Im Körper von Johannes Schneider regiert der Krebs. Auch wenn seine Familie sich rührend kümmert, es besteht wenig Hoffnung. Er fürchtet sich vor dem, was kommt, und davor, daß nichts bleibt von ihm und seinem Leben. Im Schreiben geht er gegen die Angst und das Vergessen an und träumt sich zurück in seine Kindheit im Rheinischen, an einen geradezu mythischen Ort - ins Wiesenhaus. Hier blüht das Leben wie die Landschaft. Doch bringt der Blick zurück auch Verdrängtes ans Licht, unerwartet bekommt das Familienidyll erste Risse. Langsam, aber sicher schreibt Schneider sich voran, hin zur Wahrheit darüber, was damals wirklich geschah und wie er zu dem wurde, der er heute ist. Mit großer Empathie erzählt Christoph Schmitz von einem Mann, der sich erinnert, um eine Zukunft zu haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2012Es liegt nicht in unserer Hand
Christoph Schmitz erinnert sich an gelebtes Leben im Zeichen des Sterbens
Die Zeit zwischen Kranksein und Sterben ist die schwierigste des Lebens. Vor allem ist sie besonders unstet in ihrem Verlauf, einmal scheint sie dem Ende zuzurasen, dann wieder unerträglich zu schleichen oder ganz still zu stehen. Thomas Mann hat im "Zauberberg" zahllose Varianten solcher Zeiterlebnisse zwischen Leben und Tod festgehalten. Doch was soll man tun, wenn die Zeit zwischen jetzt und dem Ende absehbar, wenn auch nicht messbar ist?
Erzählen lautet die Antwort in Christoph Schmitz' Romandebüt "Das Wiesenhaus". Zehn von vierzehn Kapiteln beginnen mit dem Satz: "Bevor ich sterbe, muss ich erzählen." Der Mann, der hier spricht, ist 1962 geboren. In seinem Darm und seiner Lunge wütet der Krebs. Geschwächt liegt er da, gepflegt von seiner Frau und aufgemuntert von seinen beiden Kindern. Gefesselt ans Bett erinnert er schreibend seine Kindheit und Jugend sowie die tradierten Geschichten seit seinen Urgroßeltern. Hier überlässt sich einer dem breiten Erlebnisstrom des gelebten Lebens, ohne Hast und ohne Zwang, denn eigentlich ist er zu nichts anderem mehr in der Lage. Dahinter steckt das "Geheimnis des Sterbens: Es liegt nicht in unserer Hand".
Erzählt wird dieser letztlich noch kurze Lebenslauf ohne Chronologie und Plan. Nicht auf die festgehaltenen Geschichten kommt es an, sondern auf die allmähliche Verfertigung der Gedanken und Assoziationen beim Schreiben, angeregt durch gefundene Gegenstände und Fotografien. Der Erzähler selbst ist erstaunt, "wie hervorsprudelt, was so weit zurückliegt. Alles bricht auf." Seine Familie ist in einer kleinen Stadt am Rhein zu Hause, am Fuße des Westerwalds, in einer sehr katholischen Gegend. Hier baute einst der Urgroßvater, tätig im örtlichen Schieferbergbau, ein Haus, das weiter vererbt wurde. Eine wichtige Rolle spielen die Großmutter sowie ihr Bruder und dessen Sohn: Großonkel Ludwig, Lutt genannt, der im Ersten Weltkrieg die deutsche Kronkolonie Kiautschou in China verteidigte, in japanische Gefangenschaft geriet und 1972 starb; und sein Sohn Joseph, Jupp genannt, der die Familiensattlerei vom Vater übernahm und bis 1993 lebte.
Onkel Jupp ist die eigentliche Zentralfigur dieser Familiengeschichte. Für den Erzähler ist er nicht nur wichtigster Vermittler der Vergangenheit, dieser Lebemann übernimmt auch die Rolle des Kinderfreundes und abenteuerlichen Spielgesellen. Allerdings hat Jupp auch dunkle, undurchschaubare Seiten: Mit seinem roten Käfer tourt er mit den Kindern zum Angeln und Baden durch die Gegend, bringt sie wiederholt in Lebensgefahr, aus der er sie dann wieder errettet, führt sie tagsüber in Kneipen mit Glücksspielautomaten und durchbricht überhaupt jede Ordnung. Vor allem verschwendet er aber restlos das Erbe der Großmutter, zu dem auch das Grundstück mit dem Titel gebenden Wiesenhaus gehört.
