Jahrzehnte hoher Wertschätzung und Verbreitung erfreuten; er kann Zuordnungen klären (vor allem bei Zweifelsfällen wie Ina Seidel und Gertrud Fussenegger) und er kann vorschnelle Urteile revidieren. Vor allem gelingt es ihm, den Blick auch wieder auf die Ästhetik zu richten, indem er nach dem literarisch-künstlerischen Gewicht der Schriften der Inneren Emigration fragt.
Mit anderen Worten: Es macht den Rang dieser Autoren aus, dass nicht wenige ihrer Schriften unter den widrigen Umständen der Zeit klassischen Rang erreichten. Es bleibt ihre Tragik, dass ihr Widerstand unvermeidlich „Literatur“ bleiben musste. Die Autoren der Inneren Emigration warnten die Mitbürger, sie beschworen das Unheil der NS-Herrschaft frühzeitig, kenntnisreich und engagiert. Verhindern konnten sie das Unheil nicht.
Gertrud von le Fort schrieb
die früheste literarische
Warnung vor der Judenhetze
Thomas Mann entdeckte in
ihren Schriften einen
„Geruch von Blut und Schande“
Gerhard Ringshausen: Das widerständige
Wort. Christliche
Autoren gegen das
„Dritte Reich“. Bebra Verlag, Berlin 2022.
700 Seiten, 56 Euro.
Mutlose „Flucht nach innen“ oder Rettung von Gewissen, Gerechtigkeit, Menschenwürde und christlicher Tradition? Auch Ricarda Huch war regimekritisch, verließ Deutschland während der NS-Zeit jedoch nicht.
Foto: IMAGO/piemags
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Widerworte
Gerhard Ringshausen hat eine
erste umfassende Geschichte der Literatur
der Inneren Emigration geschrieben
VON HANS MAIER
Christliche Autoren bildeten im Dritten Reich den Kern der sogenannten „Inneren Emigration“. Sie waren klar gegen Hitler, konnten freilich unter der NS-Zensur nur „zwischen den Zeilen“ schreiben. Ihre Botschaft blieb verhüllt, sie musste entschlüsselt und interpretiert werden. Das gilt auch für ihre Rezeption in der Gegenwart. Das Wort „Innere Emigration“ als Bezeichnung für diese Literatur taucht bereits im November 1933 auf – überraschenderweise bei Thomas Mann, der sich diesen heimischen Dissidenten zugehörig fühlte, obwohl er damals schon im Ausland lebte. Zahlreiche Personen und mehrere Publikationsorgane rechneten sich zu dieser Gruppierung, Zeitschriften wie „Hochland“ und „Eckart“, regimekritische Briefe und Flugschriften – nicht zu reden von der Vielzahl unveröffentlichter Texte, die erst nach dem Ende der Diktatur erscheinen konnten (prominentestes Beispiel ist sicher Elisabeth Langgässers Roman „Das unauslöschliche Siegel“, der 1946 erschien). Unterirdische Literatur, oft handschriftlich weitergegeben, verbreitete sich vor allem in der Kriegszeit. Das zeigen etwa die rund 30 000 Soldatenbriefe im Nachlass Reinhold Schneiders in Karlsruhe; sie sind Antworten auf die halblegal im Elsass gedruckten Schriften des Autors, die sich gegen Ende der NS-Herrschaft bis in die Schützengräben und Luftschutzkeller hinein verbreitet hatten. Allein Schneiders „Vaterunser“ brachte es auf eine Auflage von einer halben Million.
Aber auch das in der NS-Zeit öffentlich Verlegte und Gedruckte mit christlichem Inhalt streute weit. Prosaschriften erlebten hohe Auflagen, oft weit über 100 000; Gedichte, voran das strenge Sonett, gewannen eine unerwartete Tagesaktualität; der historische Roman fand viele Leser. In Romanen und Novellen schlug sich Regimekritik nieder, meist in verdeckter Schreibweise, in historischen Bildern und Gegenbildern – so bei Werner Bergengruen, Gertrud von le Fort, Leo Weismantel, Stefan Andres, Erika Mitterer, Ricarda Huch.
