Anfang 1895 war Oscar Wilde der Liebling des literarischen Londons, feierte große Bühnenerfolge. Im Mai desselben Jahres wurde er vom Polizeigericht in London wegen homosexueller Beziehungen angeklagt, schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Freiheitsentzug mit Zwangsarbeit im Zuchthaus zu Reading verurteilt, wo er diesen langen Brief an seinen einstigen Geliebten Lord Alfred Douglas, genannt Bosie, schrieb. Ein Liebesbrief, eine Abrechnung und der Bericht eines tiefen Sturzes und einer spirituellen Reise.
»Seine brillantesten Bücher, funkelnd vor Epigrammen, machen ihn zum scharfsinnigsten Rhetoriker des vorigen Jahrhunderts.« James Joyce
in seinem Herzen
Ein Dandy entdeckt die Demut – und den Kummer als „Urform und Prüfstein aller großen Kunst“. Allein schon das macht Oscar Wildes berühmten Brief „De Profundis“, den er aus dem Gefängnis von Reading an seinen vormaligen Geliebten Lord Alfred Douglas schrieb, zu einem besonderen und biografisch faszinierenden Stück Prosa. Aber auch stilistisch, historisch und allgemein menschlich ist diese künstlerische (Selbst-)Reflexion und Rekapitulation eines Lebens groß und bewegend. Wilde schrieb den Brief 1897 am Ende seiner zweijährigen Haft. Verurteilt wegen homosexueller „Unzucht“, hatte er Einzelverwahrung und harte Zwangsarbeit durchlitten. Es war ein Absturz in die tiefste Tiefe, aus der heraus „De Profundis“ erschallt, Psalm 130 und vieles mehr aus der Bibel zitierend. „Aus der Tiefe“ heißt auf gut Deutsch die so geschmeidige wie griffige Neuübersetzung von Mirko Bonné. Ein guter Grund zum Erst- oder Wiederlesen. Das geht zu Herzen: Wilde at heart.
CHRISTINE DÖSSEL
Oscar Wilde:
Aus der Tiefe.
Roman. Aus dem
Englischen übersetzt
von Mirko Bonné.
Hanser, München 2023.
368 Seiten, 38 Euro.
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