Literatur weiß etwas - und zwar nicht nur mehr oder weniger Diffuses, sondern durchaus Konkretes, zum Beispiel über Krankheiten, über ökonomische Zusammenhänge oder über Logiken der Rechtsfindung. Gerade in einer Kultur, die sich selbst als Wissens- und Informationsgesellschaft beschreibt, wird deutlich, wie heikel es um die Unterscheidung von "hartem" (=naturwissenschaftlich-technischem) und "weichem" (=geisteswissenschaftlich-literaturbasiertem) Wissen steht. Schöne Literatur hat einen binären Leitcode, der sich entschieden von dem der Wissenschaften abgrenzt. Er lautet nicht wahr / falsch, sondern stimmig / nicht-stimmig. Soll heißen: gerade weil die epistemische Grundorientierung von Literatur eine andere ist als die der Wissenschaften, kann Literatur erfolgreich ein Spiel spielen, das da heißt: Ich seh etwas, was du nicht siehst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2007Leser wissen einfach mehr
Die Dichter lügen - das kennt man seit Platon. Jochen Hörisch zeigt, dass die Literatur damit einen Standortvorteil hat und was sie der Wissenschaft voraushat.
Literaturwissenschaft gerät bisweilen zur Legitimationswissenschaft. Stets ist sie bemüht, die Relevanz ihres Gegenstands für die Gesellschaft, die sie aushält, nachzuweisen. Im konstruierten Wettstreit um Aufmerksamkeit, den sie zurzeit mit den Naturwissenschaften austrägt, meint sie zeigen zu müssen, dass sie ein signifikantes Element der sogenannten Wissensgesellschaft sei. Das funktioniert nur, indem sie ihr die Literatur als eine Art Gigaspeicher von Wissen verkauft, als Archiv epochaler Erkenntnisse und Erfahrungen, als Garant des kollektiven Gedächtnisses. So zutreffend diese Funktionszuweisungen sind, so passiv ist die Rolle, in die die Literatur damit gedrängt wird.
Dabei bringt die wissensorientierte Lektüre von Büchern nicht nur für Enzyklopädisten Gewinn, sondern auch für ratsuchende Lebenskünstler, meint Jochen Hörisch und verweist auf das ungeheure Welt- und Handlungswissen in den Gedichten, Romanen, Dramen und Liedern, mit denen er sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten beschäftigt hat. Extra für das Jahr der Geisteswissenschaften hat er seine kleineren und größeren Publikationen, die daraus entstanden sind, zu einem Buch binden lassen und zum vereinigten "Plädoyer für eine problem- und themenzentrierte Literaturwissenschaft" erklärt.
Das "Wissen der Literatur", das Hörisch bei seinen Streifzügen von Herder bis zu den Beatles erkannt hat, bringt er auf die einprägsame Formel: "Ich sehe was, was du nicht siehst." Die alte Dame Literatur wandelt sich bei ihm zur Übermutter des gesunden Menschenverstandes, die gerade deshalb besonders clever zu sein scheint, weil sie "zumindest" weiß, "wie heikel es um die Vorstellung verlässlichen Wissens steht". Bei Wilhelm Raabe etwa lernt man mit Hörisch, "dass es keine letzten Gründe, sondern allenfalls Abgründe gibt"; Goethe "weiß, wie wichtig es ist, auch angesichts von Leid und Leidenschaft nicht zu verstummen", und speziell bei Tasso erfährt man, dass erst Dissens Kommunikation ermöglicht; dass auch Ruhe eine Botschaft transportiert und Gut und Böse miteinander identisch sein können - das wiederum wird in der lyrischen Komposition eines Johann Georg Jacobi ansichtig gemacht. Bei solchen Paradoxien hält sich der Mannheimer Germanist und Medienwissenschaftler gerne auf, denn hier vermutet er den Vorsprung literarischer Beobachtung vor rationaler Analyse. Da ist er ganz Anhänger der Romantik und ihrer Vorliebe für "Widerspruchsstrukturen". Einer solchen verdankt sich überhaupt das zentrale Argument seines Themas: Literatur könne letztlich nur deshalb "lebenskunsttauglich" sein, weil sie anderen Prinzipien folge als die Wissenschaften. Hörisch kann sich dabei sowohl auf Schillers Modell einer ästhetischen Erziehung berufen als auch auf Luhmanns Systemtheorie, mit deren durchautomatisiertem Bürokratenvokabular er den ästhetischen "Leitcode stimmig/unstimmig" gegenüber dem wissenschaftlichen "wahr/falsch" abgrenzt.
