Maarten t'Hart gehört zu den beliebtesten Autoren der Niederlande. In seinem Roman schildert er die kleine Welt eines südholländischen Städtchens. Dort, in der President Steynstraat, ist der Komponist Alexander Goudveyl als Sohn eines Lumpenhändlers aufgewachsen, großgezogen mit Gebeten und den alten Geschichten vom Krieg. Dreißig Jahre später erinnert er sich an diese Zeit, vor allem an den 22. Dezember 1956, einen regennassen Samstagnachmittag, an dem der Polizist Vroombout ermordet wurde...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.1997Fische fangen am Klavier
Maarten 't Hart erzählt von Mord, Musik und strengen Calvinisten · Von Sabine Brandt
In diesem Buch des Niederländers Maarten 't Hart werden Liebhaber von Kriminalromanen auf besondere Weise bedient: Der Autor liefert ihnen die Geschichte eines Verbrechens samt Aufklärung, eingesponnen in ein Schreibwerk der gehobenen Güteklasse. Hier muß kein Krimifreund seine Obsession gegen kritisches Naserümpfen verteidigen, der Roman "Das Wüten der ganzen Welt" befriedigt sowohl den Anspruch auf Spannung wie den auf literarisches Niveau.
Die Originalausgabe, 1993 erschienen, wurde ein Bestseller und gewann den "Gouden strop", den Preis des niederländischen Buchhandels für das spannendste Buch. Der Roman wurde als zweiter aus dem _uvre 't Harts ins Deutsche übersetzt; voraus ging 1986 "Ein Schwarm Regenbrachvögel". Das ist wenig, gemessen an den zahlreichen Romanen, Erzählungen, Essays, die der schreibbesessene Autor seit 1971 verfaßte und die in einer Gesamtauflage von zwei Millionen Exemplaren verbreitet sind.
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maasslouis nahe Rotterdam, ist zum Schriftsteller nicht erzogen worden. Sein Vater war Totengräber, 't Hart stammt also aus bescheidensten Verhältnissen. Dennoch geriet der Sohn nicht nur ans Schreiben, sondern mit mindestens gleicher Hingabe auch ans Musizieren. 't Hart ist, rezipierend wie ausübend, ein Fanatiker der klassischen Musik, auch in seinen Büchern erweist er ihr ständig Reverenz. Was mag seine Entwicklung in diese Richtung beeinflußt haben? Welche Art Gene förderten das, und von wem erbte er sie?
Unter anderem um solche Fragen geht es in dem Roman "Das Wüten der ganzen Welt". Sie sind dort auf die Hauptfigur bezogen, der Autor verfremdet die Realität, und wir dürfen die Lösungen, zu denen er findet, nicht für bare Münze nehmen. Der Held Alexander Goudveyl ist nicht einfach seines Schöpfers alter ego, schließlich muß aus Alexanders Geschichte die Fabel der Kriminalstory wachsen, also regieren deren Erfordernisse den Roman. Bei den Einzelheiten des gelebten Alltags jedoch hat 't Hart seine persönlichen Erinnerungen genutzt, hat in der Art, wie Alexander die Welt erlebt und auf sie reagiert, durchaus sich selbst porträtiert. Auch den Geburtsjahrgang 1944 teilen Autor und Held, desgleichen das Studium an der Universität Leiden: Biologie für den Schriftsteller, Pharmazie für dessen Geschöpf.
Alexander, eines Lumpensammlers Sohn, wächst auf im Hafenviertel eines Kleinstädtchens nicht weit von Rotterdam. Im Elternhaus herrschen Unbildung und eine an Geiz grenzende Sparwut; "kost' Geld" ist der häufigste Kommentar am Familientisch. Insofern passen Vater und Mutter eigentlich in die kleine Calvinistengemeinde mit ihren engstirnigen Ordnungsbegriffen. Dennoch werden sie dort abgelehnt. Weil sie Zugezogene sind, erklären die Goudveyls ihrem Alexander, sie seien kurz nach seiner Geburt aus Rotterdam in die Provinz abgewandert. Sie erklären ihm auch, daß es viele Arten von Christen gibt - evangelische, reformierte, leider auch papistische -, doch nur eine gottgefällige Art, die "Erneuerten", denen man in Rotterdam angehört habe. Die aber kommen leider im Städtchen nicht vor, weshalb man es ersatzweise mit den Reformierten hält.
