In dem Dorf, in dem Julien und seine Schwester Helene eine behütete Kindheit verbringen, taucht eines Tages ein Mädchen auf, und plötzlich ist nichts mehr so, wie es war. Das Mädchen Lydie hat beschlossen, der böse Dämon der Halbwüchsigen zu werden. Die beiden verfallen ihr. Hilflos sieht die Mutter mit an, wie ihre Kinder ihr entgleiten. Lydia hat sie in der Hand, und das führt unweigerlich ins Verderben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.1999Seelenruhe mit frischer Sahne
Anne Hébert rührt an "Das wilde Herz des Flusses"
"Wir werden in prächtige Städte reiten / Flammend nackt / Auf Rössern des Schreckens": Dass der poetische Gaul mit Julien durchgeht, hat triftige Gründe. Der Sechzehnjährige, der in einem kanadischen Kaff unter Langeweile, pubertären Wallungen und einer dominanten Mutter leidet, scharrt so romantisch unbefriedigt mit seinen Hufen wie Madame Bovary. Und die siebzehnjährige Lydie hält, wenn nicht nackt, so doch schamlos und erhaben wie Lady Godiva auf einem gestohlenen Apfelschimmel Einzug in sein Dorf und in sein Herz. Ausgestattet mit den Attributen der Schlange im Paradies, spricht das Collegegirl im Jahr 1934 wie der leibhaftige Versucher in der Wüste: Sie will, Gott und Teufel zugleich herausfordernd, ihr armes, krauses "Lämmchen" groß und stark wie sein Mutterschaf machen, mit anderen Worten: zum Mann.
Der Roman der dreiundachtzig Jahre alten frankokanadischen Autorin Anne Hébert erinnert an eine Unio mystica aus Julien Greens schwülem Katholizismus und Faulkners alttestamentarischer Epik: Ein unschuldiger Knabe vom Land gerät in den Bann einer charismatischen, herzlosen Städterin - in eine babylonische Schuldknechtschaft, aus der er sich ein Jahrzehnt später in Paris befreien wird. Ein Gefangener war Julien von Anfang an: Seine Mutter Pauline erdrückte ihn mit ihrer eifersüchtigen Liebe; der Vater hatte sich aus dem Staub gemacht. Um so bereitwilliger läßt sich der unglückliche Muttersohn auf den "bösen Dämon" ein. Pauline kämpft einen aussichtslosen Kampf. Nicht einmal, als seine jüngere Schwester durch Lydies Schuld im "wilden Herz des Flusses" ertrinkt, kann Julien dem geheimnisvollen Mädchen abschwören. Er schreibt Gedichte und deponiert Liebesbriefe in toten Briefkästen; am Ende verbringt er, in aller Unschuld, eine Nacht mit ihr in der Scheune, um sich im Morgenlicht in sein Kinderbett zu schleichen.
Was für den Stallknecht ein schicksalhafter Parforceritt, ist für die stolze Reiterin nur die Dressur eines männchenmachenden Bauerngauls. Lydie hat mit der Macht der Mutter auch sein Herz gebrochen. Zwar verfällt er aus dem lyrischen Galopp bald in den prosaischen Trab und verbindet sich, inzwischen Postbeamter, mit einem gutmütigen Frauchen. Aber Aline, weich, mollig und geheimnislos, kann seine Erinnerungen nicht verdrängen. In Paris, von jeher die Stadt seiner Träume, folgt er errötend den Spuren einer Passantin, die ihn an Lydie erinnert und zu einem Abenteuer einlädt. Zum Mann gereift, aber von postkoitaler Tristesse und Heimweh übermannt, erreicht Julien die Nachricht, daß Aline ein Kind von ihm erwartet. Endlich erlöst von seinen Flausen, kehrt Julien in den Schoß von Heimat und Muttertum zurück, um "in aller Seelenruhe eine Familie zu gründen".
Anne Hébert gilt als eine der bedeutendsten kanadischen Autorinnen; für "L'enfant chargé de songes", wie der Roman im Original hieß, bekam sie einen der höchsten kanadischen Literaturpreise. Allein, was sich - schon im deutschen Titel - wie ein Groschenroman liest, ist über weite Strecken auch einer. Mütterlich besorgt und christlich barmherzig beugt sich die Autorin über ihren Helden, ohne ihn zum Leben erwecken zu können. "Das wilde Herz des Flusses" weist sich schon durch seine aufdringliche religiöse Metaphorik und Symbolik als eine Art moderne Märtyrerlegende aus. Lydies Lämmchen klagt über seine Vertreibung aus dem Paradies wie Adam, Jeremias und Hiob zusammen; Hélène fragt mit Kain "Soll ich meines Bruders Hüter sein?", und Aline, mit einer "grenzenlosen Fähigkeit zur Anbetung" begnadet, redet erst recht in Engelszungen. Wir hören vom "heiligen Kern" erwachender Schönheit, von blutenden Herzen, Verdammnis und Gnade; selbst die Schatten auf Juliens Seele nehmen die Gestalt des Kreuzes oder eines brennenden Dornbuschs an. Daß Anne Hébert ihre Passionsgeschichte mit literarischen Zitaten, religiösem Pathos und leider auch frommem Kitsch verzierte, ließe sich noch verzeihen, wäre noch hinzunehmen. Nicht aber, dass das erbauliche Hohelied von Hybris und Entsagung so im Ungefähren und - übrigens auch sprachlich - Ungenauen bleibt: Wenn Julien in seinen Büchern liest, wird er in "ein grenzenloses Universum entrückt, reich an seltsamen Empfindungen und erstaunlichen Figuren". Wenn er träumt, erscheinen vor seinen Augen "verstreute Bausteine des gelobten Landes". "Doch er quält sich, das Leben ist nicht so einfach . . . Zu viel Aufruhr in ihm, zu viele widersprüchliche Gedanken erschüttern ihn." Bei aller Ekstase: Ein bischen weniger mystische Verzückung und etwas mehr Aufmerksamkeit für die profanen "Nichtigkeiten des Alltags" hätten dem schmalen Roman gut zu Gesicht gestanden. So aber kehren die flammenden Rösser des Schreckens zuletzt als kaltblütige, lahme Schindmähren in ihre Stallungen zurück, um daselbst ihr Gnadenbrot zu verzehren.
MARTIN HALTER
Anne Hébert: "Das wilde Herz des Flusses". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Christian Rochow. Residenz Verlag, Salzburg 1999, 136 S., geb., 36,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anne Hébert rührt an "Das wilde Herz des Flusses"
"Wir werden in prächtige Städte reiten / Flammend nackt / Auf Rössern des Schreckens": Dass der poetische Gaul mit Julien durchgeht, hat triftige Gründe. Der Sechzehnjährige, der in einem kanadischen Kaff unter Langeweile, pubertären Wallungen und einer dominanten Mutter leidet, scharrt so romantisch unbefriedigt mit seinen Hufen wie Madame Bovary. Und die siebzehnjährige Lydie hält, wenn nicht nackt, so doch schamlos und erhaben wie Lady Godiva auf einem gestohlenen Apfelschimmel Einzug in sein Dorf und in sein Herz. Ausgestattet mit den Attributen der Schlange im Paradies, spricht das Collegegirl im Jahr 1934 wie der leibhaftige Versucher in der Wüste: Sie will, Gott und Teufel zugleich herausfordernd, ihr armes, krauses "Lämmchen" groß und stark wie sein Mutterschaf machen, mit anderen Worten: zum Mann.
Der Roman der dreiundachtzig Jahre alten frankokanadischen Autorin Anne Hébert erinnert an eine Unio mystica aus Julien Greens schwülem Katholizismus und Faulkners alttestamentarischer Epik: Ein unschuldiger Knabe vom Land gerät in den Bann einer charismatischen, herzlosen Städterin - in eine babylonische Schuldknechtschaft, aus der er sich ein Jahrzehnt später in Paris befreien wird. Ein Gefangener war Julien von Anfang an: Seine Mutter Pauline erdrückte ihn mit ihrer eifersüchtigen Liebe; der Vater hatte sich aus dem Staub gemacht. Um so bereitwilliger läßt sich der unglückliche Muttersohn auf den "bösen Dämon" ein. Pauline kämpft einen aussichtslosen Kampf. Nicht einmal, als seine jüngere Schwester durch Lydies Schuld im "wilden Herz des Flusses" ertrinkt, kann Julien dem geheimnisvollen Mädchen abschwören. Er schreibt Gedichte und deponiert Liebesbriefe in toten Briefkästen; am Ende verbringt er, in aller Unschuld, eine Nacht mit ihr in der Scheune, um sich im Morgenlicht in sein Kinderbett zu schleichen.