Ganz egal, ob man Religionskonflikte entschärfen, Krankheiten als Epochenphänomene begreifen oder so unübersichtliche Konzepte wie Liebe, Zeit und Fremdheit vorübergehend in den Griff bekommen will - Belletristik-Leser wissen mehr, vor allem, wenn sie sich von Hörisch entsprechend sensibilisieren lassen. Dem steht insofern nichts im Wege, als die einzelnen Analysen anregend sind und den einschlägigen Erkenntnisgewinn gerade aus der poetischen Leistung der behandelten Texte schöpfen. Zunehmend lästig hingegen werden dem Leser die zahlreichen Wiederholungen, die sich aus dem Sammelbandcharakter des Buchs ergeben. Das betrifft vor allem Formulierungen, die auf Originalität abzielen, sich dann aber bei der Durchsicht der Vorträge, Festschriftbeiträge, Zeitungsessays und Kurzinterpretationen als serielle Wiedergänger entpuppen. Vermutlich steckt ein didaktisches Prinzip dahinter. Dass die Dichter seit Platon über eine "Lizenz zur Lüge" verfügen, hat man am Ende jedenfalls begriffen. Gerade in diesem Diktum, mit dem Hörisch die traditionelle Fiktionskritik in einen Standortvorteil ummünzt, wird aber auch deutlich, dass die Stärke der Literatur eben in der Irritation festgefügter Wissensordnungen liegt. Im Jahr der Geisteswissenschaften sollte dem mehr Beachtung geschenkt werden als dem allmählich bis zur Unkenntlichkeit aufgeblähten Wissensbegriff.
ROMAN LUCKSCHEITER
Jochen Hörisch: "Das Wissen der Literatur". Wilhelm Fink Verlag, München 2007. 236 S., br., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Dichter lügen - das kennt man seit Platon. Jochen Hörisch zeigt, dass die Literatur damit einen Standortvorteil hat und was sie der Wissenschaft voraushat.
Literaturwissenschaft gerät bisweilen zur Legitimationswissenschaft. Stets ist sie bemüht, die Relevanz ihres Gegenstands für die Gesellschaft, die sie aushält, nachzuweisen. Im konstruierten Wettstreit um Aufmerksamkeit, den sie zurzeit mit den Naturwissenschaften austrägt, meint sie zeigen zu müssen, dass sie ein signifikantes Element der sogenannten Wissensgesellschaft sei. Das funktioniert nur, indem sie ihr die Literatur als eine Art Gigaspeicher von Wissen verkauft, als Archiv epochaler Erkenntnisse und Erfahrungen, als Garant des kollektiven Gedächtnisses. So zutreffend diese Funktionszuweisungen sind, so passiv ist die Rolle, in die die Literatur damit gedrängt wird.
Dabei bringt die wissensorientierte Lektüre von Büchern nicht nur für Enzyklopädisten Gewinn, sondern auch für ratsuchende Lebenskünstler, meint Jochen Hörisch und verweist auf das ungeheure Welt- und Handlungswissen in den Gedichten, Romanen, Dramen und Liedern, mit denen er sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten beschäftigt hat. Extra für das Jahr der Geisteswissenschaften hat er seine kleineren und größeren Publikationen, die daraus entstanden sind, zu einem Buch binden lassen und zum vereinigten "Plädoyer für eine problem- und themenzentrierte Literaturwissenschaft" erklärt.
