Sie hatten die Revolution 1905 scheitern sehen und rechneten mit der russischen Intelligenzija ab, der sie selbst angehörten. In der Niederlage sahen sie die Chance einer radikalen Selbstbesinnung. So beschrieb der Historiker Karl Schlögel das Vorhaben von Autoren wie Pjotr Struwe, einem frühen Weggefährten und späteren Gegenspieler Lenins, der 1909 zusammen mit Nikolaj Berdjajew, Semjon Frank und Sergej Bulgakow den legendären Essayband Wegzeichen zur Krise der russischen Intelligenz herausbrachte. Sie und die anderen Autoren, unter ihnen Juristen, Nationalökonomen, Sozialtheoretiker und Religionsphilosophen, setzten ihre Hoffnung auf die Liberalisierung und begrüßten die Februarrevolution 1917.
Die Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Unter dem Eindruck der Ereignisse verfassten sie einen Sammelband zur geistigen Lage Russlands, der 1918 druckfertig war: De profundis, »Aus der Tiefe« - der Titel spielt auf den 130. Psalm an -, ist ein einzigartiges Dokument. In apokalyptischen Bildern interpretierten die Gelehrten die epochale Wende: revolutionäre Ereignisse, die sie hatten kommen sehen und die doch an Schrecken alles übertrafen, was sie sich hatten vorstellen können. Eine Welt zog herauf, in der sie als die »Zellen eines sterbenden Körpers« keinen Platz mehr für sich sahen. Ihr Buch konnte erst 1990 in Russland erscheinen.
Die Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Unter dem Eindruck der Ereignisse verfassten sie einen Sammelband zur geistigen Lage Russlands, der 1918 druckfertig war: De profundis, »Aus der Tiefe« - der Titel spielt auf den 130. Psalm an -, ist ein einzigartiges Dokument. In apokalyptischen Bildern interpretierten die Gelehrten die epochale Wende: revolutionäre Ereignisse, die sie hatten kommen sehen und die doch an Schrecken alles übertrafen, was sie sich hatten vorstellen können. Eine Welt zog herauf, in der sie als die »Zellen eines sterbenden Körpers« keinen Platz mehr für sich sahen. Ihr Buch konnte erst 1990 in Russland erscheinen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2017Träume von der alten Größe des heiligen Russland
Ratlos im Augenblick des Umsturzes: Die Stimmen russischer Intellektueller aus dem Jahr 1918 erscheinen zum ersten Mal auf Deutsch
"Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, o Herr." Diesen Vers aus Psalm 130 wählten die Autoren des nun auf Deutsch erschienenen Sammelbandes als Titel. Im Sommer 1918, wenige Monate nach den gewaltigen Umbrüchen in Russland, die zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht abgeschlossen waren, verfassten sie ihre Gedanken über die Revolution. Das Buch erschien 1921 in Sowjetrussland in wenigen Exemplaren; erst ein Jahr vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion dann erneut. So wie die elf Autoren schrieben, konnten sie in den Augen der Bolschewiki nur Reaktionäre und Konterrevolutionäre sein. Sieben von ihnen emigrierten, einer starb in Stalins Lagern, ein anderer wurde erschossen, zwei starben eines natürlichen Todes in Russland.
Natürlich ist es schwer, mitten im Umwälzungsprozess die Geschehnisse einzuordnen. Was uns die vom St. Gallener Slawisten Ulrich Schmid besorgte Ausgabe vor Augen führt, ist jedoch die vollständige intellektuelle Bankrotterklärung der hier schreibenden Vertreter der russischen Intelligencija. Große Namen der damaligen russischen Philosophie und Politik schützten nicht vor irrlichternder Intellektualität im Angesicht des Chaos, der Gewalt, der vollkommen unverstandenen Taten der Revolutionäre, der revolutionären "Massen" und ihrer Gegner. Sergej Askoldow sucht die russische Seele und findet: "Überhaupt ist das ethische Niveau der russischen Seele gering." Nikolaj Berdjajew sieht in der Revolution die hämischen Fratzen Gogols, den falschen Moralismus Tolstois und die düsteren Prophetien Dostojewskijs. Der Kosmist Walerian Murawjow möchte in das moskowitische sechzehnte Jahrhundert zurück, um noch einmal von vorn anzufangen. Sergej Bulgakow lässt eine Figur den Schlüsselsatz des Bandes aussprechen: "Bis heute verstehe ich überhaupt nichts."
Bis auf eine Ausnahme haben sie den Kompass verloren. Sie haben die Ideen des neunzehnten Jahrhunderts abgelegt, das russische Volkstümlertum, den Anarchismus, Sozialismus, Liberalismus und die Demokratie. Sie wissen nur, dass die Intelligencija versagt und ihre Verbindung zum Volk verloren hat. Ihre Gegenwart beschreiben sie als Krankheit, Tod, Ende. Sie verzweifeln an der Spaltung der russischen Seele und dem Verlust Gottes. Sie haben keinen Begriff von Industrialisierung, Proletariat, Arbeiterkontrolle und Acht-Stunden-Tag und keinen Zugang zur Forderung des Jahres 1917 "Brot, Friede, Verfassung". Sie beklagen bitter, weder hätte man auf sie gehört noch hätten sie sich genügend zu Gehör gebracht.
