Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.09.2003Die schöne Leiche von Shanghai
Alte Kader, neuer Kommissar: Qiu Xiaolongs Kriminalroman „Tod einer roten Heldin”
Wer viel unterwegs ist, hat es längst gemerkt: Unter den Europatouristen aus Fernost, die wir gewohnheitsmäßig als Japaner identifizieren, sind immer mehr Chinesen. Und sie treten keineswegs nur als graublau gewandete Gruppenreisende ohne individuelle Marotten auf. Eine Fernsehreportage berichtete kürzlich von wohlhabenden Herrschaften aus dem Reich der Mitte, die extra nach Deutschland fliegen, um einmal ohne Tempolimit über die Autobahn brettern zu können, Frankfurt-Neuschwanstein und zurück. Chinas Regierung hat gerade eine Kampagne eingeleitet, die das Benehmen chinesischer Touristen im Ausland verbessern soll. Es wird Zeit, dass wir uns umgekehrt mit den Sitten und Gebräuchen, den Eigenarten und Sehnsüchten dieses konkurrenzlos vielköpfigen Volkes vertraut machen. Sonst ergeht es uns am Ende wie Dr. Carl Hagenbeck, dem Enkel des Hamburger Tierpark-Gründers, der jüngst öffentlich bekannte, er habe sich bei seiner ersten Ankunft in Hongkong „ganz erschlagen gefühlt von den vielen Chinesen, die dort herumliefen”.
Eine ähnliche Empfindung mag sich beim Anblick des Personenverzeichnisses einstellen, das dem Krimi „Tod einer roten Heldin” beigegeben ist. Dabei dauert es nur ein paar Minuten, bis man gelernt hat, Namen wie Wu Xiaoming, Yu Guangming und Guan Hongying auseinander zu halten. Wer bislang glaubte, der Alltag im heutigen China ließe ihn kalt, wird sich während der Lektüre zunehmend dafür erwärmen, bis er schließlich glüht wie der Herd in einer Shanghaier Garküche. Zwar lebt der Autor Qiu Xiaolong, 1953 in Shanghai geboren, seit dem Tienanmen-Massaker von 1989 im amerikanischen Exil, zwar spielt sein Debütroman im Jahr danach und bildet deshalb vermutlich überholte Verhältnisse ab, doch ist dieser Einblick in Chinas jüngste Vergangenheit fesselnd genug, um das Interesse an der Gegenwart des Landes, das sich auf dem langen Marsch vom kommunistischen Dogma zur anarchischen Marktwirtschaft befindet, kräftig zu schüren.
Qiu, von Haus aus Literaturwissenschaftler, Lyriker und Übersetzer, hat einen Kommissar erfunden, der mit seinen Vorlieben und Schwächen, seinen dienstlichen und privaten Problemen perfekt in die Riege unserer aktuellen europäischen Lieblingsschnüffler passt. Dieser Chen Cao trägt außerdem kleidsame Züge des Autors: In seiner Freizeit übersetzt er englische Kriminalromane und schreibt Gedichte, und gilt es eine ausländische Schriftstellerdelegation zu betreuen, setzt die Partei ihn als Dolmetscher und Reiseführer ein. Wo westliche Helden der Ermittlung wie Brunetti oder Montalbano bloß den gebildeten Leser herauskehren, operiert Chen ganz nahe an der literarischen Praxis. Dahinter steht ein Schicksal, das für chinesische Akademiker seiner Generation typisch ist: Als Sprachstudent, der die Philologenlaufbahn angestrebt hatte, war er zunächst für eine Diplomatenkarriere ausersehen, dann aber wegen eines konterrevolutionären Onkels in den Polizeidienst abkommandiert worden.
Gern hätte Chen eine Frau
Dass er mit Dreißig schon zum Oberinspektor befördert worden ist und im übervölkerten Shanghai eine Einzimmerwohnung für sich allein hat, macht ihn nicht bei allen Kollegen beliebt, und er selbst, von seinem Vater im Geist des Neokonfuzianismus erzogen und von den Lehren des Großen Vorsitzenden Mao geprägt, fühlt sich mit seinen Privilegien nicht ganz wohl.