't Hart zeigt uns Alexander als einsames Kind zwischen vielen Fronten. Die besseren Bürger kränken ihn durch Nichtachtung, die Proleten verhöhnen, die Gassenlümmel attackieren ihn. Ihm bleiben nur zwei Refugien, um sich vor der kollektiven Anfeindung zu verbergen: einmal der Lagerraum des Vaters mit dem ramponierten Blüthner-Klavier; zum anderen ein verwildertes Grundstück am Hafen, wo man träumen und Fische fangen kann. In diesem Paradies beschützt ihn der Polizist Vroombout, der aber leider nicht bloß ein Freund ist, sondern auch ein homosexueller Bubengrapscher. Der Junge erfährt, wie solche Sünde die Seele verformt, auch dann, wenn man selbst daran gar keine Freude hat. Die frühe Irritation wird das Liebesleben des Mannes Alexander beschädigen.
Im November 1956 wird Vroombout zum Opfer des Mordes, der dem Romanhelden mehr als vierhundert Seiten lang zu schaffen macht. Tatort ist die väterliche Lagerhalle. Draußen auf der Straße läuft gerade eine Evangelisationskampagne besonders frommer Bürger, drinnen liefert Alexander am Blüthner die musikalische Untermalung, Vroombout nähert sich in unfrommer Absicht, dann fällt der Schuß. Alexander sieht einen mit Hut und Schal getarnten Schemen, unter der Hutkrempe zwei glühende Augen, von denen eine bedrohliche Botschaft auszugehen scheint: Auch er, der einzige Zeuge, wird um sein Leben fürchten müssen.
Aus diesem Leben, um das sein Held bangt, ist das Fleisch des Romans gefertigt. Detailfreudig erzählt der Autor die Geschichte eines Heranwachsenden, der von den Fesseln seines Anfangs manche abzustreifen vermag und auf Umwegen erobert, wonach es ihn verlangt, nämlich die Karriere eines Musikers. Geschmeidig verknüpft 't Hart mit dieser Vita eine andere Geschichte, die ihren Anfang vor der Geburt des Helden nahm. Erste Spuren werden dem Leser schon vorgeführt, ehe er Alexander kennenlernt, sie stammen aus dem Jahr 1940: Ein Fischkutter soll Flüchtlinge aus dem besetzten Holland nach England bringen, ein deutsches U-Boot stoppt die Aktion, der Fischkahn wird gesprengt. Den Überlebenden begegnet Alexander später an wichtigen Stationen seines Weges. Früh schon drängt sich ihm der Eindruck auf, im Debakel von 1940 sei die Erklärung für den Mord von 1956 zu finden, und die Beteiligten von damals könnten, würden sie nur sprechen, dem Jungen seine Angst nehmen. Aber sie sprechen nicht.
Es ist das Warten auf den Moment der Wahrheit, das den Roman durchgehend mit Spannung auflädt. Die Spannung wiederum preßt die verschiedenen Erzählschichten zu einem geschlossenen Block. Die historische Reminiszenz und das kritische Kleinstadtporträt, der Reifeprozeß eines jungen Begabten und der Mord sind so kunstvoll ineinandergewirkt, daß dem Leser auf der langen Strecke die Geduld nicht abhanden kommt. Man will niemals bloß erfahren, wer der Täter war, sondern immer auch, welche Bewandtnis es mit Alexander hat. Anscheinend gibt es, was ihn betrifft, ein Geheimnis. Wir haben längst gemerkt, daß uns ständig irgend etwas signalisiert wird. Am Ende werden wir wissen, was.