Während sie geschichtsphilosophische Essays schrieben, haben andere Russland gestaltet. Weil sie ihre Gegenwart nicht verstehen, suchen sie das Heil in der Geschichte, um einer diffusen Wiedergeburt das Wort zu reden. Volk, Nation, Gemeinschaft, Vergangenheit bezeichnen die vagen politischen Vorstellungen. Referenzpunkt allen Denkens ist die Religion, wenngleich gelegentlich mit antiklerikalem Einschlag, denn auch die orthodoxe Staatskirche hat zum Verfall des Landes beigetragen. Auf der Suche nach der vermeintlichen Authentizität eines essentialistisch verstandenen Russlands lehnen sie die Ideen des Westens ab.
Die Ausnahme ist der Jurist Alexander Isgojew. Er kennt nicht den Selbsthass der historisch ausgebooteten Intelligencija, wie er sich bei den anderen Autoren zeigt, sondern er ist der Einzige, der mit soziologisch geschultem Blick die Verhältnisse analysiert und das erfolgreiche despotische Handeln der Bolschewiki aus den Illusionen der unpraktischen Intelligencija erklärt. Die Entwicklungen in Gesellschaft und Staat habe letztere "vollkommen missverstanden". Ihr Bankrott übertreffe den der Monarchie.
Die anderen Autoren waren der Analyse unfähig, nicht aber die Intelligencija insgesamt, wie viele zeitgenössische Kommentare in Russland und in der Emigration belegen. Schon im Jahre 1918 brauchte niemand dieses Buch. Es schien aus der Zeit gefallen. Warum soll man heute dieses pseudophilosophische Gerede lesen?
Die Antwort gibt der Historiker Karl Schlögel in seinem einleitenden Essay. Zunächst gehe es darum, den zum Schweigen verurteilten Zeitgenossen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Darüber hinaus seien die für Heutige schwer verständlichen Gedanken aber auch die "Wiederverzauberung" einer vermeintlich bereits erklärten Geschichte, die den Blick auf ihre "Tiefendimensionen" freilegten. Kritisch hingegen sieht er die implizit angelegte Idee Russlands als Imperium.
Wiederverzauberung braucht Russland nicht, besonders heute nicht, wo die Staatsideologie des Putin-Systems Elemente der "De profundis"-Autoren locker zur Sicherung des autoritären Staates einzubauen vermag. Religion, Nation, Gemeinschaft, Imperium und ruhmreiche Vergangenheit im heiligen Russland benötigen entzaubernde Analyse. Sonst nämlich geht verloren, worauf Psalm 130 zielt: "Denn beim Herrn ist Huld, und bei ihm ist Erlösung in Fülle. Er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden." Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert galt das autokratische, auf das hierarchische Prinzip von Herr und Herde aufgebaute und eschatologisch verstandene Russland als das neue Israel. "De profundis" zu Ende lesen heißt, diesen Faden der Geschichte wieder aufzunehmen. Ob diese Art russischer Tiefendimension irgendjemand braucht außer den Herrschenden heute, sei dem Urteil der kritischen Leserschaft überlassen. Den Seelen aller esoterisch veranlagten Russlandfans verleiht der Band gewiss Schwingen.
STEFAN PLAGGENBORG
Ulrich Schmid (Hrsg.):
"De profundis". Vom Scheitern der Russischen Revolution.
Aus dem Russischen von mehreren Übersetzern. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
572 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ratlos im Augenblick des Umsturzes: Die Stimmen russischer Intellektueller aus dem Jahr 1918 erscheinen zum ersten Mal auf Deutsch
"Aus der Tiefe rufe ich zu Dir, o Herr." Diesen Vers aus Psalm 130 wählten die Autoren des nun auf Deutsch erschienenen Sammelbandes als Titel. Im Sommer 1918, wenige Monate nach den gewaltigen Umbrüchen in Russland, die zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht abgeschlossen waren, verfassten sie ihre Gedanken über die Revolution. Das Buch erschien 1921 in Sowjetrussland in wenigen Exemplaren; erst ein Jahr vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion dann erneut. So wie die elf Autoren schrieben, konnten sie in den Augen der Bolschewiki nur Reaktionäre und Konterrevolutionäre sein. Sieben von ihnen emigrierten, einer starb in Stalins Lagern, ein anderer wurde erschossen, zwei starben eines natürlichen Todes in Russland.
