Drei Dinge, die seinem Vater gehört haben, hat James aufbewahrt: einen britischen Militärausweis, ein großes Gurkenglas und einen Brief in einer Sprache, die er nicht lesen kann. Sie sollen ihm bei der Suche nach der Familiengeschichte helfen. Aus Boston, wo er behütet aufgewachsen ist, reist James nach Wien und weiter in den Osten, in die Ukraine. Er lernt die geheimnisvolle Vera kennen, seine Großmutter, von der sein Vater immer behauptet hatte, sie würde in bitterer Armut leben. Doch die Wahrheit sieht anders aus: Vera war Chefin im"Witwenhaus", einem luxuriösen Bordell, und auch ihre beiden Söhne, seine Onkel, scheinen in ihre undurchsichtigen Machenschaften verstrickt. James sieht sich mit einer brutalen Welt konfrontiert, in der Prostitution und Menschenhandel ganz selbstverständlich zum Geschäft gehören - und diese Welt hat mehr mit ihm zu tun, als er jemals ahnen konnte. Ein großes Buch über Väter und Söhne und ein packender Thriller.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2008Was wird uns so kyrillisch?
Askold Melnyczuk verfährt sich in der Ukraine
Der Osten ist immer gut als Projektionsfläche. Über die Ukraine kann man so ziemlich alles erzählen, denn das Basiswissen über das östlichste und damit letzte Territorium Europas erschöpft sich für viele mit Klitschko und Kiew. Askold Melnyczuk, 1954 als Sohn ukrainischer Einwanderer an der amerikanischen Ostküste geboren, hat für seine literarischen Imaginationen auch in seinem jüngsten Buch wieder die Ukraine gewählt und sie dafür wie ein literarisches Puppenhaus eingerichtet - ein bisschen Isaak Babel hier, ein bisschen Kommunismus dort, und in der Mitte ein paar liebenswerte Kriminelle, die ein Bordell im Stil einer karitativen Unternehmung betreiben. Die Dienstbotenzimmer in Kiew, die gute Stube in Wien und das Studierzimmer, wie es sich gehört, in Oxford. Dazu gibt es die Geschichte von einem Vater, der als erfolgloser Einwanderer in den Vereinigten Staaten dem Alkohol verfiel, um seine osteuropäische Herkunft ein Geheimnis machte und sich am Ende vor den Augen des eigenen Sohnes eine Kugel durch den Kopf jagte.
Jetzt will der Sohn herausfinden, was es mit der ukrainischen Mischpoke und einem britischen Militärpass auf sich hat und fährt dazu nach Oxford, wo auch der Vater vor seiner Einwanderung in die Vereinigten Staaten bei einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, weil die eigene Mutter ihn in den Wirren der ukrainischen Hungerjahre einem Matrosen buchstäblich in die Hand gedrückt hatte. Als britischer Soldat und Militärdolmetscher, das wiederum stellt sich nun heraus, war dieser Vater nach dem Krieg in Deutschland seinem Bruder begegnet, ohne verhindert zu haben, dass dieser den sowjetischen Militärbehörden überstellt wurde. Der eine fährt nach Sibirien, um zu schuften, der andere nach Kanada, um zu vergessen. Im Wien von heute stößt der Freizeitgenealoge nun aber nicht auf vom Schicksal gebeutelte, kirchenmausarme Huzulen, sondern auf eine muntere Familienmafia mit geschäftlichen Verbindungen in alle Welt, als deren Pate sich die Großmutter Vera und als deren Zentrum sich ein Freudenhaus in Kiew entpuppt. Nach dem Krieg fing Vera selbst als Prostituierte in Wien an und entwickelte daraus eine Geschäftsidee, die sich über den Kommunismus bis in die zweifelhafte Ökonomie der Transformationsgesellschaft als tragfähig erwies.
Das alles - oder auch Teile davon - hätte mit weniger Klischees und mehr psychologischem Tiefgang, vielleicht auch mit etwas mehr Sinn für historische Wahrscheinlichkeiten ein passabler Roman werden können, wenn, ja wenn der Autor sich nicht in belanglosen Dialogen und obskuren Nebenschauplätzen voller schicksalstriefender Protagonisten wie der traumatisierten Palästinenserin oder der bleistiftberockten Inderin verlaufen hätte. Auf Seite zweihundert rätselt man immer noch, wo es bei dieser Reise gen Osten eigentlich hingehen soll. Die Bilder stimmen nicht, die Sentenzen klingen altklug und hohl. Verrottende Waggons stehen in der Ukraine mitnichten seit der Revolution auf dem Abstellgleis, sie sehen nur für amerikanische Ostalgiker so aus. Man muss auch nicht erwähnen, dass die unverständlichen Graffiti kyrillisch sind. Was sonst bitte sollten sie sein? Und auf eine "geistige Tiefe", die die Toten und Ermordeten Odessa angeblich verleihen, würde die Stadt vermutlich liebend gern verzichten. Am Ende fragen wir uns mit dem heimgekehrten Helden, wofür das alles gut war, und sind heilfroh, dass der Familienausflug beendet ist.