Maarten 't Hart: "Das Wüten der ganzen Welt". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 1997. 414 S., geb., 42,- DM.
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Maarten 't Hart erzählt von Mord, Musik und strengen Calvinisten · Von Sabine Brandt
In diesem Buch des Niederländers Maarten 't Hart werden Liebhaber von Kriminalromanen auf besondere Weise bedient: Der Autor liefert ihnen die Geschichte eines Verbrechens samt Aufklärung, eingesponnen in ein Schreibwerk der gehobenen Güteklasse. Hier muß kein Krimifreund seine Obsession gegen kritisches Naserümpfen verteidigen, der Roman "Das Wüten der ganzen Welt" befriedigt sowohl den Anspruch auf Spannung wie den auf literarisches Niveau.
Die Originalausgabe, 1993 erschienen, wurde ein Bestseller und gewann den "Gouden strop", den Preis des niederländischen Buchhandels für das spannendste Buch. Der Roman wurde als zweiter aus dem _uvre 't Harts ins Deutsche übersetzt; voraus ging 1986 "Ein Schwarm Regenbrachvögel". Das ist wenig, gemessen an den zahlreichen Romanen, Erzählungen, Essays, die der schreibbesessene Autor seit 1971 verfaßte und die in einer Gesamtauflage von zwei Millionen Exemplaren verbreitet sind.
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maasslouis nahe Rotterdam, ist zum Schriftsteller nicht erzogen worden. Sein Vater war Totengräber, 't Hart stammt also aus bescheidensten Verhältnissen. Dennoch geriet der Sohn nicht nur ans Schreiben, sondern mit mindestens gleicher Hingabe auch ans Musizieren. 't Hart ist, rezipierend wie ausübend, ein Fanatiker der klassischen Musik, auch in seinen Büchern erweist er ihr ständig Reverenz. Was mag seine Entwicklung in diese Richtung beeinflußt haben? Welche Art Gene förderten das, und von wem erbte er sie?
Unter anderem um solche Fragen geht es in dem Roman "Das Wüten der ganzen Welt". Sie sind dort auf die Hauptfigur bezogen, der Autor verfremdet die Realität, und wir dürfen die Lösungen, zu denen er findet, nicht für bare Münze nehmen. Der Held Alexander Goudveyl ist nicht einfach seines Schöpfers alter ego, schließlich muß aus Alexanders Geschichte die Fabel der Kriminalstory wachsen, also regieren deren Erfordernisse den Roman. Bei den Einzelheiten des gelebten Alltags jedoch hat 't Hart seine persönlichen Erinnerungen genutzt, hat in der Art, wie Alexander die Welt erlebt und auf sie reagiert, durchaus sich selbst porträtiert. Auch den Geburtsjahrgang 1944 teilen Autor und Held, desgleichen das Studium an der Universität Leiden: Biologie für den Schriftsteller, Pharmazie für dessen Geschöpf.
Alexander, eines Lumpensammlers Sohn, wächst auf im Hafenviertel eines Kleinstädtchens nicht weit von Rotterdam. Im Elternhaus herrschen Unbildung und eine an Geiz grenzende Sparwut; "kost' Geld" ist der häufigste Kommentar am Familientisch. Insofern passen Vater und Mutter eigentlich in die kleine Calvinistengemeinde mit ihren engstirnigen Ordnungsbegriffen. Dennoch werden sie dort abgelehnt. Weil sie Zugezogene sind, erklären die Goudveyls ihrem Alexander, sie seien kurz nach seiner Geburt aus Rotterdam in die Provinz abgewandert. Sie erklären ihm auch, daß es viele Arten von Christen gibt - evangelische, reformierte, leider auch papistische -, doch nur eine gottgefällige Art, die "Erneuerten", denen man in Rotterdam angehört habe. Die aber kommen leider im Städtchen nicht vor, weshalb man es ersatzweise mit den Reformierten hält.
't Hart zeigt uns Alexander als einsames Kind zwischen vielen Fronten. Die besseren Bürger kränken ihn durch Nichtachtung, die Proleten verhöhnen, die Gassenlümmel attackieren ihn. Ihm bleiben nur zwei Refugien, um sich vor der kollektiven Anfeindung zu verbergen: einmal der Lagerraum des Vaters mit dem ramponierten Blüthner-Klavier; zum anderen ein verwildertes Grundstück am Hafen, wo man träumen und Fische fangen kann. In diesem Paradies beschützt ihn der Polizist Vroombout, der aber leider nicht bloß ein Freund ist, sondern auch ein homosexueller Bubengrapscher. Der Junge erfährt, wie solche Sünde die Seele verformt, auch dann, wenn man selbst daran gar keine Freude hat. Die frühe Irritation wird das Liebesleben des Mannes Alexander beschädigen.
Im November 1956 wird Vroombout zum Opfer des Mordes, der dem Romanhelden mehr als vierhundert Seiten lang zu schaffen macht. Tatort ist die väterliche Lagerhalle. Draußen auf der Straße läuft gerade eine Evangelisationskampagne besonders frommer Bürger, drinnen liefert Alexander am Blüthner die musikalische Untermalung, Vroombout nähert sich in unfrommer Absicht, dann fällt der Schuß. Alexander sieht einen mit Hut und Schal getarnten Schemen, unter der Hutkrempe zwei glühende Augen, von denen eine bedrohliche Botschaft auszugehen scheint: Auch er, der einzige Zeuge, wird um sein Leben fürchten müssen.
Aus diesem Leben, um das sein Held bangt, ist das Fleisch des Romans gefertigt. Detailfreudig erzählt der Autor die Geschichte eines Heranwachsenden, der von den Fesseln seines Anfangs manche abzustreifen vermag und auf Umwegen erobert, wonach es ihn verlangt, nämlich die Karriere eines Musikers. Geschmeidig verknüpft 't Hart mit dieser Vita eine andere Geschichte, die ihren Anfang vor der Geburt des Helden nahm. Erste Spuren werden dem Leser schon vorgeführt, ehe er Alexander kennenlernt, sie stammen aus dem Jahr 1940: Ein Fischkutter soll Flüchtlinge aus dem besetzten Holland nach England bringen, ein deutsches U-Boot stoppt die Aktion, der Fischkahn wird gesprengt. Den Überlebenden begegnet Alexander später an wichtigen Stationen seines Weges. Früh schon drängt sich ihm der Eindruck auf, im Debakel von 1940 sei die Erklärung für den Mord von 1956 zu finden, und die Beteiligten von damals könnten, würden sie nur sprechen, dem Jungen seine Angst nehmen. Aber sie sprechen nicht.
Es ist das Warten auf den Moment der Wahrheit, das den Roman durchgehend mit Spannung auflädt. Die Spannung wiederum preßt die verschiedenen Erzählschichten zu einem geschlossenen Block. Die historische Reminiszenz und das kritische Kleinstadtporträt, der Reifeprozeß eines jungen Begabten und der Mord sind so kunstvoll ineinandergewirkt, daß dem Leser auf der langen Strecke die Geduld nicht abhanden kommt. Man will niemals bloß erfahren, wer der Täter war, sondern immer auch, welche Bewandtnis es mit Alexander hat. Anscheinend gibt es, was ihn betrifft, ein Geheimnis. Wir haben längst gemerkt, daß uns ständig irgend etwas signalisiert wird. Am Ende werden wir wissen, was.
Maarten 't Hart: "Das Wüten der ganzen Welt". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marianne Holberg. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 1997. 414 S., geb., 42,- DM.
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