Natürlich ist es schwer, mitten im Umwälzungsprozess die Geschehnisse einzuordnen. Was uns die vom St. Gallener Slawisten Ulrich Schmid besorgte Ausgabe vor Augen führt, ist jedoch die vollständige intellektuelle Bankrotterklärung der hier schreibenden Vertreter der russischen Intelligencija. Große Namen der damaligen russischen Philosophie und Politik schützten nicht vor irrlichternder Intellektualität im Angesicht des Chaos, der Gewalt, der vollkommen unverstandenen Taten der Revolutionäre, der revolutionären "Massen" und ihrer Gegner. Sergej Askoldow sucht die russische Seele und findet: "Überhaupt ist das ethische Niveau der russischen Seele gering." Nikolaj Berdjajew sieht in der Revolution die hämischen Fratzen Gogols, den falschen Moralismus Tolstois und die düsteren Prophetien Dostojewskijs. Der Kosmist Walerian Murawjow möchte in das moskowitische sechzehnte Jahrhundert zurück, um noch einmal von vorn anzufangen. Sergej Bulgakow lässt eine Figur den Schlüsselsatz des Bandes aussprechen: "Bis heute verstehe ich überhaupt nichts."
Bis auf eine Ausnahme haben sie den Kompass verloren. Sie haben die Ideen des neunzehnten Jahrhunderts abgelegt, das russische Volkstümlertum, den Anarchismus, Sozialismus, Liberalismus und die Demokratie. Sie wissen nur, dass die Intelligencija versagt und ihre Verbindung zum Volk verloren hat. Ihre Gegenwart beschreiben sie als Krankheit, Tod, Ende. Sie verzweifeln an der Spaltung der russischen Seele und dem Verlust Gottes. Sie haben keinen Begriff von Industrialisierung, Proletariat, Arbeiterkontrolle und Acht-Stunden-Tag und keinen Zugang zur Forderung des Jahres 1917 "Brot, Friede, Verfassung". Sie beklagen bitter, weder hätte man auf sie gehört noch hätten sie sich genügend zu Gehör gebracht.
Während sie geschichtsphilosophische Essays schrieben, haben andere Russland gestaltet. Weil sie ihre Gegenwart nicht verstehen, suchen sie das Heil in der Geschichte, um einer diffusen Wiedergeburt das Wort zu reden. Volk, Nation, Gemeinschaft, Vergangenheit bezeichnen die vagen politischen Vorstellungen. Referenzpunkt allen Denkens ist die Religion, wenngleich gelegentlich mit antiklerikalem Einschlag, denn auch die orthodoxe Staatskirche hat zum Verfall des Landes beigetragen. Auf der Suche nach der vermeintlichen Authentizität eines essentialistisch verstandenen Russlands lehnen sie die Ideen des Westens ab.
Die Ausnahme ist der Jurist Alexander Isgojew. Er kennt nicht den Selbsthass der historisch ausgebooteten Intelligencija, wie er sich bei den anderen Autoren zeigt, sondern er ist der Einzige, der mit soziologisch geschultem Blick die Verhältnisse analysiert und das erfolgreiche despotische Handeln der Bolschewiki aus den Illusionen der unpraktischen Intelligencija erklärt. Die Entwicklungen in Gesellschaft und Staat habe letztere "vollkommen missverstanden". Ihr Bankrott übertreffe den der Monarchie.
Die anderen Autoren waren der Analyse unfähig, nicht aber die Intelligencija insgesamt, wie viele zeitgenössische Kommentare in Russland und in der Emigration belegen. Schon im Jahre 1918 brauchte niemand dieses Buch. Es schien aus der Zeit gefallen. Warum soll man heute dieses pseudophilosophische Gerede lesen?
Die Antwort gibt der Historiker Karl Schlögel in seinem einleitenden Essay. Zunächst gehe es darum, den zum Schweigen verurteilten Zeitgenossen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Darüber hinaus seien die für Heutige schwer verständlichen Gedanken aber auch die "Wiederverzauberung" einer vermeintlich bereits erklärten Geschichte, die den Blick auf ihre "Tiefendimensionen" freilegten. Kritisch hingegen sieht er die implizit angelegte Idee Russlands als Imperium.
Wiederverzauberung braucht Russland nicht, besonders heute nicht, wo die Staatsideologie des Putin-Systems Elemente der "De profundis"-Autoren locker zur Sicherung des autoritären Staates einzubauen vermag. Religion, Nation, Gemeinschaft, Imperium und ruhmreiche Vergangenheit im heiligen Russland benötigen entzaubernde Analyse. Sonst nämlich geht verloren, worauf Psalm 130 zielt: "Denn beim Herrn ist Huld, und bei ihm ist Erlösung in Fülle. Er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden." Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert galt das autokratische, auf das hierarchische Prinzip von Herr und Herde aufgebaute und eschatologisch verstandene Russland als das neue Israel. "De profundis" zu Ende lesen heißt, diesen Faden der Geschichte wieder aufzunehmen. Ob diese Art russischer Tiefendimension irgendjemand braucht außer den Herrschenden heute, sei dem Urteil der kritischen Leserschaft überlassen. Den Seelen aller esoterisch veranlagten Russlandfans verleiht der Band gewiss Schwingen.
STEFAN PLAGGENBORG
Ulrich Schmid (Hrsg.):
"De profundis". Vom Scheitern der Russischen Revolution.
Aus dem Russischen von mehreren Übersetzern. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
572 S., geb., 28,- [Euro].
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»De profundis bietet eine beunruhigend aktuelle Lektüre.« Marko Martin Deutschlandfunk Kultur 20171104