SABINE BERKING
Askold Melnyczuk: "Das Witwenhaus". Roman. Aus dem Amerikanischen von Andrea Marenzeller und Martin Amanshauser. Deuticke Verlag, Wien 2008. 310 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Askold Melnyczuk verfährt sich in der Ukraine
Der Osten ist immer gut als Projektionsfläche. Über die Ukraine kann man so ziemlich alles erzählen, denn das Basiswissen über das östlichste und damit letzte Territorium Europas erschöpft sich für viele mit Klitschko und Kiew. Askold Melnyczuk, 1954 als Sohn ukrainischer Einwanderer an der amerikanischen Ostküste geboren, hat für seine literarischen Imaginationen auch in seinem jüngsten Buch wieder die Ukraine gewählt und sie dafür wie ein literarisches Puppenhaus eingerichtet - ein bisschen Isaak Babel hier, ein bisschen Kommunismus dort, und in der Mitte ein paar liebenswerte Kriminelle, die ein Bordell im Stil einer karitativen Unternehmung betreiben. Die Dienstbotenzimmer in Kiew, die gute Stube in Wien und das Studierzimmer, wie es sich gehört, in Oxford. Dazu gibt es die Geschichte von einem Vater, der als erfolgloser Einwanderer in den Vereinigten Staaten dem Alkohol verfiel, um seine osteuropäische Herkunft ein Geheimnis machte und sich am Ende vor den Augen des eigenen Sohnes eine Kugel durch den Kopf jagte.
Jetzt will der Sohn herausfinden, was es mit der ukrainischen Mischpoke und einem britischen Militärpass auf sich hat und fährt dazu nach Oxford, wo auch der Vater vor seiner Einwanderung in die Vereinigten Staaten bei einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, weil die eigene Mutter ihn in den Wirren der ukrainischen Hungerjahre einem Matrosen buchstäblich in die Hand gedrückt hatte. Als britischer Soldat und Militärdolmetscher, das wiederum stellt sich nun heraus, war dieser Vater nach dem Krieg in Deutschland seinem Bruder begegnet, ohne verhindert zu haben, dass dieser den sowjetischen Militärbehörden überstellt wurde. Der eine fährt nach Sibirien, um zu schuften, der andere nach Kanada, um zu vergessen. Im Wien von heute stößt der Freizeitgenealoge nun aber nicht auf vom Schicksal gebeutelte, kirchenmausarme Huzulen, sondern auf eine muntere Familienmafia mit geschäftlichen Verbindungen in alle Welt, als deren Pate sich die Großmutter Vera und als deren Zentrum sich ein Freudenhaus in Kiew entpuppt. Nach dem Krieg fing Vera selbst als Prostituierte in Wien an und entwickelte daraus eine Geschäftsidee, die sich über den Kommunismus bis in die zweifelhafte Ökonomie der Transformationsgesellschaft als tragfähig erwies.
Das alles - oder auch Teile davon - hätte mit weniger Klischees und mehr psychologischem Tiefgang, vielleicht auch mit etwas mehr Sinn für historische Wahrscheinlichkeiten ein passabler Roman werden können, wenn, ja wenn der Autor sich nicht in belanglosen Dialogen und obskuren Nebenschauplätzen voller schicksalstriefender Protagonisten wie der traumatisierten Palästinenserin oder der bleistiftberockten Inderin verlaufen hätte. Auf Seite zweihundert rätselt man immer noch, wo es bei dieser Reise gen Osten eigentlich hingehen soll. Die Bilder stimmen nicht, die Sentenzen klingen altklug und hohl. Verrottende Waggons stehen in der Ukraine mitnichten seit der Revolution auf dem Abstellgleis, sie sehen nur für amerikanische Ostalgiker so aus. Man muss auch nicht erwähnen, dass die unverständlichen Graffiti kyrillisch sind. Was sonst bitte sollten sie sein? Und auf eine "geistige Tiefe", die die Toten und Ermordeten Odessa angeblich verleihen, würde die Stadt vermutlich liebend gern verzichten. Am Ende fragen wir uns mit dem heimgekehrten Helden, wofür das alles gut war, und sind heilfroh, dass der Familienausflug beendet ist.
SABINE BERKING
Askold Melnyczuk: "Das Witwenhaus". Roman. Aus dem Amerikanischen von Andrea Marenzeller und Martin Amanshauser. Deuticke Verlag, Wien 2008. 310 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Berking kann dem Roman "Das Witwenhaus" nichts abgewinnen, dessen Autor Askold Melnyczuk sie als Sohn ukrainischer Einwanderer in den USA vorstellt. In seinem jüngsten Roman lässt er seinen Helden nach Oxford und Wien und in die Ukraine reisen, um der rätselhaften Vergangenheit seines Vaters nachzuforschen, erklärt die Rezensentin. Dabei stößt er auf den nach Sibirien verschleppten Bruder des Vaters und ein Bordell in Kiew als Mittelpunkt einer "munteren Familienmafia, so Berking weiter, die hier zumindest die theoretische Möglichkeit für einen annehmbaren Roman sieht. Wegen der vielen Klischees ("ein bisschen Isaak Babel hier, ein bisschen Kommunismus dort, und in der Mitte ein paar liebenswerte Kriminelle"), der schiefen Bilder und des fehlenden psychologischen Tiefgangs aber hat das Buch diese Möglichkeit keinesfalls ausgeschöpft, befindet Berking unfroh.
© Perlentaucher Medien GmbH
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