Wie geht es weiter mit der Europäischen Union? Ihre institutionelle Gestaltung und ihr Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten steht angesichts zahlreicher Krisen wieder vermehrt auf der Tagesordnung. Entsprechend zahlreich sind die Zukunftsvisionen, die von prominenten Politikerinnen und Politikern - etwa von Joschka Fischer, Emmanuel Macron und Olaf Scholz - präsentiert wurden. Die Debatte scheint gleichwohl festgefahren. Das liegt auch daran, dass all diesen Vorschlägen kein normatives Leitbild unterliegt: Es bleibt meist unklar, welches Problem sie adressieren und wie sie die Funktionsfähigkeit der EU konkret verbessern möchten. Aus Pathos folgt weder staatsrechtliche Form noch langfristige Legitimität. Die Zukunft der EU - so Alexander Thiele in diesem Buch - liegt denn auch nicht im großen und umfassenden Wurf, sondern in schrittweisen Reformen, die jeweils konkrete Legitimitätsdefizite adressieren.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Jansen liest den Essay des Berliner Staatsrechtlers Alexander Thiele über die Inhaltslosigkeit neuerer Europa-Visionen mit großem Interesse. Was genau hinter den großen Europa-Reden von Scholz, Macron oder Joschka Fischer steckt, arbeitet der Autor heraus, um festzustellen: Um konkrete Probleme in Europa und deren Lösung geht es darin eigentlich nicht. Für Jansen eine erhellende Darstellung, die der Autor am Begriff des "föderalen europäischen Bundesstaats" vertieft. Auch wie Thiele das "Demokratiedefizit" in der EU erklärt (Überfrachtung der Unionsverträge!), findet Jansen höchst aufschlussreich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2024Patient Europa
Am 9. Juni wird gewählt. Die Frage ist:
Kann Brüssel mehr als Krise?
Leitfaden durchs Labyrinth der EU-Bücher.
VON KAROLINE META BEISEL
Kurz vor der Europawahl am 9. Juni widmet sich auch der Buchhandel der Europäischen Union, die viele Beobachter nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine in der Krise sehen. Aber wie dringend ist der Reformbedarf wirklich, und was genau müsste sich ändern? Darauf haben die sechs Autoren ganz unterschiedliche Antworten.
Markus Preiß
Was macht den Autor zum Experten?
Markus Preiß war viele Jahre Chef des ARD-Studios in Brüssel. Von 1. Juni an leitet er das Hauptstadtstudio in Berlin.
Diagnose und verordnete Therapie
Preiß beschreibt, wie sich Deutschlands Auftreten in der EU verändert hat. Früher sei die Bundesrepublik bescheidener, sensibler für die Belange der kleineren Mitgliedstaaten gewesen. Doch schon unter dem früheren SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem „ersten deutschen Macho der Nachkriegszeit“, habe sich das Gebaren Berlins verändert. Seitdem gelte oft: Wenn eine Regel für Deutschland nicht funktioniere, dann könne sie auch keinen Bestand haben. Deutschland first!
Als Beispiele für diesen Egoismus, bisweilen auch für Arroganz nennt Preiß unter anderem den Beginn der Corona-Pandemie, als Deutschland ein Exportverbot für Schutzmaterial verhängte, oder den langen Streit um das Nordstream-Projekt, als die Bundesregierung trotz expliziter Warnungen der europäischen Partner vor den politischen Folgen das Go für die Pipeline gab.
Mit dem Überfall Russlands auf die ganze Ukraine im Februar 2022 sei ein gemeinsames Handeln der EU noch wichtiger geworden. Auf Deutschland, „die USA Europas“ komme es dabei entscheidend an – das erwarteten auch die anderen Länder. Gerade jetzt aber gebe die zerstrittene Ampelregierung ein Bild der Schwäche ab. Auf Impulse anderer reagiere Berlin spät oder gar nicht; eigene Impulse? Fehlanzeige. Das müsse sich dringend ändern.
Für wen ist das Buch?
„Angezählt“ beschreibt die aktuelle Lage der EU für jeden politisch interessierten Leser. Vorwissen ist keines nötig, Preiß erklärt alle Zusammenhänge, wie er sie auch seinen Zuschauern in den Tagesthemen erklären würde. Dazu schildert er Gespräche und Anekdoten aus seinen Jahren als EU-Korrespondent – mit wohltuendem Fokus auf die Sicht der anderen EU-Länder.