Dieser Platz, hoch über dem Rheintal, von Onkel Lutt einst als Lustgarten für seine geheimen Liebschaften angelegt, wird für den Erzähler zum Utopos, zum geschützten Gegenort der Träume. Hier schlummern die wichtigsten Kindheitserinnerungen, hier erfährt er von der Großmutter und den beiden Onkeln die Familiengeschichten, hier lebt er während des Studiums in Bonn - auf einem verborgenen Landsitz in Fahrraddistanz. Immer tiefer dringt der Mann auf dem Krankenlager in das eigene Leben vor, das jedoch in jeder Hinsicht durchschnittlich bleibt.
Die aktive Erinnerungsarbeit mag indes Wunder wirken: "Ein plötzlicher Tod scheint für mich nicht vorgesehen zu sein", "Vielleicht sterbe ich ja wirklich nicht so bald", heißt es zu Beginn des vorletzten und letzten Kapitels. Der künstliche Darmausgang kann "zurückverlegt" werden, die vier Krebsnester in der Lunge lassen sich vielleicht veröden.
Es gibt Hoffnung. Die Schlusssätze lauten: "Ich warte. Ich warte." Ohne Pathos, Selbstmitleid oder therapeutisches Sendungsbewusstsein geht damit eine sensible, stille Aufzeichnung zu Ende. Ihre Verbindung zu der Historia morbi bleibt allerdings vage, der nahegelegte Schluss, Kontemplation bewirke Heilung, wird zu wenig entwickelt. Der umgekehrte Gedanke, mangelnde Selbstauseinandersetzung könne Krankheit fördern, war Thema von Fritz Zorns radikaler Autobiographie "Mars" (1977). Das Buch rüttelte als Kampfansage an den Krebs und dessen mögliche psychische Mitverursachung auf: "Ich erkläre mich als im Zustand des totalen Krieges" steht dort als letzter Satz. Drei Monate nach dessen Niederschrift erlag der zweiunddreißigjährige Verfasser seiner Krankheit.
ALEXANDER KOSENINA
Christoph Schmitz: "Das Wiesenhaus".
Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 197 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Schmitz erinnert sich an gelebtes Leben im Zeichen des Sterbens
Die Zeit zwischen Kranksein und Sterben ist die schwierigste des Lebens. Vor allem ist sie besonders unstet in ihrem Verlauf, einmal scheint sie dem Ende zuzurasen, dann wieder unerträglich zu schleichen oder ganz still zu stehen. Thomas Mann hat im "Zauberberg" zahllose Varianten solcher Zeiterlebnisse zwischen Leben und Tod festgehalten. Doch was soll man tun, wenn die Zeit zwischen jetzt und dem Ende absehbar, wenn auch nicht messbar ist?
Erzählen lautet die Antwort in Christoph Schmitz' Romandebüt "Das Wiesenhaus". Zehn von vierzehn Kapiteln beginnen mit dem Satz: "Bevor ich sterbe, muss ich erzählen." Der Mann, der hier spricht, ist 1962 geboren. In seinem Darm und seiner Lunge wütet der Krebs. Geschwächt liegt er da, gepflegt von seiner Frau und aufgemuntert von seinen beiden Kindern. Gefesselt ans Bett erinnert er schreibend seine Kindheit und Jugend sowie die tradierten Geschichten seit seinen Urgroßeltern. Hier überlässt sich einer dem breiten Erlebnisstrom des gelebten Lebens, ohne Hast und ohne Zwang, denn eigentlich ist er zu nichts anderem mehr in der Lage. Dahinter steckt das "Geheimnis des Sterbens: Es liegt nicht in unserer Hand".
Erzählt wird dieser letztlich noch kurze Lebenslauf ohne Chronologie und Plan. Nicht auf die festgehaltenen Geschichten kommt es an, sondern auf die allmähliche Verfertigung der Gedanken und Assoziationen beim Schreiben, angeregt durch gefundene Gegenstände und Fotografien. Der Erzähler selbst ist erstaunt, "wie hervorsprudelt, was so weit zurückliegt. Alles bricht auf." Seine Familie ist in einer kleinen Stadt am Rhein zu Hause, am Fuße des Westerwalds, in einer sehr katholischen Gegend. Hier baute einst der Urgroßvater, tätig im örtlichen Schieferbergbau, ein Haus, das weiter vererbt wurde. Eine wichtige Rolle spielen die Großmutter sowie ihr Bruder und dessen Sohn: Großonkel Ludwig, Lutt genannt, der im Ersten Weltkrieg die deutsche Kronkolonie Kiautschou in China verteidigte, in japanische Gefangenschaft geriet und 1972 starb; und sein Sohn Joseph, Jupp genannt, der die Familiensattlerei vom Vater übernahm und bis 1993 lebte.