Das "Wissen der Literatur", das Hörisch bei seinen Streifzügen von Herder bis zu den Beatles erkannt hat, bringt er auf die einprägsame Formel: "Ich sehe was, was du nicht siehst." Die alte Dame Literatur wandelt sich bei ihm zur Übermutter des gesunden Menschenverstandes, die gerade deshalb besonders clever zu sein scheint, weil sie "zumindest" weiß, "wie heikel es um die Vorstellung verlässlichen Wissens steht". Bei Wilhelm Raabe etwa lernt man mit Hörisch, "dass es keine letzten Gründe, sondern allenfalls Abgründe gibt"; Goethe "weiß, wie wichtig es ist, auch angesichts von Leid und Leidenschaft nicht zu verstummen", und speziell bei Tasso erfährt man, dass erst Dissens Kommunikation ermöglicht; dass auch Ruhe eine Botschaft transportiert und Gut und Böse miteinander identisch sein können - das wiederum wird in der lyrischen Komposition eines Johann Georg Jacobi ansichtig gemacht. Bei solchen Paradoxien hält sich der Mannheimer Germanist und Medienwissenschaftler gerne auf, denn hier vermutet er den Vorsprung literarischer Beobachtung vor rationaler Analyse. Da ist er ganz Anhänger der Romantik und ihrer Vorliebe für "Widerspruchsstrukturen". Einer solchen verdankt sich überhaupt das zentrale Argument seines Themas: Literatur könne letztlich nur deshalb "lebenskunsttauglich" sein, weil sie anderen Prinzipien folge als die Wissenschaften. Hörisch kann sich dabei sowohl auf Schillers Modell einer ästhetischen Erziehung berufen als auch auf Luhmanns Systemtheorie, mit deren durchautomatisiertem Bürokratenvokabular er den ästhetischen "Leitcode stimmig/unstimmig" gegenüber dem wissenschaftlichen "wahr/falsch" abgrenzt.
Ganz egal, ob man Religionskonflikte entschärfen, Krankheiten als Epochenphänomene begreifen oder so unübersichtliche Konzepte wie Liebe, Zeit und Fremdheit vorübergehend in den Griff bekommen will - Belletristik-Leser wissen mehr, vor allem, wenn sie sich von Hörisch entsprechend sensibilisieren lassen. Dem steht insofern nichts im Wege, als die einzelnen Analysen anregend sind und den einschlägigen Erkenntnisgewinn gerade aus der poetischen Leistung der behandelten Texte schöpfen. Zunehmend lästig hingegen werden dem Leser die zahlreichen Wiederholungen, die sich aus dem Sammelbandcharakter des Buchs ergeben. Das betrifft vor allem Formulierungen, die auf Originalität abzielen, sich dann aber bei der Durchsicht der Vorträge, Festschriftbeiträge, Zeitungsessays und Kurzinterpretationen als serielle Wiedergänger entpuppen. Vermutlich steckt ein didaktisches Prinzip dahinter. Dass die Dichter seit Platon über eine "Lizenz zur Lüge" verfügen, hat man am Ende jedenfalls begriffen. Gerade in diesem Diktum, mit dem Hörisch die traditionelle Fiktionskritik in einen Standortvorteil ummünzt, wird aber auch deutlich, dass die Stärke der Literatur eben in der Irritation festgefügter Wissensordnungen liegt. Im Jahr der Geisteswissenschaften sollte dem mehr Beachtung geschenkt werden als dem allmählich bis zur Unkenntlichkeit aufgeblähten Wissensbegriff.
ROMAN LUCKSCHEITER
Jochen Hörisch: "Das Wissen der Literatur". Wilhelm Fink Verlag, München 2007. 236 S., br., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
"Anregend" und "luzide" findet Rezensent Oliver Pfohlmann die Aufsätze und Vorträge des Mannheimer Literaturwissenschaftlers Jochen Hörisch. Hier geht es nämlich um Literatur als unterschätzten und verborgenen Wissensspeicher, der für andere gesellschaftliche Systeme nutzbar gemacht werden kann. Hörisch leitet seine Theorie des "dissidenten" Wissens von Luhmann her, lesen wir. Die Dichtung bewege sich daher nicht in den binären wissenschaftlichen Codes "richtig/falsch" sondern in den ihr eigenen ästhetischen Codes "stimmig/nicht-stimmig". Von der Verpflichtung entbunden, nachprüfbare und notwendigerweise begrenzte Fakten zu schaffen, produziert Literatur so eine "alternative Realitätsversion", in der sie über einfach alles spricht, referiert Pfohlmann Hörischs Thesen. An Beispielen aus dem klassischen Kanon macht Hörisch deutlich, wie sich dieses Wissen problemorientiert anwenden lässt, ohne die Literatur dabei auf ihren Nutzwert zu reduzieren, schreibt der inspirierte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH