... Aber deswegen musst du dich doch nicht gleich tot stellen, Leonhard«, hatte sein Klavierlehrer einmal gesagt.Silvester verbringt der achtzehnjährige Leonhard allein im Haus seiner Eltern. Am Neujahrsmorgen kommt das Leben dann einfach zu ihm: Eine fremde Frau schläft auf dem Boden in der Diele. In der nächsten Nacht schläft Leonhard mit ihr im Gästezimmer. Emilie und Maria hingegen, beide über siebzig, sind unternehmungslustig, wenn auch den Ereignissen auf ihrer Reise in ein tschechisches Kurhotel nicht mehr ganz gewachsen. War es wirklich ein Klavierlehrer, der sie dorthin fuhr, und hat er tatsächlich betrunken die Nacht im Bett zwischen den alten Damen verbracht? In einem Reigen aus elf Episoden erleben Judith Kuckarts Figuren Unerhörtes. Es gibt ihrem Leben eine unerwartete Wendung und dem Leser eine Ahnung, dass alles zusammengehört: Lust und Schrecken, Liebe und Tod, Schuld und Glück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2015Schwachstelle Seele
Angst vor Leben: Judith Kuckarts Reigenroman
Die Beiläufigkeit, mit der sich das Leben ins Leben einzuschleichen vermag, ist manchmal ebenso atemberaubend wie das Tempo, mit der es einem wieder durch die Lappen geht. Umso gewöhnlicher sind die Menschen, von denen die in Berlin und Zürich lebende Autorin Judith Kuckart, deren Texten man immer anzumerken meint, dass sie über das Tanzen zum Schreiben fand, in ihrem Roman "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" erzählt.
Kuckart stellt uns einen blassen VWL-Studenten vor, der am liebsten seelenlos wär' - weil die Seele "eine ewige Schwachstelle" ist. Zwei alternde Lehrerinnen, die darauf setzen, dass der Tag ihrer Begegnung vom "großen Radiergummi im Kopf" als "letzter ausradiert" wird. Eine Bäckerei-Aushilfe, die ein Staubsaugervertreter als Gesicht der Aktion "Runter vom Gas" erkennt. Oder den Vertriebsleiter eines Fachverlags, der an eine Frau denkt, die Selbstmord beging. In ihrem Abschiedsbrief stand "dies und das", und "dass jemand bitte noch die Pfandflaschen zurückbringen soll". Es sind alles Figuren, die sich nach Poesie und Körperlichkeit sehnen. Und doch bekommen die wenigsten von ihnen den Alltag mit seinen Routinen, die Banalitäten des Daseins und ihre Ängste aus dem Kopf. Das hemmt sie selbst beim Sex, der sich mal ereignet und mal nicht. Nur das Kino macht tatsächlich frei.
Mit federleichten, jeden Anflug von Pathos verscheuchenden Sätzen baut Judith Kuckart dabei eine Episode nach der anderen vor uns auf. Dass sie lose zusammenhängen, wird uns klar, als wiederholt von einem attraktiven Klavierlehrer die Rede ist. Nur wie? Eine Weile ist die gewählte Reigenform sicher einnehmend. Allerdings führt sie dazu, dass man das variantenreich dahintänzelnde, von minzfrischen Dialogen, lakonischen Beobachtungen und philosophischen Dehnübungen getragene Buch nur liest, um es nach der letzten Seite (und einem Verbrechen, das ebenfalls nur gestreift wird) wegzulegen, als ob nichts gewesen wäre. Wie schwer zu fassen doch selbst das Leseglück ist.
math.
Judith Kuckart: "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück". Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2015. 220 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Angst vor Leben: Judith Kuckarts Reigenroman
Die Beiläufigkeit, mit der sich das Leben ins Leben einzuschleichen vermag, ist manchmal ebenso atemberaubend wie das Tempo, mit der es einem wieder durch die Lappen geht. Umso gewöhnlicher sind die Menschen, von denen die in Berlin und Zürich lebende Autorin Judith Kuckart, deren Texten man immer anzumerken meint, dass sie über das Tanzen zum Schreiben fand, in ihrem Roman "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" erzählt.
Kuckart stellt uns einen blassen VWL-Studenten vor, der am liebsten seelenlos wär' - weil die Seele "eine ewige Schwachstelle" ist. Zwei alternde Lehrerinnen, die darauf setzen, dass der Tag ihrer Begegnung vom "großen Radiergummi im Kopf" als "letzter ausradiert" wird. Eine Bäckerei-Aushilfe, die ein Staubsaugervertreter als Gesicht der Aktion "Runter vom Gas" erkennt. Oder den Vertriebsleiter eines Fachverlags, der an eine Frau denkt, die Selbstmord beging. In ihrem Abschiedsbrief stand "dies und das", und "dass jemand bitte noch die Pfandflaschen zurückbringen soll". Es sind alles Figuren, die sich nach Poesie und Körperlichkeit sehnen. Und doch bekommen die wenigsten von ihnen den Alltag mit seinen Routinen, die Banalitäten des Daseins und ihre Ängste aus dem Kopf. Das hemmt sie selbst beim Sex, der sich mal ereignet und mal nicht. Nur das Kino macht tatsächlich frei.
Mit federleichten, jeden Anflug von Pathos verscheuchenden Sätzen baut Judith Kuckart dabei eine Episode nach der anderen vor uns auf. Dass sie lose zusammenhängen, wird uns klar, als wiederholt von einem attraktiven Klavierlehrer die Rede ist. Nur wie? Eine Weile ist die gewählte Reigenform sicher einnehmend. Allerdings führt sie dazu, dass man das variantenreich dahintänzelnde, von minzfrischen Dialogen, lakonischen Beobachtungen und philosophischen Dehnübungen getragene Buch nur liest, um es nach der letzten Seite (und einem Verbrechen, das ebenfalls nur gestreift wird) wegzulegen, als ob nichts gewesen wäre. Wie schwer zu fassen doch selbst das Leseglück ist.
math.
Judith Kuckart: "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück". Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2015. 220 S., geb., 19,99 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Zur Spurenleserin wird Martina Läubli beim Lesen von Judith Kuckarts Roman, der für Läubli eigentlich ein Erzählband ist. Lauter Geschichten von mehr oder minder traurigen Menschen in Stuttgart, Berlin oder Dresden, die doch noch das Glück finden oder mit den kalten Gleisen vorlieb nehmen. Sehnsucht scheint Läubli das Schlüsselwort. Es gibt noch weitere Bezüge zwischen den Figuren und Geschichten, Gepäckstücke oder das Land Belgien, und fast fühlt sich die Rezensentin in einer kriminalistischen Angelegenheit unterwegs. Dass die Autorin kein lückenloses Netz zwischen den Erzählungen knüpft, findet sie recht raffiniert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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