Darüber liegen inzwischen zahlreiche Quelleneditionen, Neu- auflagen, Untersuchungen vor – die Literatur der Inneren Emigration reichte ja tief in die Nachkriegsjahre hinein. Von Joël Pottier, John Klapper, Frank-Lothar Kroll, Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund stammen wichtige Monografien. Aber niemand hat sich bisher an eine umfassende Gesamtdarstellung gewagt. Nun ist sie da – in einem großen Band aus der Feder eines Kundigen, des evangelischen Theologen und Religionspädagogen Gerhard Ringshausen, der sich seit vielen Jahren mit der Inneren Emigration befasst. Seine Untersuchung bilanziert das „widerständige Wort“ christlicher Autoren, zielt aber über die NS-Zeit hinaus, indem sie sowohl in die Anfänge christlicher Literatur in der Moderne zurückblickt wie auch die Aufnahme der Schriften der Inneren Emigration nach 1945 bei der Leserschaft und in der Forschung verfolgt.
Das Buch ist nicht ganz leicht zu lesen, es will studiert werden. Mit 700 Seiten und 3781 Anmerkungen gehört es zu den Schriften, die man nicht nur von vorn nach hinten, sondern auch seitenweise „von oben nach unten“ lesen muss – sowohl den Haupttext wie die darunter aufgeführten oft umfangreichen Nachweise und Kommentare. Doch wer die nötige Geduld aufbringt, dem erschließt sich eine Fülle wichtiger Entdeckungen. Sie führen über die bisherige Forschung hinaus, öffnen neue Zugänge und eine umfassende Sicht auf die Innere Emigration, die Literatur der in de NS-Zeit „Daheimgebliebenen“. Ringshausen trägt seine Bilanz in zwei Teilen vor. Der erste schildert die Bedingungen der Literatur im Dritten Reich und charakterisiert das Selbstverständnis der Dichter der Inneren Emigration. Der zweite benennt die Felder der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und fragt nach den leitenden Grundsätzen der Opponenten.
30 katholische und evangelische Autoren kommen in Ringshausens Auswahl in den Blick. Neben den berühmten stehen auch weniger bekannte wie Gertrud Bäumer, Otto von Taube, Johannes Kirschweng, Rüdiger Syberberg, Veronika Erdmann. Ihre Texte erweisen sich als Dokumente einer weit ausholenden, meist jedoch sorgfältig getarnten Regimekritik. Oft sind es nur wenige Zeilen, die in der Auseinandersetzung mit dem NS-Staat eine Rolle spielten. Ringshausen führt sie auf, beschreibt sie, weiß sie zu entschlüsseln. Dabei werden die vielfältigen Beziehungen zwischen den Gruppen des Widerstandes und den literarischen Dissidenten deutlich. Musterbilder zeigen Hans Scholl in Carl Muths Münchner Bibliothek; oder Jochen Klepper bei der Lektüre Reinhold Schneiders und Gertrud von le Forts. Die vielfältigen kulturellen und religiösen Verbindungen werden sichtbar, auch wenn der Einblick oft bruchstückhaft bleibt. Man erlebt die Wirkung der Netzwerke, den Austausch in Briefen, Telefonaten, Rezensionen, das, was Jochen Klepper den „eisernen Ring“ der „im Glauben Zusammengehörigen“ genannt hat.
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht natürlich der Kampf der NS-Partei gegen die Juden. Nicht zufällig stellt daher Ringshausen im zweiten Teil seiner Darstellung Gertrud von le Fort an die Spitze. Denn bei dieser Dichterin reicht die Verwahrung gegen Rassismus und Antisemitismus nachweisbar schon in die Weimarer Zeit zurück. Schockiert durch ein antisemitisches Plakat der Münchner NSDAP aus dem Jahr 1929, das mit den Worten „Juda verrecke!“ endete, schrieb sie ihren Roman „Der Papst aus dem Ghetto“. Es ist die früheste und deutlichste literarische Warnung vor der nach 1933 einsetzenden Judenhetze, dem Vorspiel zur Shoa.
Folgt man Ringshausen, so tritt die Wendung gegen Antisemitismus, Judenhetze, Judenverfolgung und die Verteidigung der Juden im christlichen Namen auch in den Schriften von Ricarda Huch, Reinhold Schneider, Werner Bergengruen deutlich als Kontinuum hervor. Zwar fragten sich nahezu alle Autoren nach dem Krieg selbstkritisch, ob sie mit ihren historisch verkleideten Plädoyers genug für die Juden getan hätten. Doch wie hatten sich andere Schriftsteller verhalten, und was hatten die Deutschen in ihrer Mehrheit getan, um das Unheil abzuwenden?
