»Lieber Herr Saunders,
in Ihrem Buch 𝘉𝘦𝘪 𝘙𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘪𝘯 𝘦𝘪𝘯𝘦𝘮 𝘛𝘦𝘪𝘤𝘩 𝘴𝘤𝘩𝘸𝘪𝘮𝘮𝘦𝘯 sprechen Sie von der Leserbindung, die ein Text erst entwickeln muss, bevor er seine Wirkung entfalten kann. Dort sagen Sie, die Sätze einer guten Geschichte werfen Fragen auf, es geht darum, Erwartungen aufzubauen und diese
Erwartungen später nicht zu enttäuschen, etwa durch zu große Simplizität.« |5
Halten wir kurz…mehr»Lieber Herr Saunders,
in Ihrem Buch 𝘉𝘦𝘪 𝘙𝘦𝘨𝘦𝘯 𝘪𝘯 𝘦𝘪𝘯𝘦𝘮 𝘛𝘦𝘪𝘤𝘩 𝘴𝘤𝘩𝘸𝘪𝘮𝘮𝘦𝘯 sprechen Sie von der Leserbindung, die ein Text erst entwickeln muss, bevor er seine Wirkung entfalten kann. Dort sagen Sie, die Sätze einer guten Geschichte werfen Fragen auf, es geht darum, Erwartungen aufzubauen und diese Erwartungen später nicht zu enttäuschen, etwa durch zu große Simplizität.« |5
Halten wir kurz inne. Was wird erwartet von der Geschichte eines Gastarbeiterkindes, dessen Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland einwanderten, das sich in die Literatur verliebt, schlau ist, auf Schranken stößt, Kriminalität streift und nach einen Aufstieg strebt? Geschrieben von einem Autoren, der am Deutschen Literaturinstitut Leipzig war und über eben diesen postmigrantischen Hintergrund verfügt?
Thomas Podhostnik weiß mit »Dear Mr. Saunders« diese Erwartungen zu erfüllen, mit ihnen zu spielen und sie zurückzuwerfen auf die Lesenden, die sich wahrscheinlich vermehrt auf der Seite derer befinden, die seine briefschreibende Figur Sergej auf ihren Platz verweisen.
Sergejs erster von drei Briefen an den amerikanischen Schriftsteller George Saunders, die nach und nach in der Parasitenpresse erscheinen werden, ist nicht in der Welt der Geschichten, um auf simple Art zu gefallen, sondern »um herauszufordern, zu provozieren, zu empören. Und auf komplexe Weise zu trösten.« (|13 Saunders) und unternimmt damit den kühnen Versuch, sich mit den Größten der slawischen Literatur zu messen. Sind es doch Tschechow, Turgeniew, Tolstoi und Gogol, anhand derer Saunders Lesende und Schreibende darin schult zu erkennen, wie gute Geschichten funktionieren.
Podhostniks Briefroman ist gut durchkomponiert und funktioniert. Er verhandelt Sprache, Hürden und Außenseitertum. Ohne Gewalt, so einer der provokanten Gedanken, würde die Figur untergehen, wie der Sitznachbar oder der kleine Bruder, der im Gegensatz zu Sergej mit dem Besuch des Gymnasiums auf bestem Wege war, einen vorgezeichneten Bildungsaufstieg zu schaffen. Sergej hingegen schwänzt die Schule, treibt sich in einer Bibliothek...
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...herum und liest sich durch Fehldrucke, die für ihn erschwinglich sind. Er lernt so mehr als in der Hauptschule, denn das »Ziel des Gymnasiums war der mündige Bürger, der freie Mensch, die Führergestalt. Das Ziel der Hauptschule war der gefügige Knecht.« (|36) Das Motiv vom Herr und Knecht der gleich lautenden Kurzgeschichte Tolstois, webt Podhostnik mit Sergejs Gedanken um Macht, Gewalt und seinen Lektüren ein. Thomas Mann, Herrschaftsliteratur, gefällig, satt, bürgerlich, hat ihm nichts nennenswertes zu sagen. Sie ist für Gymnasiasten, die ihn erst provozieren, aber dann die Polizei zu ihrem Schutz rufen, die schikanieren, oder für die Frau, die seine Unterschicht fetischisiert und ihn in einer Mischung aus sich erhebendem Mitleid und Anziehung immer wieder zu sich einlädt. Büchners Radikalität schätzt Sergej mehr und »Der Verdacht« Dürrenmatts stößt ihn auf das nationalsozialistische Erbe. Es sind die Zuweisungen an slawische Menschen, die ihn beschäftigen. Da findet er in den russischen Dichtern und Denkern eine Quelle von Identifikation und Stolz. Sergej sieht in Saunders einen Verbündeten, doch in einer Sache widerspricht er ihm entschieden und folgt seiner Aufforderung zur gleichen Zeit. Der Kritik Tolstoi habe sich zu wenig der Innenwelt des Knechtes gewidmet entgegnet Sergej, dass auch Tolstoi ein Herrschender war und nur in Projektionen über den Knecht habe schreiben können. Podhostnik schreibt aus einer anderen Position. Im zweiten Teil der Briefreihe wird Sergej im Literaturinstitut Leipzig schreiben lernen und diese Geschichte weiter spinnen.
(2)
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Podhostnik hat mit dem ersten der drei Briefe an Saunders einen provokanten komprimierten, klugen und humorvollen Auftakt hingelegt.
Mit Feuer zerlegt er Lesegewohnheiten über sogenannte postmigrantische und bildungsferne Realitäten. Er liefert fast nebenbei eine Ergänzung zu Saunders Ansatz der Literaturkritik. Bleibt Saunders in seiner Frage, was eine gelungene Erzählung ausmacht textimmanent, erweitert Podhostnik den Blick auf europäische Art darauf, ob es sich um Literatur der herrschenden Ordnung handelt oder diese selbst Irritation erfährt. In Großverlagen kann ich mir derzeit eine solche Irritation nur in einer Übersetzung vorstellen, zu vorsichtig erscheinen mir die deutschsprachigen Veröffentlichungen. Schade, man müsste sich mehr trauen, denn Podhostnik versteht sich in Literatur.