"Ganz Moskau liebt Charms. Du hast schon das ganze Glas Pflaumenmus verputzt. Nur ein Restchen ist noch übrig. Nicht mehr als zwei Löffel. Kratz es aus. Laß das! Stopf dir nicht auch noch die Fleischklöpse rein! Reden wir über Katmandu. Schließlich schwebt diese nicht umsonst mit Moskau durch die Metro verbundene Stadt im Himalaja wie ein Loch im Kosmos." Moskau, die Frauen, der ganz normale Irrsinn des postkommunistischen, neonationalen, knallreichen, mäusearmen Putin-Russland, aber auch Tibet, die Literatur, der Große Vaterländische Krieg: Über all das und noch viel mehr schreibt Jerofejew in diesem eleganten schmalen Band, der aufs Neue seine stilistische Brillanz unter Beweis stellt, aber auch seinen immer etwas anderen Blick. Die Erkenntnisse, die er unaufdringlich in seine Prosa streut, sind bestechend in ihrem Witz, in ihrer Originalität und Präzision. Viktor Jerofejew ist der große Chirurg der russischen Seele, seine Feder scharf wie ein Seziermesser.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2008Moskau skurril
Viktor Jerofejew
So einen Voyeurismus lässt man sich gefallen. Wenn der junge Viktor Jerofejew in den sechziger Jahren mit dem Zug fuhr, hörte und sah er stets genau hin, wer da mit ihm das Viererabteil des Schlafwagens teilte. Was er dabei aufgeschnappt hat, hielt er als zwanzigjähriger Noch-nicht-Schriftsteller in einer kleinen Geschichte fest. Unter dem Titel "Im Vorbeifahren" ist sie inzwischen in seinem Erzählungsband "de profundis" (Berlin Verlag) erschienen: ein drolliges Sammelsurium von Gesprächsfragmenten aus der sowjetischen Gesellschaft, skurril und anrührend menschlich für westliche Zuhörer, zynisch aber offenbar für das postsowjetische Moskauer Publikum, das sich nach Auskunft des Autors darüber echauffiert hatte.
Im Museum für Angewandte Kunst amüsierten sich die Hörer über diesen Text, den der Sprecher Jochen Nix in der Übersetzung von Beate Rausch mit bewährter Empathie vortrug. Im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung des Zarenporzellans war Jerofejew gekommen, um seine Erzählungen aus verschiedenen Schaffensphasen vorzustellen, auch die Titelgeschichte, in der sich das erzählende Ich als Voyeur im Hauptstadtgetriebe outet, denn: "Voyeurismus ist mehr als eine Leidenschaft, eine Berufung." Genau so flaniert der Ich-Erzähler durch Moskau - keine Stadt für Spaziergänger, alle rennen vor dem Tod davon.
Das ist nicht nur in Russland so. "Man muss sich auch den anderen Literaturen aussetzen und den Blick öffnen über die nationale Begrenzung hinaus", sagte der Schriftsteller im Gespräch mit Holger Ehling, der die Matinee moderierte. Insgesamt 35 Werke hat Jerofejew veröffentlicht. Darunter den Roman "Die Moskauer Schönheit", der 1989 bei S. Fischer verlegt wurde, und "Der gute Stalin", eine Doppelbiographie seines Vaters, die zuerst im Feuilleton dieser Zeitung abgedruckt wurde, bevor sie 2004 im Berlin Verlag erschien. Vater Jerofejew hatte sich als Übersetzer Stalins Verdienste erworben und danach im diplomatischen Dienst angeheuert. Nachdem sein unbotmäßiger Sohn Dissidenten-Texte publiziert hatte, verlor er seine Stellung als russischer Botschafter in Wien.