Zweifellos fand die Literatur der Inneren Emigration in der NS-Zeit ein Echo. Das zeigen vor allem die Millionenauflagen der Bücher. Ein Grund lag auch darin, dass die Schriftsteller unter der NS-Herrschaft das verhüllende Schreiben gelernt hatten. Aber die Leserinnen und Leser hatten im Gegensinn auch das entschlüsselnde Lesen gelernt – und so bildete sich rasch eine neue Form literarisch-politischer Kommunikation heraus. Doch nach 1945 geriet die Literatur der Daheimgebliebenen unter Rechtfertigungsdruck. Thomas Mann, nunmehr ganz auf der Seite der „Äußeren Emigration“, entdeckte in ihren Schriften einen „Geruch von Blut und Schande“. Bertolt Brecht vermisste in der Literatur der christlichen Autoren die Handhabbarkeit als „Waffe“. Literaturkritiker tadelten das christlich-konservative Weltbild, die Rückzüge in Allegorien und historische Bilder, die „Flucht nach innen“. Dabei war es den Daheimgebliebenen doch auf das „Bleibende“ angekommen: das Gewissen, die Gerechtigkeit, die Bewahrung der Menschenwürde, die europäische Gemeinsamkeit, die christliche Tradition. In der Tat kann man fragen, ob nicht ein offen geäußerter, von vielen Seiten getragener Widerspruch angesehener Autoren die Kraft gehabt hätte, das NS-Regime zu tangieren – ein Regime, das ja weder über konsistente Ideen noch über bedeutende Autoren verfügte.
Doch der Blick auf die wenigen Fälle öffentlicher Regimekritik wirkt ernüchternd: Ernst Wiechert kam nach mutigen Äußerungen in KZ-Haft und wurde nach der Entlassung von Goebbels mit „physischer Vernichtung“ bedroht. Reinhold Schneider, des Hochverrats beschuldigt, konnte nur durch die Intervention seiner Ärzte vor einem Prozess mit sicherer Todesfolge gerettet werden.
Immerhin hat sich in der Gegenwart der Blick auf die Innere Emigration verändert. Man ist heute bereit, dem indirekten kritischen Sprechen in totalitären Regimen einen höheren Eigenwert zuzugestehen. Die Zahl der Diktatoren hat ja nicht abgenommen, und Regimekritik zieht in vielen Staaten der heutigen Welt Verfolgung, Gefangenschaft, Tod nach sich. Es kommt hinzu, dass heute auch Literaturkritiker und Literaturhistoriker die Kunst poetischer Camouflage unter totalitären Bedingungen besser zu würdigen wissen als früher. Viele sehen in verhüllten Schreibweisen nicht mehr nur einfach ein politisches Sich-Wegducken. Schreiben „zwischen den Zeilen“ gilt vielmehr als eine – unter bestimmten Umständen unvermeidliche – literarische Äußerungsform.
Zweifellos kommt dieser Wandel Gerhard Ringshausen in seinem Buch zugute. Er kann einen neuen Blick auf alte, heute so gut wie vergessene Schriften werfen, die sich in der Zeit nach 1945 für fast zwei Jahrzehnte hoher Wertschätzung und Verbreitung erfreuten; er kann Zuordnungen klären (vor allem bei Zweifelsfällen wie Ina Seidel und Gertrud Fussenegger) und er kann vorschnelle Urteile revidieren. Vor allem gelingt es ihm, den Blick auch wieder auf die Ästhetik zu richten, indem er nach dem literarisch-künstlerischen Gewicht der Schriften der Inneren Emigration fragt.
Mit anderen Worten: Es macht den Rang dieser Autoren aus, dass nicht wenige ihrer Schriften unter den widrigen Umständen der Zeit klassischen Rang erreichten. Es bleibt ihre Tragik, dass ihr Widerstand unvermeidlich „Literatur“ bleiben musste. Die Autoren der Inneren Emigration warnten die Mitbürger, sie beschworen das Unheil der NS-Herrschaft frühzeitig, kenntnisreich und engagiert. Verhindern konnten sie das Unheil nicht.
Gertrud von le Fort schrieb
die früheste literarische
Warnung vor der Judenhetze
Thomas Mann entdeckte in
ihren Schriften einen
„Geruch von Blut und Schande“
Gerhard Ringshausen: Das widerständige
Wort. Christliche
Autoren gegen das
„Dritte Reich“. Bebra Verlag, Berlin 2022.
700 Seiten, 56 Euro.
Mutlose „Flucht nach innen“ oder Rettung von Gewissen, Gerechtigkeit, Menschenwürde und christlicher Tradition? Auch Ricarda Huch war regimekritisch, verließ Deutschland während der NS-Zeit jedoch nicht.
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