Sozialwissenschaftliche Debatten über globale Verflechtungen zwischen den 1960er und den 1980er Jahren.Ab den späten 1960er Jahren diskutierten Zeitgenossen intensiv über globale Verflechtungen in Weltpolitik und Weltwirtschaft. Mehr als ein Jahrzehnt vor dem Einsetzen der Globalisierungsdebatte erklärten sie ihre Gegenwart zum »Zeitalter der Interdependenz«. Martin Deuerlein untersucht für die USA und die Sowjetunion erstmals umfassend solche globalistischen Gegenwartsdiagnosen in den Sozialwissenschaften und ihre Wechselwirkungen mit der internationalen Politik. Der Autor zeigt, wie das im 19. Jahrhundert etablierte Verständnis von Interdependenz als Verflechtung nationaler Einheiten ab den 1960er Jahren hinterfragt wurde. Die Zunahme von Welthandel und Finanzströmen, »globale Probleme« wie Hunger und Umweltverschmutzung und die neue Bedeutung multinationaler Unternehmen und anderer transnationaler Akteure ließen Beobachter an bisherigen Annahmen zweifeln. Vor dem Hintergrund des Ost-West- und des Nord-Süd-Konflikts wirkte globale Verflechtung zunehmend bedrohlich und schien neue politische Ansätze zu erfordern. Wie eine den gewandelten Rahmenbedingungen angepasste Weltordnung jedoch aussehen sollte, war heftig umstritten - eine Frage, die bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren hat.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2021Was ist und zu welchem Ende ...
... studieren wir "Interdependenz"? - Begriffsklärungen im Säurebad der Historisierung
Wer heute von "Interdependenz" spricht, wird außer bei einigen Spezialisten und Studenten der Politikwissenschaft, die sich mit den Theorien internationaler Beziehungen befassen, irritierte Blicke auf sich ziehen. Ganz anders im Falle von "Globalisierung": Dieses Schlagwort ist ubiquitär, jeder kann sich darunter etwas vorstellen. Es bezeichnet so etwas wie die zentrale Signatur unseres Zeitalters, jener Epoche, die nach dem Ende des Kalten Krieges vor rund dreißig Jahren anbrach und nach wie vor unsere Gegenwart prägt. 1998 hieß es in der weitverbreiteten Zeitungsanzeige einer Investmentbank: "Die Welt ist zehn Jahre alt. Ihre Geburtsstunde war der Fall der Mauer im Jahr 1989."
Martin Deuerlein zitiert in seiner Tübinger Dissertation diese und andere zeitdiagnostische Sichtweisen, die dem Säurebad der Historisierung allerdings nicht standhalten, wie der Autor anhand der Begriffs- und Ideengeschichte der Interdependenz mustergültig vorexerziert. Nicht die Jahrzehnte nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, sondern die siebziger Jahre waren demnach die "entscheidende Umbruchsphase", in der sich ein neues Bewusstsein für globale Zusammenhänge herausbildete. Der Terminus "Interdependenz" avancierte während der 1970er Jahre zu einem Schlüsselbegriff. Er beschreibt den Zustand eines internationalen Systems, das nunmehr einem schwer zu entwirrenden globalen Geflecht aus transnationalen Akteuren, Ebenen, Netzwerken und Strömen glich.
Blickt man mit Deuerlein auf die Geschichte des Begriffs und des ihn umgebenden semantischen Felds, so war darin ein "Deutungsbruch" mit dem "hochmodernen" Interdependenz-Verständnis zu erkennen. Darin spielten nationalstaatlich abgegrenzte Einheiten eine Führungsrolle. Sie kannten und steuerten Handel und Arbeitsteilung im internationalen Maßstab und wurden vom Glauben an Fortschritt und gesellschaftliche Evolution (später "Modernisierung") geleitet.
