Volker Braun wurde in diesem Jahr mit dem "Georg-Büchner-Preis" ausgezeichnet. In "Das Wirklichgewollte" erzählt er Geschichten, die Unerträgliches und zugleich Unlösbares schildern. Geschichten wie diese: Giorgio Badini genießt mit seiner Frau den Ruhestand auf einem toskanischen Landgut. Aber die Alten sehen plötzlich ihr Haus von einem jungen Paar besetzt - Flüchtlinge oder Verbrecher? Darf man ihnen helfen oder muss man sie fürchten?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Die Hellwache wurde nicht kontaktiert
Volker Braun läßt den Metaphysiker und den Utopisten um die Wette rennen / Von Peter Demetz
Auf dem schwankenden Boden einer veränderten Gesellschaft sind alte Formen unbrauchbar, und es spricht für die Glaubwürdigkeit Volker Brauns, daß er sie nach der Liquidation der DDR noch seltener braucht als vorher. Er hat, unter den Betroffenen, seine besonderen Schwierigkeiten, denn er hoffte auf die Wende, die ihn bitter enttäuschte - nach einem schwebenden Moment, "Volkseigentum plus Demokratie" (in seinen eigenen Worten), war dann bald, unter Zustimmung von mehr als achtzig Prozent seiner ehemaligen Mitbürger, alles anders und nicht so, wie er es wünschte.
Er war ehemals unter jenen jungen Poeten gewesen, die (nach der Zerstörung der alten Sozialdemokratie) reinen Tisch für den Sozialismus forderten, aber in der Zeit des Einmarsches der Warschauer Truppen in Prag begann er an einem System zu zweifeln, das die Menschen manipulierte, ohne auf ihre Wünsche hinzuhören; und seine Illusion von der innigen "Verbundenheit der (tschechischen) Partei mit ihrem Volke" drängte ihn in eine merkwürdige Zwischenwelt, in welcher er seiner eigenen "verwirrten Partei" ins Gewissen zu reden hoffte, auch er halb geduldet, halb preisgekrönt, und nie gewiß, wann eines seiner Stücke aufgeführt werden durfte. Er erzählte manche seiner Erfahrungen von 1989 auf traditionelle Art, so in "Worauf es hinausläuft" (1992), einer lesbaren Geschichte über einen "abgewickelten" Schulrat, aber für seine Entwicklung war es entscheidender, daß er die narrativen Möglichkeiten des zerfleddernden Monologs, der sarkastischen Epigrammatik, "der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt", oder eine Syntax bodenloser Sätze erprobte, um das noch "Ungewisse" zu zeigen.
Sein neuer Prosaband "Das Wirklichgewollte" besteht aus drei Stücken, die ich als short stories zu lesen beginnne, ehe ich nach dem dritten Satz begreife, daß es der Autor strikt ablehnt, mir Begebenheiten, Figuren und Sinn ins Haus zu liefern, und mir lieber Schwierigkeiten bereitet, um mich vor voreiligen Schlußfolgerungen zu bewahren. Diese Prosastücke sind alle Variationen auf ein Thema, nur welches, das ist nicht leicht zu bestimmen - jedenfals geht eine entleerte Lebenswelt zu Ende, in der Toscana, in Sibirien und in einem brasilianischen Architekturbüro; das Neue ist gewaltsam und hat eine geradezu sinnliche Anziehungskraft. Ein pensionierter italienischer Universitätsprofessor (sein Vater war Maurer, für Braun immer eine mythische Figur) hat sich mit seiner Frau auf sein Landgut zurückgezogen, seine Vorlesungen über die Revolution sind längst schal geworden, und findet sein Haus plötzlich von zwei albanischen Flüchtlingen okkupiert; ein alternder sowjetischer Ingenieur lebt mit seiner Frau in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon, und nicht weit davon ein Haufen "vollgelaufener" Arbeitsloser, "der Abhub der Bohrlöcher", wilde Leute ohne Ordnung und Gesetz; und in der dritten Geschichte ein alter brasilianischer Stadtplaner, der einen verwahrlosten Jungen von der Straße holt, um ihm Lesen und Schreiben beizubringen, und sich plötzlich mit einer ganzen Street-Gang konfrontiert findet, die in sein Büro einbricht. Was wird geschehen? Gerade dort, wo die abgelebte Ordnung mit ihren Widersachern dramatisch aneinandergerät, bricht der Text ab, ohne Interpunktion, und entläßt uns, die Lesenden, in die frostige Freiheit unseres ungegängelten Denkens. Wider einmal, wie in Brauns "Unvollendeter Geschichte" (1975), die ihn zum ersten Male, auch im Westen berühmt machte, geht eine Story zu Ende und andere, in unserem Kopfe, beginnen.