Mit der Geschichte seiner abgeschotteten Familie hatte Viktor Jerofejew ein Sakrileg begangen, für das er in einem öffentlichen Brief an seine Eltern Abbitte leisten musste. Seinen Kritikern im Westen müsste er auch noch manches erklären, zum Beispiel, dass nicht alle seine Erzählungen im postsowjetischen Russland entstanden sind. Doch er nimmt die Rezensionen mit Humor: "Ich kann schon am Fluss der Buchstaben erkennen, ob die Kritik positiv oder negativ ist." Mit solchem Scharfblick war er im Museum für Angewandte Kunst am rechten Ort.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viktor Jerofejew
So einen Voyeurismus lässt man sich gefallen. Wenn der junge Viktor Jerofejew in den sechziger Jahren mit dem Zug fuhr, hörte und sah er stets genau hin, wer da mit ihm das Viererabteil des Schlafwagens teilte. Was er dabei aufgeschnappt hat, hielt er als zwanzigjähriger Noch-nicht-Schriftsteller in einer kleinen Geschichte fest. Unter dem Titel "Im Vorbeifahren" ist sie inzwischen in seinem Erzählungsband "de profundis" (Berlin Verlag) erschienen: ein drolliges Sammelsurium von Gesprächsfragmenten aus der sowjetischen Gesellschaft, skurril und anrührend menschlich für westliche Zuhörer, zynisch aber offenbar für das postsowjetische Moskauer Publikum, das sich nach Auskunft des Autors darüber echauffiert hatte.
Im Museum für Angewandte Kunst amüsierten sich die Hörer über diesen Text, den der Sprecher Jochen Nix in der Übersetzung von Beate Rausch mit bewährter Empathie vortrug. Im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung des Zarenporzellans war Jerofejew gekommen, um seine Erzählungen aus verschiedenen Schaffensphasen vorzustellen, auch die Titelgeschichte, in der sich das erzählende Ich als Voyeur im Hauptstadtgetriebe outet, denn: "Voyeurismus ist mehr als eine Leidenschaft, eine Berufung." Genau so flaniert der Ich-Erzähler durch Moskau - keine Stadt für Spaziergänger, alle rennen vor dem Tod davon.
Das ist nicht nur in Russland so. "Man muss sich auch den anderen Literaturen aussetzen und den Blick öffnen über die nationale Begrenzung hinaus", sagte der Schriftsteller im Gespräch mit Holger Ehling, der die Matinee moderierte. Insgesamt 35 Werke hat Jerofejew veröffentlicht. Darunter den Roman "Die Moskauer Schönheit", der 1989 bei S. Fischer verlegt wurde, und "Der gute Stalin", eine Doppelbiographie seines Vaters, die zuerst im Feuilleton dieser Zeitung abgedruckt wurde, bevor sie 2004 im Berlin Verlag erschien. Vater Jerofejew hatte sich als Übersetzer Stalins Verdienste erworben und danach im diplomatischen Dienst angeheuert. Nachdem sein unbotmäßiger Sohn Dissidenten-Texte publiziert hatte, verlor er seine Stellung als russischer Botschafter in Wien.
Mit der Geschichte seiner abgeschotteten Familie hatte Viktor Jerofejew ein Sakrileg begangen, für das er in einem öffentlichen Brief an seine Eltern Abbitte leisten musste. Seinen Kritikern im Westen müsste er auch noch manches erklären, zum Beispiel, dass nicht alle seine Erzählungen im postsowjetischen Russland entstanden sind. Doch er nimmt die Rezensionen mit Humor: "Ich kann schon am Fluss der Buchstaben erkennen, ob die Kritik positiv oder negativ ist." Mit solchem Scharfblick war er im Museum für Angewandte Kunst am rechten Ort.
CLAUDIA SCHÜLKE
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006Toter Hecht
Viktor Jerofejew in seinem Erzählband „De profundis”
Die Stadt breitet sich aus „wie eine Epidemie”. Moskau ist ein „Vielfraß, der wahllos alles verschlingt”. Die alten Stadtpläne stimmen nicht mehr. Unmöglich, sich hier zu orientieren: „Wir verwirren den Feind und verwirren damit teilweise uns selbst.” Von dieser allgemeinen Verwirrung, vor allem aber von seiner eigenen, legt Viktor Jerofejew in dem kleinen Erzählungsband „de profundis” Zeugnis ab. Auf Sinn oder Logik darf man dabei nicht hoffen. Der Leser muss bereit sein, durch eine Trümmerlandschaft zu spazieren. Allenfalls sexuelle Phantasien und männliche Prahlerei geben noch einen gewissen Halt.