Gern hätte Chen eine Frau, aber die zart knospende Beziehung zu der Journalistin Wang Feng entwickelt sich betrüblich, und die Affäre mit einer wiederbelebten Jugendliebe birgt ebenfalls Komplikationen. Trost findet der junge Edel-Polizist in der Dichtung, in der Freundschaft mit seinem Assistenten Yu und in kulinarischen Ausschweifungen, die hübsch detailliert und, sofern man von den Schlangen- und Katzenfleisch-Gerichten absieht, recht appetitanregend geschildert werden. Neben der Bedeutung, die man hier in jeder Lebenslage dem Essen beimisst, und der Allgegenwart von Zitaten aus dem lyrischen und philosophischen Fundus des alten China beeindrucken die höflichen, rücksichtsvollen Umgangsformen, die selbst in angespannten menschlichen Situationen – etwa zwischen Polizisten und Zeugen, Vorgesetzten und Untergebenen – und in der Intimität des Ehe- und Familienalltags nicht vernachlässigt werden.
Die dunklen Seiten dieser teils fremdartigen, teils merkwürdig vertrauten Kultur unterscheiden sich kaum von den Milieus, in denen westliche Krimistoffe gedeihen. Es schwimmt eine Leiche im Baili-Kanal, der schöne, nackte Körper einer „nationalen Modellarbeiterin”, mit einem Plastiksack notdürftig verhüllt. Chen Cao deckt das erotische Doppelleben der Ermordeten auf, ortet den Verdächtigen in höchsten politischen Kreisen und wird von der Partei unter Druck gesetzt.
Dass einer wie er sich nicht korrumpieren lässt, versteht sich von selbst. Dass er am Ende dennoch Anlass zu melancholisch-pessimistischen Reflexionen hat, weist ihn als Mitglied einer Gesellschaft aus, in der die Proportionen von Recht und Unrecht, Verbrechen und Strafe genauso unübersichtlich sind wie in den bürgerlich-dekadenten Gemeinwesen der kapitalistischen Welt. Die Repräsentanten der alten Kaderpolitik versuchen den Schein zu wahren, während die Wirklichkeit sich unaufhaltsam von der Ideologie entfernt. Vor diesem spannungsreichen Hintergrund dürfte sich mühelos eine ganze Reihe von Untaten inszenieren lassen. Oberinspektor Chens erster Fall bleibt hoffentlich nicht der letzte.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
QIU XIAOLONG: Tod einer roten Heldin. Roman. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003. 464 Seiten, 21,50 Euro.
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Alte Kader, neuer Kommissar: Qiu Xiaolongs Kriminalroman „Tod einer roten Heldin”
Wer viel unterwegs ist, hat es längst gemerkt: Unter den Europatouristen aus Fernost, die wir gewohnheitsmäßig als Japaner identifizieren, sind immer mehr Chinesen. Und sie treten keineswegs nur als graublau gewandete Gruppenreisende ohne individuelle Marotten auf. Eine Fernsehreportage berichtete kürzlich von wohlhabenden Herrschaften aus dem Reich der Mitte, die extra nach Deutschland fliegen, um einmal ohne Tempolimit über die Autobahn brettern zu können, Frankfurt-Neuschwanstein und zurück. Chinas Regierung hat gerade eine Kampagne eingeleitet, die das Benehmen chinesischer Touristen im Ausland verbessern soll. Es wird Zeit, dass wir uns umgekehrt mit den Sitten und Gebräuchen, den Eigenarten und Sehnsüchten dieses konkurrenzlos vielköpfigen Volkes vertraut machen. Sonst ergeht es uns am Ende wie Dr. Carl Hagenbeck, dem Enkel des Hamburger Tierpark-Gründers, der jüngst öffentlich bekannte, er habe sich bei seiner ersten Ankunft in Hongkong „ganz erschlagen gefühlt von den vielen Chinesen, die dort herumliefen”.
Eine ähnliche Empfindung mag sich beim Anblick des Personenverzeichnisses einstellen, das dem Krimi „Tod einer roten Heldin” beigegeben ist. Dabei dauert es nur ein paar Minuten, bis man gelernt hat, Namen wie Wu Xiaoming, Yu Guangming und Guan Hongying auseinander zu halten. Wer bislang glaubte, der Alltag im heutigen China ließe ihn kalt, wird sich während der Lektüre zunehmend dafür erwärmen, bis er schließlich glüht wie der Herd in einer Shanghaier Garküche. Zwar lebt der Autor Qiu Xiaolong, 1953 in Shanghai geboren, seit dem Tienanmen-Massaker von 1989 im amerikanischen Exil, zwar spielt sein Debütroman im Jahr danach und bildet deshalb vermutlich überholte Verhältnisse ab, doch ist dieser Einblick in Chinas jüngste Vergangenheit fesselnd genug, um das Interesse an der Gegenwart des Landes, das sich auf dem langen Marsch vom kommunistischen Dogma zur anarchischen Marktwirtschaft befindet, kräftig zu schüren.