Was für den Stallknecht ein schicksalhafter Parforceritt, ist für die stolze Reiterin nur die Dressur eines männchenmachenden Bauerngauls. Lydie hat mit der Macht der Mutter auch sein Herz gebrochen. Zwar verfällt er aus dem lyrischen Galopp bald in den prosaischen Trab und verbindet sich, inzwischen Postbeamter, mit einem gutmütigen Frauchen. Aber Aline, weich, mollig und geheimnislos, kann seine Erinnerungen nicht verdrängen. In Paris, von jeher die Stadt seiner Träume, folgt er errötend den Spuren einer Passantin, die ihn an Lydie erinnert und zu einem Abenteuer einlädt. Zum Mann gereift, aber von postkoitaler Tristesse und Heimweh übermannt, erreicht Julien die Nachricht, daß Aline ein Kind von ihm erwartet. Endlich erlöst von seinen Flausen, kehrt Julien in den Schoß von Heimat und Muttertum zurück, um "in aller Seelenruhe eine Familie zu gründen".
Anne Hébert gilt als eine der bedeutendsten kanadischen Autorinnen; für "L'enfant chargé de songes", wie der Roman im Original hieß, bekam sie einen der höchsten kanadischen Literaturpreise. Allein, was sich - schon im deutschen Titel - wie ein Groschenroman liest, ist über weite Strecken auch einer. Mütterlich besorgt und christlich barmherzig beugt sich die Autorin über ihren Helden, ohne ihn zum Leben erwecken zu können. "Das wilde Herz des Flusses" weist sich schon durch seine aufdringliche religiöse Metaphorik und Symbolik als eine Art moderne Märtyrerlegende aus. Lydies Lämmchen klagt über seine Vertreibung aus dem Paradies wie Adam, Jeremias und Hiob zusammen; Hélène fragt mit Kain "Soll ich meines Bruders Hüter sein?", und Aline, mit einer "grenzenlosen Fähigkeit zur Anbetung" begnadet, redet erst recht in Engelszungen. Wir hören vom "heiligen Kern" erwachender Schönheit, von blutenden Herzen, Verdammnis und Gnade; selbst die Schatten auf Juliens Seele nehmen die Gestalt des Kreuzes oder eines brennenden Dornbuschs an. Daß Anne Hébert ihre Passionsgeschichte mit literarischen Zitaten, religiösem Pathos und leider auch frommem Kitsch verzierte, ließe sich noch verzeihen, wäre noch hinzunehmen. Nicht aber, dass das erbauliche Hohelied von Hybris und Entsagung so im Ungefähren und - übrigens auch sprachlich - Ungenauen bleibt: Wenn Julien in seinen Büchern liest, wird er in "ein grenzenloses Universum entrückt, reich an seltsamen Empfindungen und erstaunlichen Figuren". Wenn er träumt, erscheinen vor seinen Augen "verstreute Bausteine des gelobten Landes". "Doch er quält sich, das Leben ist nicht so einfach . . . Zu viel Aufruhr in ihm, zu viele widersprüchliche Gedanken erschüttern ihn." Bei aller Ekstase: Ein bischen weniger mystische Verzückung und etwas mehr Aufmerksamkeit für die profanen "Nichtigkeiten des Alltags" hätten dem schmalen Roman gut zu Gesicht gestanden. So aber kehren die flammenden Rösser des Schreckens zuletzt als kaltblütige, lahme Schindmähren in ihre Stallungen zurück, um daselbst ihr Gnadenbrot zu verzehren.
MARTIN HALTER
Anne Hébert: "Das wilde Herz des Flusses". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Christian Rochow. Residenz Verlag, Salzburg 1999, 136 S., geb., 36,80 DM.
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