Alexander Thiele
Was macht den Autor zum Experten?
Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Europarecht an der privaten Business & Law School BSP in Berlin.
Diagnose und verordnete Therapie
Große Reden und Vorschläge zur Zukunft der EU werden mit viel Aufmerksamkeit bedacht – sei es die berühmte Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im September 2017 an der Sorbonne-Universität, die Europa-Rede des damaligen grünen Außenministers Joschka Fischer im Jahr 2000 oder jüngst jene von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 an der Karls-Universität in Prag.
Selten aber (vielleicht nie?) sind diese so gründlich seziert worden, wie das Thiele in seinem Essay mit ihnen und zwei weiteren Vorschlägen tut. So rechnet er zum Beispiel mit der beliebten Forderung nach einer Ausweitung des Mehrheitsprinzips ab, wenn nicht gleichzeitig geklärt werde, wie die „Minderheitsbefolgungspflicht“ sichergestellt werden könne. Wer pauschal das Mehrheitsprinzip fordere, sei „entweder naiv oder weiß, dass es angesichts der Heterogenität der außenpolitischen Interessen ohnehin nicht kommen wird“.
Warum die zitierten Reformdenker das anders sehen? Thiele analysiert, dass die stützende Ordnungsidee fehle: Warum machten sie genau diese konkreten Vorschläge und nicht ganz andere? Solche Überlegungen würden praktisch nie angestellt. Thiele kommt in seiner Streitschrift zu einem gänzlich anderen Schluss: „Ein großer Wurf sollte von vornherein nicht angestrebt werden.“ Vielmehr sei es richtig, die Union in kleinen Schritten fortzuentwickeln, mit einem Modus, der nicht um die Entscheidung „Mehr oder weniger Europa“ kreist, sondern vielmehr die Frage stellt, wie sich „gute Herrschaft“ organisieren und die Legitimität der EU erhöhen lässt.
Für wen ist das Buch?
Thieles Analyse ist eher für EU-Nerds geeignet und für all jene, die sich mit der Fortentwicklung der Europäischen Union aus beruflichen oder wissenschaftlichen Gründen befassen. Für jene aber sehr zu empfehlen!
Martin Sonneborn
Was macht den Autor zum Experten?
Der Satiriker und frühere Chefredakteur der Zeitschrift Titanic sitzt seit 2014 für „Die Partei“ im europäischen Parlament. Über seine erste Amtszeit hat er ebenfalls ein Buch verfasst: „Herr Sonneborn geht nach Brüssel“.
Diagnose und verordnete Therapie
Sonneborn schildert tagebuchartig Erlebnisse und merkwürdige Anekdoten aus der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode. Etwa die von dem ungarischen EU-Abgeordneten aus der konservativen Fidesz-Partei, der 2020 während des Corona-Lockdowns in Brüssel nach einer schwulen Sexparty „weitgehend unbekleidet und mit Drogen im Gepäck (…) am Ende einer Regenrinne von der belgischen Polizei festgenommen wurde“. Vor allem aber versammelt das Buch sämtliche Aktionen und Reden von Sonneborn und zitiert dazu ausführlich von seiner Homepage, Youtube oder aus Medienberichten. Eine eigene Vision entwickelt Sonneborn nicht, getreu dem Motto, mit dem er 2019 für seine Wiederwahl warb: „Für Europa reicht’s“.
Für wen ist das Buch?
Für Leute, die Sonneborn auch auf anderen Kanälen lustig finden, und für Leser, die sich vergewissern wollen, dass die EU genauso kaputt ist, wie sie immer dachten.
Elmar Brok
Was macht den Autor zum Experten?
Elmar Brok war bis 2019 beinahe 40 Jahre lang CDU-Abgeordneter im Europaparlament, viele Jahre davon als Chef des Auswärtigen Ausschusses.
Diagnose und verordnete Therapie
Brok sieht die EU durch nationalistische Bestrebungen in vielen Ländern in Gefahr. Quasi als Therapie will er „die Wahrheit über Europa berichten, gute wie noch unbefriedigende Seiten, damit Ignoranz und Lügen nicht die Oberhand gewinnen“.