Diese Grundauffassung reichte bis weit ins 19. Jahrhundert zurück und geriet erst im Verlauf der sechziger Jahre ins Wanken. John F. Kennedy empfand diese Periode des Übergangs, wie er 1963 in der Frankfurter Paulskirche sagte, als ein Zeitalter der "interdependence" wie der "independence", des Internationalismus wie des Nationalismus. Manchem Beobachter erschienen jene Jahre als Orientierungskrise, die im Herbst 1973 mit dem "Ölschock" einen Höhepunkt erreichte. Die Rede von einer "schrumpfenden", gleichwohl immer komplexeren, kaum noch steuerbaren, zwischen globaler Gemeinschaft und Fragmentierung oszillierenden, in jedem Fall interdependenten Welt war allseits zu vernehmen: in Sozialwissenschaften, Politik und Medienöffentlichkeit. Deuerlein zeichnet entsprechende Diskurse bis in feinste Ziselierungen nach. Das sorgt für manche Redundanz, die durch die exemplarische Vertiefung anhand prägnanter Beispiele hätte vermieden werden können.
Zu den großen Stärken von Deuerleins Studie gehört es aber, eine Ideengeschichte des globalen Denkens zu präsentieren, die Theorie und Praxis, Wissenschafts- und Politikgeschichte, Expertendiskurse und politisches Handeln zueinander in Beziehung setzt. Fachliches Knowhow erschien umso stärker vonnöten, als die vielfältige Verflechtung der "Weltgesellschaft", wie Niklas Luhmann in seinem gleichnamigen Text von 1971 notierte, ohne Widerspruch als Tatsache angenommen werde, die "begriffliche Konstruktion dieses Zusammenhanges und dessen genaueres Verständnis" jedoch "beträchtliche Schwierigkeiten" bereiteten. Der amerikanische Politikwissenschaftler James Rosenau wünschte sich daher zu derselben Zeit eine Art Einstein herbei, um die Neuartigkeit weltweiter Strukturen und Interaktionen konzeptionell in den Griff zu bekommen. Rund zwei Jahrzehnte später beklagte auch der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow, wie ungeeignet hergebrachte geopolitische Interpretationsmuster in der "heutigen gegenseitig abhängigen Welt" seien, nämlich so "hilflos wie Gesetze der klassischen Mechanik in der Quantentheorie".
Unter Auswertung umfangreicher Literatur und zahlreicher Archivbestände gelingt es Deuerlein, insbesondere für die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion die Rolle von Experten als gedanklichen Vorbereitern aufzuzeigen. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang am Beispiel der "Trilateralen Kommission", die 1973 auf Initiative Zbigniew Brzezinskis und David Rockefellers als Thinktank nordamerikanischer, westeuropäischer und japanischer Eliten gegründet worden war und maßgeblichen Einfluss auf die "interdependente" Weltsicht des späteren amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter haben sollte. Aber auch sowjetische Wissenschaftler, die zu Beginn der Breschnew-Ära über Prozesse der blocküberschreitenden "wissenschaftlich-technischen Revolution" sinnierten, kamen Jahrzehnte später nochmals unter Gorbatschow zur Geltung. Seine Ideen zu der Gestaltung einer neuen Weltordnung und einem "europäischen Haus" wurden allerdings von der stürmischen Dynamik in der Schlussphase der letztlich weiterhin konfrontativen Ost-West-Konstellation regelrecht weggeweht. Überhaupt blieb das Interdependenz-Denken stark an die jeweiligen Modi des Kalten Krieges gekoppelt. Das eigentliche "Zeitalter der Interdependenz", die "langen 1970er Jahre" zwischen etwa 1968 und 1981, überschnitt sich keineswegs zufällig mit der Entspannungsära.
Gleichwohl wäre es verkehrt, das Zukunftspotenzial von Interdependenz-Ideen jener Jahre zu unterschätzen. Dies mag auch erklären, weshalb Jimmy Carter, der lange als schlechtester Präsident der Vereinigten Staaten galt, vor dem Hintergrund späterer Herausforderungen der "Globalisierung", die er früher als andere politisch meistern wollte, in hellerem Licht erscheint. Was Helmut Schmidt wohl dazu gesagt hätte, der bekanntlich keine hohe Meinung von Carter besaß? Deuerlein lässt den einstigen Bundeskanzler unerwähnt. Dies muss insofern erstaunen, als Schmidt 1975 selbst eine Ära "totaler Interdependenz" ausmachte und später in Amerika einen Band über den Anachronismus nationaler Strategien in einer interdependenten Welt publizierte. Die Ausblendung des "Schmidt Factor", den die "New York Times" 1980 einmal in fast programmatischer Weise festschrieb, ist aber kaum als gewichtiger Vorwurf gegenüber Deuerleins ohnehin detailreicher Studie zu formulieren. Schließlich hat diese mit der Rekonstruktion und Historisierung globalistischer Zeitdiagnosen in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion mehr als genug geleistet.
