Minnesota zur Zeit Ronald Reagans. Justin Cobb ist vierzehn, sein Zahnarzt nennt ihn den 'King Kong der oralen Obsessionen'. Justin ist Daumenlutscher, nur mit dem Daumen im Mund fühlt er sich komplett. Sehr zum Verdruss seines Vaters Mike, Jäger und Sportfanatiker, ein waschechter Macho, der seine Familie nur 'Leute' nennt. Mike will die überbissbedingten Zahnarztrechnungen nicht mehr bezahlen und ordnet eine Hypnosebehandlung an, mit Erfolg. Justin muss auf seinen Daumen verzichten. Doch nicht nur er, jedes Mitglied der Familie Cobb hat eine innere Leere zu füllen. Mike muss jedes Jahr eine Hirschkuh erlegen. Audrey, Justins viel zu schöne Mutter, träumt von einem Rendezvous mit Don Johnson. Joel, sein kleiner Bruder, wird Tennis-Freak und ist fixiert auf Designerklamotten. Eine ganz normale amerikanische Familie also. Allein Justin spürt, auf welch schmalem Grat sich das nach außen intakte Familienleben bewegt. Als die bekannten Pubertätsüberlebenshilfen wie Aufputschmitte l, Sex, Alkohol und Hasch versagen, ergreift Justin die Initiative, um seine offenbar völlig überforderten Eltern zur Vernunft und damit das Familienleben einigermaßen ins Lot zu bringen. Skurril, irre komisch und herzergreifend - Justin Cobb ist garantiert der liebenswerteste Daumenlutscher der zeitgenössischen Literatur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.05.2001Kultur:
DER DÄUMLING.
Neurotisch, aber gut: Walter Kirns Debütroman 'Daumenlutscher' erzählt von Drogen und der Liebe zu Mormonen.
Der 14-jährige Justin Cobb sei der 'liebenswerteste Daumenlutscher der zeitgenössischen Literatur', schreibt sein Verlag. Aber ist diese merkwürdige Anpreisung richtig? Zu Beginn wird man nicht schlau aus dem erst mal etwas eindimensional gezeichneten Helden Justin Cobb mit seinem ungesunden Hang zu Psychopharmaka: Da geht es um eine Jugend im Mittleren Westen der USA, zur Zeit von Ronald Reagan. Justin ist mit einer begehrenswerten Mutter und einem verqueren Vater geschlagen. Er nuckelt gern an seinem Daumen und steigt nach einer Hypnosetherapie auf Zigaretten und Ritalin um. Die Familie als Ganzes hingegen steigt von Seitensprungphantasien mit Stars aufs Mormonentum um. Wollten wir nicht immer mehr über das Innenleben amerikanischer Sekten wissen? Und gerade da wird's interessant, die Charaktere blühen auf. Gerade überlegt Justin noch Folgendes: 'Im Gegensatz zu den Mädchen in meiner Schule hatten mormonische Mädchen eine frühreife Selbstsicherheit. Sie sprachen mit tiefer Stimme und benutzten Mascara. Sie trugen fast nie Turnschuhe, sondern immer Schuhe mit Absätzen und cremten sich ständig die Hände.' Da wird er auch schon von einer von ihnen kunstvoll verführt. Und weil sich das Mädchen über den chemikalischen Geschmack seiner Lippen beschwert, setzt Justin das Ritalin ab. Am Ende lässt er dann noch die Hypnosetherapie rückgängig machen, ganz so, als sollten neuere psychoanalytische Theorien bestätigt werden, die behaupten, das Verkorkst-Neurotische sei das, was einen überhaupt zusammenhält. Und auf dem Flug nach New York, wo er eigentlich missionieren soll, wird er auf eine attraktive Sitznachbarin aufmerksam, lutscht am Daumen und streift die verräterischen Abzeichen der Religion ab. Und weil all diese Justin-Veränderungen so schön beschrieben sind, atmet auch der Leser den Wind der Befreiung, wenn der den 'Daumenlutscher' ausgelesen hat. Ein gutes Buch also.
Marco Stahlhut
Autor Walter Kirn Buch Daumenlutscher Verlag KiWi
Foto: Achim Hatzius
ICH UND MEIN MAGNUM?
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DER DÄUMLING.
Neurotisch, aber gut: Walter Kirns Debütroman 'Daumenlutscher' erzählt von Drogen und der Liebe zu Mormonen.
Der 14-jährige Justin Cobb sei der 'liebenswerteste Daumenlutscher der zeitgenössischen Literatur', schreibt sein Verlag. Aber ist diese merkwürdige Anpreisung richtig? Zu Beginn wird man nicht schlau aus dem erst mal etwas eindimensional gezeichneten Helden Justin Cobb mit seinem ungesunden Hang zu Psychopharmaka: Da geht es um eine Jugend im Mittleren Westen der USA, zur Zeit von Ronald Reagan. Justin ist mit einer begehrenswerten Mutter und einem verqueren Vater geschlagen. Er nuckelt gern an seinem Daumen und steigt nach einer Hypnosetherapie auf Zigaretten und Ritalin um. Die Familie als Ganzes hingegen steigt von Seitensprungphantasien mit Stars aufs Mormonentum um. Wollten wir nicht immer mehr über das Innenleben amerikanischer Sekten wissen? Und gerade da wird's interessant, die Charaktere blühen auf. Gerade überlegt Justin noch Folgendes: 'Im Gegensatz zu den Mädchen in meiner Schule hatten mormonische Mädchen eine frühreife Selbstsicherheit. Sie sprachen mit tiefer Stimme und benutzten Mascara. Sie trugen fast nie Turnschuhe, sondern immer Schuhe mit Absätzen und cremten sich ständig die Hände.' Da wird er auch schon von einer von ihnen kunstvoll verführt. Und weil sich das Mädchen über den chemikalischen Geschmack seiner Lippen beschwert, setzt Justin das Ritalin ab. Am Ende lässt er dann noch die Hypnosetherapie rückgängig machen, ganz so, als sollten neuere psychoanalytische Theorien bestätigt werden, die behaupten, das Verkorkst-Neurotische sei das, was einen überhaupt zusammenhält. Und auf dem Flug nach New York, wo er eigentlich missionieren soll, wird er auf eine attraktive Sitznachbarin aufmerksam, lutscht am Daumen und streift die verräterischen Abzeichen der Religion ab. Und weil all diese Justin-Veränderungen so schön beschrieben sind, atmet auch der Leser den Wind der Befreiung, wenn der den 'Daumenlutscher' ausgelesen hat. Ein gutes Buch also.
Marco Stahlhut
Autor Walter Kirn Buch Daumenlutscher Verlag KiWi
Foto: Achim Hatzius
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"Hier machen Zwangsneurosen Spaß!" (Time Out)