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Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • Seitenzahl: 307
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 476g
  • ISBN-13: 9783406452888
  • ISBN-10: 3406452884
  • Artikelnr.: 25120695
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2000

Nie wieder Schweinfurt!
João Ubaldo Ribeiro taucht in die Mitte der Zeit

Ubaldo Ribeiros jüngster Roman, "Das Wunder der Pfaueninsel", erfüllt die deutsche Sehnsucht nach dem Ursprünglichen wie die sprichwörtliche Fee im Märchen: Kaum ist man erhört worden, kommt alles anders, als man denkt. Unter den Hauptfiguren des vor zwei Jahren in Rio de Janeiro veröffentlichten Romans tummelt sich der Indianer Balduíno Galo Mau ("Böser Hahn"), der außer seinem Federschmuck anfänglich nur einen Lianengürtel trägt und ein kurios verballhorntes Portugiesisch spricht. Allerdings ist er kein guter Wilder, der des aufgeklärten Mitleids, kein unschuldiges Kind der Natur, das der sozialpädagogischen Betreuung bedürfte. Vielmehr weiß der Listenreiche sich so gut selbst zu helfen, dass in seinen Händen alle Fäden der Romanhandlung zusammenlaufen, dass er an allen Strippen zieht und Weiße wie Schwarze nach seiner Pfeife tanzen lässt.

Nun stellt der Erzähler die Pfaueninsel gleich zu Beginn des Romans als einen irrealen Ort von bedrohlicher Schönheit vor, der die Anwohner der Allerheiligenbucht in Träume und Albträume versenkt; der geographischen Lage nach dürfte es sich um eine utopische Überhöhung von Itaparica handeln, wo João Ubaldo Ribeiro geboren wurde und wo die meisten seiner Romane spielen. Ähnlich wie das erste Eiland Nirgendwo der Literaturgeschichte, das Thomas Morus als "Utopia" 1516 aus einer schwer schiffbaren See auftauchen ließ, ist auch die Pfaueninsel durch Klippen und Untiefen gegen die Zudringlichkeit unvorsichtiger Seefahrer geschützt.

Aber die Grenze zwischen Realität und Fiktion scheint nur auf den ersten Blick felsenfest, denn das soziale Universum der Pfaueninsel bildet mit einigen Verzerrungen und Verkehrungen die brasilianische Kolonialgesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts ab: Im urbanen Milieu geben unter den "Rustasajoespfamensern", den "Bewohnern der Ruhmreichen Stadt São João Esmoler am Pfauenmeer", portugiesischstämmige Einwanderer den Ton an; auf dem Land steht Dão Baltazar Nuno Feitosa, wegen seiner früheren verwegenen Abenteuer kurz "Pferdehauptmann" genannt, dem Gut Sossego Manso ("Sanfte Ruhe") vor, wo schwarze Arbeiter die Zuckerrohrplantagen bewirtschaften; im Busch siedeln die Indianer, und in einem unzugänglichen Waldgebiet haben einige Schwarze einen Quilombo gegründet. Dieses afrikanische Wort bezeichnete in Brasilien eine Zuflucht für entlaufene Sklaven. Hier herrscht allerdings ein schwarzer Sklavenhändler aus dem Kongo als selbsternannter König Afonso Jorge II. grausam wie Idi Amin, prunksüchtig wie Bokassa und grotesk wie beide. Von dieser Enklave der Unterdrückung abgesehen wurde die Sklaverei sonst auf Betreiben des Pferdehauptmanns hin abgeschafft.

Auch die Indianer haben die Annehmlichkeiten der Zivilisation schätzen gelernt. Obwohl die Gesellschaft der Pfaueninsel nicht die Uniformität eines platonischen Idealstaates besitzt, erweist sich das fröhlich aus Schwarz und Weiß zusammengesetzte Schachbrett als utopisches Konstrukt. Der Präfekt von São João gefährdet das menschenfreundliche Miteinander, indem er die nackten Indianer auf Anraten seiner sittenstrengen Gattin aus der Stadt verbannt. Denn die Indianer sind zugleich lästige Mitwisser mancher Sünden; sie führen den Weißen jene körperlichen Bedürfnisse und Begierden vor Augen, über die man lieber erhaben wäre. So erinnert der Indianerhäuptling Balduíno seine Gegner an ihre eigene Kreatürlichkeit, indem er ihr Trinkwasser mit einem Abführmittel versetzen lässt. Die Rhetorik muss als Tünche dienen, damit der Schulmeister Joaquim Moniz Andrade den grotesken Unterleib retouchieren und die daraus abgegebenen Geräusche klassisch dämpfen kann; auf diese Weise wird die "Schlacht der Kackstiefel" zum "Aufstand der Wilden" überhöht, so dass die offizielle Version der Ereignisse nur das edle Blut der tapferen Kämpfer und keine anderen Körperflüssigkeiten fließen lässt.