ALEXANDER GALLUS
Martin Deuerlein: Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 500 S., 46,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
... studieren wir "Interdependenz"? - Begriffsklärungen im Säurebad der Historisierung
Wer heute von "Interdependenz" spricht, wird außer bei einigen Spezialisten und Studenten der Politikwissenschaft, die sich mit den Theorien internationaler Beziehungen befassen, irritierte Blicke auf sich ziehen. Ganz anders im Falle von "Globalisierung": Dieses Schlagwort ist ubiquitär, jeder kann sich darunter etwas vorstellen. Es bezeichnet so etwas wie die zentrale Signatur unseres Zeitalters, jener Epoche, die nach dem Ende des Kalten Krieges vor rund dreißig Jahren anbrach und nach wie vor unsere Gegenwart prägt. 1998 hieß es in der weitverbreiteten Zeitungsanzeige einer Investmentbank: "Die Welt ist zehn Jahre alt. Ihre Geburtsstunde war der Fall der Mauer im Jahr 1989."
Martin Deuerlein zitiert in seiner Tübinger Dissertation diese und andere zeitdiagnostische Sichtweisen, die dem Säurebad der Historisierung allerdings nicht standhalten, wie der Autor anhand der Begriffs- und Ideengeschichte der Interdependenz mustergültig vorexerziert. Nicht die Jahrzehnte nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, sondern die siebziger Jahre waren demnach die "entscheidende Umbruchsphase", in der sich ein neues Bewusstsein für globale Zusammenhänge herausbildete. Der Terminus "Interdependenz" avancierte während der 1970er Jahre zu einem Schlüsselbegriff. Er beschreibt den Zustand eines internationalen Systems, das nunmehr einem schwer zu entwirrenden globalen Geflecht aus transnationalen Akteuren, Ebenen, Netzwerken und Strömen glich.
Blickt man mit Deuerlein auf die Geschichte des Begriffs und des ihn umgebenden semantischen Felds, so war darin ein "Deutungsbruch" mit dem "hochmodernen" Interdependenz-Verständnis zu erkennen. Darin spielten nationalstaatlich abgegrenzte Einheiten eine Führungsrolle. Sie kannten und steuerten Handel und Arbeitsteilung im internationalen Maßstab und wurden vom Glauben an Fortschritt und gesellschaftliche Evolution (später "Modernisierung") geleitet.
Diese Grundauffassung reichte bis weit ins 19. Jahrhundert zurück und geriet erst im Verlauf der sechziger Jahre ins Wanken. John F. Kennedy empfand diese Periode des Übergangs, wie er 1963 in der Frankfurter Paulskirche sagte, als ein Zeitalter der "interdependence" wie der "independence", des Internationalismus wie des Nationalismus. Manchem Beobachter erschienen jene Jahre als Orientierungskrise, die im Herbst 1973 mit dem "Ölschock" einen Höhepunkt erreichte. Die Rede von einer "schrumpfenden", gleichwohl immer komplexeren, kaum noch steuerbaren, zwischen globaler Gemeinschaft und Fragmentierung oszillierenden, in jedem Fall interdependenten Welt war allseits zu vernehmen: in Sozialwissenschaften, Politik und Medienöffentlichkeit. Deuerlein zeichnet entsprechende Diskurse bis in feinste Ziselierungen nach. Das sorgt für manche Redundanz, die durch die exemplarische Vertiefung anhand prägnanter Beispiele hätte vermieden werden können.