Nicht ganz unberechtigt, den Professor, den Ingenieur und den Architekten als gescheiterte Menschen zu sehen, denen Alter, Erfahrung und Geschichte übel mitgespielt haben und die nicht mehr den Mut aufbringen, ihre Hoffnungen und Entwürfe, das Wirklichgewollte, zu verteidigen, anstatt zu resignieren; der arbeitslose Sowjetingenieur, auch ein überflüssiger Mensch, hebt die geladene Waffe, vielleicht gegen sich selbst, weil er an seiner Leere verzweifelt, vielleicht gegen einen Totschläger, der gerichtet werden sollte. Also DDR-Endzeit, schlappe Ossis und harte Wessis, die über die Müden hinstampfen?
Das ist es aber nicht, oder ist es nicht ganz, denn Volker Braun unterminiert jede simple Allegorie durch die unerwartete Lebhaftigkeit seiner wenigen Figuren, die selbst inmitten des Niedergangs einen Augenblick beweglichen Gefühls für sich retten, durch und über den Text hinaus. Die alternde italienische Professorenfrau will unbedingt den nackten Rücken des Albaners berühren, "ihre Hand lag auf seiner jungen Haut wie auf der Folter", und Warwara, die fünfzigjährige Frau des Ingenieurs, geht morgens nicht ins Büro, sondern zu einem freundlichen Lehrer (ebenfalls arbeitslos), der Gorki und Sergej Tretjakow (Brauns Lieblingskritiker) zitiert, warmes Wasser in die Badewanne einlaufen läßt (seine Leitung funktioniert) und ihr Rücken und Brüste einseift, "aber sie saß so würdig da, daß er formal verfuhr".
Die ideologische Apokalypse ist, in diesen Texten zumindest, eine Angelegenheit der Männer eher als der Frauen, die ihre Ansprüche an das Leben nicht so leicht aufgeben.
Das mag der Grund sein, warum in der dritten Story (ein alter Mann und die Favelas-Skinheads unter sich) der erhobene Zeigefinger des Erzählers, das älteste Erbübel der DDR-Literatur, die Spontaneität verscheucht. Brauns Sprache hat ja ihre besondere Attraktionskraft, denn er schreibt oft in einer komplizierten Kleistschen Syntax, um das Zugleich widersprüchlicher Verhältnisse in einer einzigen langen Wortreihe darzustellen, und fällt dann wieder spielerisch ins Alltägliche ("er kroch fröstelnd wieder neben die Frau, ohne die Hellwache zu kontaktieren") oder nutzt bautechnische Terminologien (Düker), die aus der Bitterfelder Epoche stammen und uns andere dazu zwingen, nach dem Duden (warum nicht) zu greifen. Das fehlt in der südamerikanischen Geschichte. Der alte Architekt hat noch, ungestört vom Erzähler, seine Gelegenheit, nach dem Sinn der Welt zu fragen, ehe die brutalen Schläger in seine Türe brechen, und er polemisiert sogar noch, politisch höchst korrekt, gegen die Globalisierung (als ob die linken Utopien nicht ihre eigenen Globalisierungen erzwingen wollten). Hier gerät der Autor noch einmal mit dem Utopisten in sich selbst in Konflikt, aber in den wunderbarsten Momenten seiner wieder unvollendeten Geschichten hat der Künstler, wenn ich ihn so nennen darf, den Metaphysiker, der aufs Ganze geht, anstatt dem Fragmente und dem Fragwürdigen zu vertrauen, längst hinter sich gelassen.