Onkel Jupp ist die eigentliche Zentralfigur dieser Familiengeschichte. Für den Erzähler ist er nicht nur wichtigster Vermittler der Vergangenheit, dieser Lebemann übernimmt auch die Rolle des Kinderfreundes und abenteuerlichen Spielgesellen. Allerdings hat Jupp auch dunkle, undurchschaubare Seiten: Mit seinem roten Käfer tourt er mit den Kindern zum Angeln und Baden durch die Gegend, bringt sie wiederholt in Lebensgefahr, aus der er sie dann wieder errettet, führt sie tagsüber in Kneipen mit Glücksspielautomaten und durchbricht überhaupt jede Ordnung. Vor allem verschwendet er aber restlos das Erbe der Großmutter, zu dem auch das Grundstück mit dem Titel gebenden Wiesenhaus gehört.
Dieser Platz, hoch über dem Rheintal, von Onkel Lutt einst als Lustgarten für seine geheimen Liebschaften angelegt, wird für den Erzähler zum Utopos, zum geschützten Gegenort der Träume. Hier schlummern die wichtigsten Kindheitserinnerungen, hier erfährt er von der Großmutter und den beiden Onkeln die Familiengeschichten, hier lebt er während des Studiums in Bonn - auf einem verborgenen Landsitz in Fahrraddistanz. Immer tiefer dringt der Mann auf dem Krankenlager in das eigene Leben vor, das jedoch in jeder Hinsicht durchschnittlich bleibt.
Die aktive Erinnerungsarbeit mag indes Wunder wirken: "Ein plötzlicher Tod scheint für mich nicht vorgesehen zu sein", "Vielleicht sterbe ich ja wirklich nicht so bald", heißt es zu Beginn des vorletzten und letzten Kapitels. Der künstliche Darmausgang kann "zurückverlegt" werden, die vier Krebsnester in der Lunge lassen sich vielleicht veröden.
Es gibt Hoffnung. Die Schlusssätze lauten: "Ich warte. Ich warte." Ohne Pathos, Selbstmitleid oder therapeutisches Sendungsbewusstsein geht damit eine sensible, stille Aufzeichnung zu Ende. Ihre Verbindung zu der Historia morbi bleibt allerdings vage, der nahegelegte Schluss, Kontemplation bewirke Heilung, wird zu wenig entwickelt. Der umgekehrte Gedanke, mangelnde Selbstauseinandersetzung könne Krankheit fördern, war Thema von Fritz Zorns radikaler Autobiographie "Mars" (1977). Das Buch rüttelte als Kampfansage an den Krebs und dessen mögliche psychische Mitverursachung auf: "Ich erkläre mich als im Zustand des totalen Krieges" steht dort als letzter Satz. Drei Monate nach dessen Niederschrift erlag der zweiunddreißigjährige Verfasser seiner Krankheit.
ALEXANDER KOSENINA
Christoph Schmitz: "Das Wiesenhaus".
Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 197 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wie Christopher Schmitz in seinem Romandebüt "Das Wiesenhaus" seinen an Krebs sterbenden, erst 50-jährigen Protagonisten ganz ohne Pathos und Selbstmitleid auf sein Leben zurückblicken lasse, ringt Rezensent Alexander Kosenina einige Anerkennung ab. Vom Sterbebett aus erinnere sich der Familienvater an die überlieferten Geschichten seiner Urgroßeltern, seinen bewunderten Onkel Jupp, der ihn nicht nur zum Angeln am Rhein, sondern auch zum Glücksspiel mitnahm und vor allem an das titelgebende Wiesenhaus, das zum Ort der Träume und Kindheitserinnerungen gerät. Der Kritiker liest hier die Geschichte eines ganz durchschnittlichen Lebens, das aber mit viel Mut zur persönlichen Auseinandersetzung erzählt wird. Nach der Lektüre dieses "sensiblen" Romans bleibt er sogar mit ein wenig Hoffnung zurück.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»In seinem Debütroman erzählt er abwechselungsreich und empathisch von vergangenen Tagen in der jungen Bundesrepublik. Vor allem vermag er seinen Ton wunderbar den Gedankenbildern seines kindlichen Protagonisten anzupassen. Und so entsteht ein Potpourri an heiteren bis ernsten Geschichten, als es um eingeschliffene Traditionen geht, die von der jüngeren Generation allmählich durchbrochen werden.« belletristik-couch.de