Als Intimfeind des Indianerhäuptlings tut sich Oberst Borges Lustosa hervor, der "Wolf von São João", der mit seinem militärischen Kommando politische Ambitionen auf Alleinherrschaft und Wiederherstellung der Sklaverei verknüpft. Der selbstgefällige Westentaschenmachiavelli mit analer Fixierung ist ein Doppelgänger des hämorrhoidengeplagten korrupten Politikers Dr. Angelo Marcos Barreto aus "Das Lächeln der Eidechse"; er reiht sich in die Galerie machtlüsterner Autoritätsfiguren ein, die zum Personal des modernen lateinamerikanischen Romans gehören.

Im Gegensatz zu Barreto bleibt Borges Lustosa der endgültige Triumph versagt, weil er den Listen seines Gegenspielers Balduíno nicht gewachsen ist. Auf Seiten des Indianers kämpfen neben dem Pferdehauptmann vor allem dessen Sohn Iô Pepeu, ein sympathischer Nichtsnutz und Schürzenjäger, den die Liebe zu der dunklen Schönheit Crescência quält, und Hans Flußufer, der vor einer Anklage wegen Hexerei aus Oberfranken in die Tropen geflüchtet ist. Zwar errichtet er im Busch Fachwerkhäuser, die aus einer "Meistersinger"-Inszenierung von Wolfgang Wagner stammen könnten, und gibt seinen zahlreichen mit verschiedenen Indiofrauen gezeugten Kindern so merkwürdige Namen wie "Jürgen" oder "Adelheit", aber sein stolzes Motto lautet: "Nie wieder Schweinfurt!" Bei Ubaldo Ribeiro stellen sich die vermeintlichen Hexer als wahre Aufklärer und die Zauberei als europäische Projektion heraus, während Balduíno nur die Inhaltsstoffe von Heilkräutern und die Angstvorstellungen seiner Widersacher ausnützt.

Die Liebesgeschichte zwischen Crescência und Iô Pepeu kommt erst zur Erfüllung, als Iô auf das äußere Hilfsmittel eines Potenztranks verzichtet und dem Genuss des Gegenwärtigen den Vorzug vor der Erwartung des Zukünftigen gibt, während dazu gegenläufig die glückliche Lösung des gesellschaftlichen Konflikts übernatürliche Hilfe erfordert, was ein fahles Licht auf das vordergründig optimistische Finale wirft. Eine bischöfliche Visitationskommission kann gerade noch durch finanzielle und sexuelle Bestechung unschädlich gemacht werden. Dann objektiviert sich die subjektive Antizipation möglicher Zukünfte in der Gestalt einer geheimnisvoll immateriellen Zeitkugel. Der Pferdehauptmann kriecht in diese "Waffe gegen eine unerwünschte Zukunft" hinein, um die Ereignisse zu steuern und einen Aufstand gegen die Unterdrückung im Quilombo heraufzubeschwören, wobei ein riesiger Pfau über der Insel sein Rad schlägt.

Das Zeitloch kann man als Metapher für den Roman ansehen, da dessen Ende in einer Kreisbewegung wörtlich den Anfang zitiert. Trotz der Schauplatz- und Perspektivenwechsel von Kapitel zu Kapitel, trotz der utopischen Rundung am Schluss erzählt Ubaldo Ribeiro seine Geschichte linear. Anders als Julio Cortázar in "Himmel und Hölle" versucht er nicht, Handlungsalternativen in der Erzählstruktur durchzuspielen, statt bloß zu erwähnen, was hätte geschehen können. Auch die Innenansicht der Charaktere entbehrt weitgehend zeitlicher Tiefe durch Erinnerung oder Melancholie, so dass die Figuren vor allem als wenig profilierte Träger einer gut gebauten, spannenden Intrige in Erscheinung treten.