Zu den großen Stärken von Deuerleins Studie gehört es aber, eine Ideengeschichte des globalen Denkens zu präsentieren, die Theorie und Praxis, Wissenschafts- und Politikgeschichte, Expertendiskurse und politisches Handeln zueinander in Beziehung setzt. Fachliches Knowhow erschien umso stärker vonnöten, als die vielfältige Verflechtung der "Weltgesellschaft", wie Niklas Luhmann in seinem gleichnamigen Text von 1971 notierte, ohne Widerspruch als Tatsache angenommen werde, die "begriffliche Konstruktion dieses Zusammenhanges und dessen genaueres Verständnis" jedoch "beträchtliche Schwierigkeiten" bereiteten. Der amerikanische Politikwissenschaftler James Rosenau wünschte sich daher zu derselben Zeit eine Art Einstein herbei, um die Neuartigkeit weltweiter Strukturen und Interaktionen konzeptionell in den Griff zu bekommen. Rund zwei Jahrzehnte später beklagte auch der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow, wie ungeeignet hergebrachte geopolitische Interpretationsmuster in der "heutigen gegenseitig abhängigen Welt" seien, nämlich so "hilflos wie Gesetze der klassischen Mechanik in der Quantentheorie".
Unter Auswertung umfangreicher Literatur und zahlreicher Archivbestände gelingt es Deuerlein, insbesondere für die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion die Rolle von Experten als gedanklichen Vorbereitern aufzuzeigen. Am deutlichsten wird dieser Zusammenhang am Beispiel der "Trilateralen Kommission", die 1973 auf Initiative Zbigniew Brzezinskis und David Rockefellers als Thinktank nordamerikanischer, westeuropäischer und japanischer Eliten gegründet worden war und maßgeblichen Einfluss auf die "interdependente" Weltsicht des späteren amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter haben sollte. Aber auch sowjetische Wissenschaftler, die zu Beginn der Breschnew-Ära über Prozesse der blocküberschreitenden "wissenschaftlich-technischen Revolution" sinnierten, kamen Jahrzehnte später nochmals unter Gorbatschow zur Geltung. Seine Ideen zu der Gestaltung einer neuen Weltordnung und einem "europäischen Haus" wurden allerdings von der stürmischen Dynamik in der Schlussphase der letztlich weiterhin konfrontativen Ost-West-Konstellation regelrecht weggeweht. Überhaupt blieb das Interdependenz-Denken stark an die jeweiligen Modi des Kalten Krieges gekoppelt. Das eigentliche "Zeitalter der Interdependenz", die "langen 1970er Jahre" zwischen etwa 1968 und 1981, überschnitt sich keineswegs zufällig mit der Entspannungsära.
Gleichwohl wäre es verkehrt, das Zukunftspotenzial von Interdependenz-Ideen jener Jahre zu unterschätzen. Dies mag auch erklären, weshalb Jimmy Carter, der lange als schlechtester Präsident der Vereinigten Staaten galt, vor dem Hintergrund späterer Herausforderungen der "Globalisierung", die er früher als andere politisch meistern wollte, in hellerem Licht erscheint. Was Helmut Schmidt wohl dazu gesagt hätte, der bekanntlich keine hohe Meinung von Carter besaß? Deuerlein lässt den einstigen Bundeskanzler unerwähnt. Dies muss insofern erstaunen, als Schmidt 1975 selbst eine Ära "totaler Interdependenz" ausmachte und später in Amerika einen Band über den Anachronismus nationaler Strategien in einer interdependenten Welt publizierte. Die Ausblendung des "Schmidt Factor", den die "New York Times" 1980 einmal in fast programmatischer Weise festschrieb, ist aber kaum als gewichtiger Vorwurf gegenüber Deuerleins ohnehin detailreicher Studie zu formulieren. Schließlich hat diese mit der Rekonstruktion und Historisierung globalistischer Zeitdiagnosen in den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion mehr als genug geleistet.
ALEXANDER GALLUS
Martin Deuerlein: Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 500 S., 46,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Alexander Gallus hält Martin Deuerleins Dissertation über die Geschichte des Begriffs "Interdependenz" und sein Zeitalter für augenöffnend. Ideengeschichtlich kehrt er mit Deuerlein zurück in die siebziger Jahre, als globales Denken einsetzte. Deuerleins Recherchearbeit preisend, erkennt Gallus die Spindocs der Bewegung in den USA und in der Sowjetunion sowie ihre weitreichende Wirkung. Dass in diesem Zusammenhang Helmut Schmidt im Buch unerwähnt bleibt, merkt der Rezensent kritisch, aber ob des Detailreichtums der Arbeit doch nachsichtig an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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