Volker Braun: "Das Wirklichgewollte". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 55 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Volker Braun läßt den Metaphysiker und den Utopisten um die Wette rennen / Von Peter Demetz
Auf dem schwankenden Boden einer veränderten Gesellschaft sind alte Formen unbrauchbar, und es spricht für die Glaubwürdigkeit Volker Brauns, daß er sie nach der Liquidation der DDR noch seltener braucht als vorher. Er hat, unter den Betroffenen, seine besonderen Schwierigkeiten, denn er hoffte auf die Wende, die ihn bitter enttäuschte - nach einem schwebenden Moment, "Volkseigentum plus Demokratie" (in seinen eigenen Worten), war dann bald, unter Zustimmung von mehr als achtzig Prozent seiner ehemaligen Mitbürger, alles anders und nicht so, wie er es wünschte.
Er war ehemals unter jenen jungen Poeten gewesen, die (nach der Zerstörung der alten Sozialdemokratie) reinen Tisch für den Sozialismus forderten, aber in der Zeit des Einmarsches der Warschauer Truppen in Prag begann er an einem System zu zweifeln, das die Menschen manipulierte, ohne auf ihre Wünsche hinzuhören; und seine Illusion von der innigen "Verbundenheit der (tschechischen) Partei mit ihrem Volke" drängte ihn in eine merkwürdige Zwischenwelt, in welcher er seiner eigenen "verwirrten Partei" ins Gewissen zu reden hoffte, auch er halb geduldet, halb preisgekrönt, und nie gewiß, wann eines seiner Stücke aufgeführt werden durfte. Er erzählte manche seiner Erfahrungen von 1989 auf traditionelle Art, so in "Worauf es hinausläuft" (1992), einer lesbaren Geschichte über einen "abgewickelten" Schulrat, aber für seine Entwicklung war es entscheidender, daß er die narrativen Möglichkeiten des zerfleddernden Monologs, der sarkastischen Epigrammatik, "der Sozialismus geht, und Johnny Walker kommt", oder eine Syntax bodenloser Sätze erprobte, um das noch "Ungewisse" zu zeigen.
Sein neuer Prosaband "Das Wirklichgewollte" besteht aus drei Stücken, die ich als short stories zu lesen beginnne, ehe ich nach dem dritten Satz begreife, daß es der Autor strikt ablehnt, mir Begebenheiten, Figuren und Sinn ins Haus zu liefern, und mir lieber Schwierigkeiten bereitet, um mich vor voreiligen Schlußfolgerungen zu bewahren. Diese Prosastücke sind alle Variationen auf ein Thema, nur welches, das ist nicht leicht zu bestimmen - jedenfals geht eine entleerte Lebenswelt zu Ende, in der Toscana, in Sibirien und in einem brasilianischen Architekturbüro; das Neue ist gewaltsam und hat eine geradezu sinnliche Anziehungskraft. Ein pensionierter italienischer Universitätsprofessor (sein Vater war Maurer, für Braun immer eine mythische Figur) hat sich mit seiner Frau auf sein Landgut zurückgezogen, seine Vorlesungen über die Revolution sind längst schal geworden, und findet sein Haus plötzlich von zwei albanischen Flüchtlingen okkupiert; ein alternder sowjetischer Ingenieur lebt mit seiner Frau in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon, und nicht weit davon ein Haufen "vollgelaufener" Arbeitsloser, "der Abhub der Bohrlöcher", wilde Leute ohne Ordnung und Gesetz; und in der dritten Geschichte ein alter brasilianischer Stadtplaner, der einen verwahrlosten Jungen von der Straße holt, um ihm Lesen und Schreiben beizubringen, und sich plötzlich mit einer ganzen Street-Gang konfrontiert findet, die in sein Büro einbricht. Was wird geschehen? Gerade dort, wo die abgelebte Ordnung mit ihren Widersachern dramatisch aneinandergerät, bricht der Text ab, ohne Interpunktion, und entläßt uns, die Lesenden, in die frostige Freiheit unseres ungegängelten Denkens. Wider einmal, wie in Brauns "Unvollendeter Geschichte" (1975), die ihn zum ersten Male, auch im Westen berühmt machte, geht eine Story zu Ende und andere, in unserem Kopfe, beginnen.
Nicht ganz unberechtigt, den Professor, den Ingenieur und den Architekten als gescheiterte Menschen zu sehen, denen Alter, Erfahrung und Geschichte übel mitgespielt haben und die nicht mehr den Mut aufbringen, ihre Hoffnungen und Entwürfe, das Wirklichgewollte, zu verteidigen, anstatt zu resignieren; der arbeitslose Sowjetingenieur, auch ein überflüssiger Mensch, hebt die geladene Waffe, vielleicht gegen sich selbst, weil er an seiner Leere verzweifelt, vielleicht gegen einen Totschläger, der gerichtet werden sollte. Also DDR-Endzeit, schlappe Ossis und harte Wessis, die über die Müden hinstampfen?