Jerofejew fühlt sich wohl im Verfall. Wo keine Regeln mehr gelten, übernimmt der Erzähler die Macht. In der Geschichte „Wangenknochen und Nase und eine Schlucht” würgt er die Handlung mutwillig ab und setzt neu ein, zaubert ein Mädchen mit kupferroten Haaren aus dem Hut, zitiert eine Figur aus der „Rohfassung” herbei und lässt sie wieder verschwinden, oder fällt, wenn ihm alles zu unübersichtlich wird, einfach ins Delirium und erteilt sich die Lizenz zum Unsinn: „Sie starb leicht und österlich, wie es heutzutage nur noch Grundschullehrerinnen tun.”
Schöne, kaputte Welt, in der allein der Autor über Sein und Nichtsein bestimmt. Dieser selbstherrliche Gestus mag vor 20 Jahren in der späten Sowjetunion als Provokation empfunden worden sein, als die erzählerischen Normen realistischer Biedermeierei herrschten. In der Nachwendezeit wurde die Arroganz des inszenierten Subjektivismus zur Mode, in Deutschland feierte man das Rebellentum mit Russenmütze als Avantgarde. Inzwischen wirkt ein Autor, der unentwegt damit beschäftigt ist, die eigene Gelenkigkeit vorzuführen, nur noch eitel. Mitzuteilen hat er nicht mehr viel, außer der einen, alles überdröhnenden Botschaft, was für ein toller Hecht er doch sei. Und der Anti-Realismus tarnt seine Schlampigkeit.
Die Titelgeschichte „de profundis” ist die mit Abstand beste. Der Erzähler verirrt sich da in einen „vergessenen Stadtteil” und entdeckt in einem Schaufenster Kindersärge, in denen schöne Puppen liegen – ein „Negerkind” und ein blondlockiges Mädchen. Er sieht darin nicht einfach Werbung für Beerdigungsausstattungen, sondern „Todespropaganda, nicht im Sinne einer Existenz der Seele über das Grab hinaus, sondern einer himmelschreiend fleischlichen Existenz innerhalb des Grabes.” Der Titel „de profundis” verweist auf die Anfangsworte aus dem 130. Psalm: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Herr höre meine Stimme!” Doch in Jerofejews Moskauer Sündenbabel gibt es keinen Gott, an den man sich wenden könnte. Der Himmel ist leer, das Fleisch schwach. Und Jerofejews Glaubensbekenntnis eher schlicht. Es lautet kurz und knackig: „Ich liebe Fotzen”. Wie im Porno läuft fast jede Erzählung auf die Entblätterung des weiblichen Körpers hinaus. In postpotenter Kraftmeierei bläst der Erzähler sich zur Hirschchengröße auf, schließlich lässt er eine Fotografin als Repräsentantin avantgardistischer Kunst auftreten, die sich auf die Abbildung von Jungfernhäutchen spezialisiert hat. Aus der Hymen-Form kann sie die Klassenzugehörigkeit der Trägerinnen ablesen: Arbeiterinnen haben runde, Bäuerinnen eher ovale Häutchen. Hohn und Spott also auf marxistische Klassenlehre und historisches Denken. O weh. Solche in die Jahre gekommene Scherze schmecken heute ranzig und dürften auch russische Grundschullehrerinnen kaum noch provozieren. Jörg Magenau
Viktor Jerofejew
De profundis
Erzählungen. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2006. 136 Seiten, 16 Euro.
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Viktor Jerofejew in seinem Erzählband „De profundis”
Die Stadt breitet sich aus „wie eine Epidemie”. Moskau ist ein „Vielfraß, der wahllos alles verschlingt”. Die alten Stadtpläne stimmen nicht mehr. Unmöglich, sich hier zu orientieren: „Wir verwirren den Feind und verwirren damit teilweise uns selbst.” Von dieser allgemeinen Verwirrung, vor allem aber von seiner eigenen, legt Viktor Jerofejew in dem kleinen Erzählungsband „de profundis” Zeugnis ab. Auf Sinn oder Logik darf man dabei nicht hoffen. Der Leser muss bereit sein, durch eine Trümmerlandschaft zu spazieren. Allenfalls sexuelle Phantasien und männliche Prahlerei geben noch einen gewissen Halt.