Qiu, von Haus aus Literaturwissenschaftler, Lyriker und Übersetzer, hat einen Kommissar erfunden, der mit seinen Vorlieben und Schwächen, seinen dienstlichen und privaten Problemen perfekt in die Riege unserer aktuellen europäischen Lieblingsschnüffler passt. Dieser Chen Cao trägt außerdem kleidsame Züge des Autors: In seiner Freizeit übersetzt er englische Kriminalromane und schreibt Gedichte, und gilt es eine ausländische Schriftstellerdelegation zu betreuen, setzt die Partei ihn als Dolmetscher und Reiseführer ein. Wo westliche Helden der Ermittlung wie Brunetti oder Montalbano bloß den gebildeten Leser herauskehren, operiert Chen ganz nahe an der literarischen Praxis. Dahinter steht ein Schicksal, das für chinesische Akademiker seiner Generation typisch ist: Als Sprachstudent, der die Philologenlaufbahn angestrebt hatte, war er zunächst für eine Diplomatenkarriere ausersehen, dann aber wegen eines konterrevolutionären Onkels in den Polizeidienst abkommandiert worden.
Gern hätte Chen eine Frau
Dass er mit Dreißig schon zum Oberinspektor befördert worden ist und im übervölkerten Shanghai eine Einzimmerwohnung für sich allein hat, macht ihn nicht bei allen Kollegen beliebt, und er selbst, von seinem Vater im Geist des Neokonfuzianismus erzogen und von den Lehren des Großen Vorsitzenden Mao geprägt, fühlt sich mit seinen Privilegien nicht ganz wohl.
Gern hätte Chen eine Frau, aber die zart knospende Beziehung zu der Journalistin Wang Feng entwickelt sich betrüblich, und die Affäre mit einer wiederbelebten Jugendliebe birgt ebenfalls Komplikationen. Trost findet der junge Edel-Polizist in der Dichtung, in der Freundschaft mit seinem Assistenten Yu und in kulinarischen Ausschweifungen, die hübsch detailliert und, sofern man von den Schlangen- und Katzenfleisch-Gerichten absieht, recht appetitanregend geschildert werden. Neben der Bedeutung, die man hier in jeder Lebenslage dem Essen beimisst, und der Allgegenwart von Zitaten aus dem lyrischen und philosophischen Fundus des alten China beeindrucken die höflichen, rücksichtsvollen Umgangsformen, die selbst in angespannten menschlichen Situationen – etwa zwischen Polizisten und Zeugen, Vorgesetzten und Untergebenen – und in der Intimität des Ehe- und Familienalltags nicht vernachlässigt werden.
Die dunklen Seiten dieser teils fremdartigen, teils merkwürdig vertrauten Kultur unterscheiden sich kaum von den Milieus, in denen westliche Krimistoffe gedeihen. Es schwimmt eine Leiche im Baili-Kanal, der schöne, nackte Körper einer „nationalen Modellarbeiterin”, mit einem Plastiksack notdürftig verhüllt. Chen Cao deckt das erotische Doppelleben der Ermordeten auf, ortet den Verdächtigen in höchsten politischen Kreisen und wird von der Partei unter Druck gesetzt.
Dass einer wie er sich nicht korrumpieren lässt, versteht sich von selbst. Dass er am Ende dennoch Anlass zu melancholisch-pessimistischen Reflexionen hat, weist ihn als Mitglied einer Gesellschaft aus, in der die Proportionen von Recht und Unrecht, Verbrechen und Strafe genauso unübersichtlich sind wie in den bürgerlich-dekadenten Gemeinwesen der kapitalistischen Welt. Die Repräsentanten der alten Kaderpolitik versuchen den Schein zu wahren, während die Wirklichkeit sich unaufhaltsam von der Ideologie entfernt. Vor diesem spannungsreichen Hintergrund dürfte sich mühelos eine ganze Reihe von Untaten inszenieren lassen. Oberinspektor Chens erster Fall bleibt hoffentlich nicht der letzte.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
QIU XIAOLONG: Tod einer roten Heldin. Roman. Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003. 464 Seiten, 21,50 Euro.
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