In seinem tropischen Universum mit den grellen Farben und sexuellen Szenen, die "prall" zu nennen bereits als müde Konvention gelten kann, befriedigt João Ubaldo Ribeiro die europäische Neigung zum Exotismus und ironisiert sie zugleich durch den humoristischen Wechsel der Blickpunkte, etwa durch den Kontrast mit einer barbarischen fränkischen Gegenwelt. Diese Spiegelung des einen im anderen verführt die deutschen Leser vielleicht zur Reflexion.

MAX GROSSE

João Ubaldo Ribeiro: "Das Wunder der Pfaueninsel". Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner-Verlag. C.H. Beck, München 1999. 308 S., geb., 44,- DM

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.01.2000

Wer das Rad schlägt
Der neue barocke Geschichtsroman des Joao Ubaldo Ribeiro
Joao Ubaldo Ribeiro ist sich als literarischer Insulaner treu geblieben auch in Rio de Janeiro, wo er seit vielen Jahren lebt. In seinem Roman Das Wunder der Pfaueninsel ist das Eiland gleichsam der natürliche Bezirk seines literarischen Makrokosmos, aber im Unterschied zum historischen Itaparica in Brasilien, Brasilien handelt es sich hier um eine reine Sagengestalt und um eine Geschichtsinsel des 18. Jahrhunderts – ein fiktives Sitten- und Epochengemälde des brasilianischen Barock aus der Feder eines würdigen „Tropen-Rabelais”.
Ein explosives Laboratorium der Begegnungen im anthropologisch quirligen lusitanisch-transatlantischen Raum. Wieder einmal unterläuft Joao Ubaldo Ribeiro die geschriebene Offizialgeschichte der Herrenklasse mit seiner literarischen Mimikry der oralen und der Hexermagie der Indios, der Afrobrasilianer und schiffbrüchiger Europäer; steigert dergestalt die Ironien der Geschichte zu einer ironisch-barocken Geschichtssicht aus der Perspektive der Armen, der Indios, der Schwarzen, der Marginalisierten. „Barock” ist für ihn wie für Alejo Carpentier Inbegriff der kulturellen Vermischungen und der Karnevalisierung hergebrachter Bedeutungen. Kakophon wuchern seine (Sprach)Tropen – 40 Kapitel lang. Im ehrgeizigen Oberst Lustosa hat die gute Gesellschaft ihr pathetisches Sprachrohr und einen rhetorischen Feuerdrachen gefunden, der sich freilich von keinem an der Leine halten lässt bei seinen Putschabsichten. Auch sein Gegenspieler, der Mischling Balduino Galo Mau („Böser Hahn”), ist trotz seines Pidgin-Portugiesisch nicht auf den Mund gefallen; seine Mängel in klassischer Rhetorik macht er in dem von ihm angeführten Aufstand mehr als wett mit herrlichen Schimpfwortkaskaden.
Aber die rettende Figur gibt es nicht. Balduino erkennt die Annehmlichkeiten der Zivilisation und der persönlichen Bereicherung. Ein Quilombo kommt vor – als Gulag für entflohene Sklaven, groteskes Zerrbild jener Ikone, die die Schwarzenbewegung von heute pathetisch beschwört –, barbarischer noch als die Abkömmlinge der Portugiesen, deren Elite als Bande korrupter Honoratioren karikiert wird. Bei aller Gewalttätigkeit im Roman hat Ribeiro, getreu der Weltsicht des brasilianischen Barock, ein Drama ohne eigentliche Tragik geschrieben.
Aus dem Blickwinkel des barocken Ironikers sieht der Autor zu, wie die drängende Triebnatur der Menschen, ihre Geilheit und Raffgier, alle Ordnung unterläuft – jedenfalls die europäische in den Tropen. Dem Neuen aber kann sich öffnen, wer sich dem Ruf der Liebe nicht verschließt oder wer von weit herkommend die Stunde Null seines Lebens sucht, wie Hans Flußufer aus Schweinfurt, der in einem Scheißkübel versteckt einem Autodafé entkommt und als Gestrandeter auf der Pfaueninsel seine Schwermut verliert. Am Ende entdecken fünf brasilianische Freunde gemeinsam das „Loch der Zeit”, eine Wells’sche Zeitmaschine – nach Tropenart versteht sich. Aber auch mit ihrer Hilfe können sie, ungeachtet des philosophischen Tiefsinns von Hans, das Rad der Zeit nur vor- oder zurückrollen.
HANNO ZICKGRAF
JOAO UBALDO RIBEIRO: Das Wunder der Pfaueninsel. Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. C. H. Beck Verlag, München 1999. 308 Seiten, 44 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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