Jerofejew fühlt sich wohl im Verfall. Wo keine Regeln mehr gelten, übernimmt der Erzähler die Macht. In der Geschichte „Wangenknochen und Nase und eine Schlucht” würgt er die Handlung mutwillig ab und setzt neu ein, zaubert ein Mädchen mit kupferroten Haaren aus dem Hut, zitiert eine Figur aus der „Rohfassung” herbei und lässt sie wieder verschwinden, oder fällt, wenn ihm alles zu unübersichtlich wird, einfach ins Delirium und erteilt sich die Lizenz zum Unsinn: „Sie starb leicht und österlich, wie es heutzutage nur noch Grundschullehrerinnen tun.”
Schöne, kaputte Welt, in der allein der Autor über Sein und Nichtsein bestimmt. Dieser selbstherrliche Gestus mag vor 20 Jahren in der späten Sowjetunion als Provokation empfunden worden sein, als die erzählerischen Normen realistischer Biedermeierei herrschten. In der Nachwendezeit wurde die Arroganz des inszenierten Subjektivismus zur Mode, in Deutschland feierte man das Rebellentum mit Russenmütze als Avantgarde. Inzwischen wirkt ein Autor, der unentwegt damit beschäftigt ist, die eigene Gelenkigkeit vorzuführen, nur noch eitel. Mitzuteilen hat er nicht mehr viel, außer der einen, alles überdröhnenden Botschaft, was für ein toller Hecht er doch sei. Und der Anti-Realismus tarnt seine Schlampigkeit.
Die Titelgeschichte „de profundis” ist die mit Abstand beste. Der Erzähler verirrt sich da in einen „vergessenen Stadtteil” und entdeckt in einem Schaufenster Kindersärge, in denen schöne Puppen liegen – ein „Negerkind” und ein blondlockiges Mädchen. Er sieht darin nicht einfach Werbung für Beerdigungsausstattungen, sondern „Todespropaganda, nicht im Sinne einer Existenz der Seele über das Grab hinaus, sondern einer himmelschreiend fleischlichen Existenz innerhalb des Grabes.” Der Titel „de profundis” verweist auf die Anfangsworte aus dem 130. Psalm: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Herr höre meine Stimme!” Doch in Jerofejews Moskauer Sündenbabel gibt es keinen Gott, an den man sich wenden könnte. Der Himmel ist leer, das Fleisch schwach. Und Jerofejews Glaubensbekenntnis eher schlicht. Es lautet kurz und knackig: „Ich liebe Fotzen”. Wie im Porno läuft fast jede Erzählung auf die Entblätterung des weiblichen Körpers hinaus. In postpotenter Kraftmeierei bläst der Erzähler sich zur Hirschchengröße auf, schließlich lässt er eine Fotografin als Repräsentantin avantgardistischer Kunst auftreten, die sich auf die Abbildung von Jungfernhäutchen spezialisiert hat. Aus der Hymen-Form kann sie die Klassenzugehörigkeit der Trägerinnen ablesen: Arbeiterinnen haben runde, Bäuerinnen eher ovale Häutchen. Hohn und Spott also auf marxistische Klassenlehre und historisches Denken. O weh. Solche in die Jahre gekommene Scherze schmecken heute ranzig und dürften auch russische Grundschullehrerinnen kaum noch provozieren. Jörg Magenau
Viktor Jerofejew
De profundis
Erzählungen. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Berlin Verlag, Berlin 2006. 136 Seiten, 16 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jörg Magenau kann den in diesem Band versammelten Erzählungen von Viktor Jerofejew nichts Gutes abgewinnen. Er wird den Verdacht nicht los, jemand, der so logikfern und sinnlos daher schwadroniere, wolle ohnehin nur demonstrieren, was für ein "toller Hecht" er sei. Vielleicht hätte man die Erzählhaltung des russischen Autors, der seine Figuren vollkommen willkürlich und ohne Rücksicht auf die Handlungslogik leben und sterben lässt, im sozialistischen Realismus als provokant empfunden, heute lockt das genauso wenig jemanden hinter dem Ofen hervor wie die an Pornos gemahnenden Sexszenen, mit denen die Erzählungen gespickt sind, so der Rezensent angeödet. Allenfalls die Titelerzählung "De profundis" lässt Magenau durchgehen, die hält er für die herausragendste des ganzen Bandes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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