Das ist es aber nicht, oder ist es nicht ganz, denn Volker Braun unterminiert jede simple Allegorie durch die unerwartete Lebhaftigkeit seiner wenigen Figuren, die selbst inmitten des Niedergangs einen Augenblick beweglichen Gefühls für sich retten, durch und über den Text hinaus. Die alternde italienische Professorenfrau will unbedingt den nackten Rücken des Albaners berühren, "ihre Hand lag auf seiner jungen Haut wie auf der Folter", und Warwara, die fünfzigjährige Frau des Ingenieurs, geht morgens nicht ins Büro, sondern zu einem freundlichen Lehrer (ebenfalls arbeitslos), der Gorki und Sergej Tretjakow (Brauns Lieblingskritiker) zitiert, warmes Wasser in die Badewanne einlaufen läßt (seine Leitung funktioniert) und ihr Rücken und Brüste einseift, "aber sie saß so würdig da, daß er formal verfuhr".
Die ideologische Apokalypse ist, in diesen Texten zumindest, eine Angelegenheit der Männer eher als der Frauen, die ihre Ansprüche an das Leben nicht so leicht aufgeben.
Das mag der Grund sein, warum in der dritten Story (ein alter Mann und die Favelas-Skinheads unter sich) der erhobene Zeigefinger des Erzählers, das älteste Erbübel der DDR-Literatur, die Spontaneität verscheucht. Brauns Sprache hat ja ihre besondere Attraktionskraft, denn er schreibt oft in einer komplizierten Kleistschen Syntax, um das Zugleich widersprüchlicher Verhältnisse in einer einzigen langen Wortreihe darzustellen, und fällt dann wieder spielerisch ins Alltägliche ("er kroch fröstelnd wieder neben die Frau, ohne die Hellwache zu kontaktieren") oder nutzt bautechnische Terminologien (Düker), die aus der Bitterfelder Epoche stammen und uns andere dazu zwingen, nach dem Duden (warum nicht) zu greifen. Das fehlt in der südamerikanischen Geschichte. Der alte Architekt hat noch, ungestört vom Erzähler, seine Gelegenheit, nach dem Sinn der Welt zu fragen, ehe die brutalen Schläger in seine Türe brechen, und er polemisiert sogar noch, politisch höchst korrekt, gegen die Globalisierung (als ob die linken Utopien nicht ihre eigenen Globalisierungen erzwingen wollten). Hier gerät der Autor noch einmal mit dem Utopisten in sich selbst in Konflikt, aber in den wunderbarsten Momenten seiner wieder unvollendeten Geschichten hat der Künstler, wenn ich ihn so nennen darf, den Metaphysiker, der aufs Ganze geht, anstatt dem Fragmente und dem Fragwürdigen zu vertrauen, längst hinter sich gelassen.
Volker Braun: "Das Wirklichgewollte". Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 55 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Schon nach dem ersten Satz, berichtet Peter Demetz über sein Lektüreerlebnis, habe er bemerkt, dass diese Prosa, die er als "short stories" zu lesen begann, es strikt ablehne, ihm "Begebenheiten, Figuren und Sinn ins Haus zu liefern". Die drei Texte seien alle Variationen eines Themas. Nur welches, das weiß Demetz nicht zu sagen. Aber daran hat er wohl gerade seine Freude gehabt. Und so sieht er mit der Gelassenheit eines Literaturkritikers den geschilderten Menschen beim Scheitern zu und auch dem Autor, der sich abrackern muss, weil ja in einer veränderten Gesellschaft alte Formen unbrauchbar geworden sind. "Was wird geschehen?" fragt der Kritiker schließlich. Der Text des Autors bricht ab, ohne Interpunktion. Und irgendwie weiß man nicht, fürchtet der Kritiker jetzt die frostige Freiheit? Mag er keine warmen Socken oder will er lieber überhaupt nicht denken? Jedenfalls wird einem nach Lektüre seiner Kritik nicht so recht klar, was er uns eigentlich über dies Buch sagen wollte. Aber das ist vielleicht gerade der Witz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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