Fast schon memoirenhaft schildert der heute 78-Jährige seine Sicht auf Episoden der jüngeren EU-Geschichte und aktuelle, auch innenpolitische Themen und spart nicht mit Appellen, was „wir“ tun oder lassen sollten, um Europa zu neuer Stärke zu verhelfen: „Wollen wir wirklich den Chinesen die Chance geben, auf Dauer die Weltstandards in der Industrie zu setzen?“, „Wir müssen endlich die Taurus-Raketen freigeben“, oder mit Blick auf die Brüsseler Bürokratie: „Wir sollten (. . .) nicht immer zuerst die Risiken sehen, sondern öfter mal die Chancen.“ Als überzeugter Europäer und „Politrentner“, wie er sich selbst bezeichnet, teilt er Preiß’ Analyse des deutschen EU-Egoismus. Und er macht Vorschläge, wie sich das Ansehen der EU in den Mitgliedstaaten verbessern ließe – etwa durch eine jährliche Kosten-Nutzen-Analyse über die Mitgliedschaft in der EU für alle 27 Mitgliedstaaten.
Für wen ist das Buch?
Das Werk liest sich wie die Verschriftlichung eines Brok-Interviews im Radio – allerdings ohne Zwischenfragen. Charmanter Verschreiber: „Als ich 1980 der EU beitrat . . .“ – gemeint sein dürfte Broks Einzug ins EU-Parlament, aber irgendwie passt der Satz angesichts der Tatsache, dass Brok die deutsche Wahrnehmung des EU-Parlaments lange entscheidend mitgeprägt hat, auch so.
Nico Semsrott
Was macht den Autor zum Experten?
Nico Semsrott sitzt seit 2019 als Abgeordneter im EU-Parlament, zuerst für „Die Partei“, nach seinem Austritt 2021 als parteiloser Abgeordneter (aber wie vorher als Mitglied der Fraktion der Grünen).
Diagnose und verordnete Therapie
In Semsrotts Buch – halb Lebensgeschichte, halb Erfahrungsbericht – mischen sich Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit über die Arbeit im EU-Parlament mit seiner persönlichen Geschichte: Eigentlich hatte Semsrott eine Art Late-Night-Show aus dem Europaparlament produzieren wollen. Nach einem tollen Start musste er das Projekt wieder einstellen, Diagnose: Depression, die Therapie brauchte erst einmal er selbst. Semsrott erzählt, wie er diese Zeit empfunden hat, was er über die EU gelernt hat und was ihm dort nicht gefällt, etwa wie machtlos EU-Abgeordnete sind.
Trotz aller Kritik merkt man, dass Semsrott die EU und speziell das Parlament aber tatsächlich am Herzen liegen, „mehr als vielen anderen, die hier arbeiten“, sagte er kürzlich der SZ.
Für wen ist das Buch?
Für Leser, die mit Humor etwas über den oft merkwürdigen Kosmos EU-Parlament erfahren wollen.
Christoph Driessen
Was macht den Autor zum Experten?
Der deutsch-niederländische Historiker und Journalist Christoph Driessen ist Büroleiter der DPA in Köln. Zuvor hat er Bücher über die Geschichte der Niederlande (2009) und Belgiens (2018) veröffentlicht.
Diagnose und verordnete Therapie
Driessen schildert die Geschichte der EU von ihren Anfängen bis heute. Aber nicht als langen Text, sondern in kleinen Anekdoten, die an ganz unterschiedlichen Orten in Europa und darüber hinaus spielen. Er schildert die berühmten Momente, etwa François Mitterrand und Helmut Kohl 1984, Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun (Margaret Thatcher habe das als „zwei erwachsene Männer, die Händchen halten“ abgetan). Aber auch kleine Details, zum Beispiel wie ein niederländischer Bauer durch eine gekonnte Wasserski-Einlage zur Entwicklung der europäischen Agrarpolitik beitrug.
Wie nebenbei versteht der Leser so auch die großen Linien, warum etwa das Bild von Briten und Franzosen auf das europäische Projekt von Anfang an so unterschiedlich war. Mit eigenen Thesen hält der Autor sich zurück, dafür ergänzen informative Kurzporträts zu Personen und Institutionen den historischen Kontext. Als Diagnose zum Zustand der EU trägt das Buch darum wohl nur die Erkenntnis in sich, dass diese auch weiter existieren wird.
Für wen ist das Buch?
Ein Geschichtsbuch für Leute, die sonst keine Geschichtsbücher lesen – oder für Leute, die sich Bekanntes noch einmal kurzweilig und mit einem neuen Blick erzählen lassen wollen.
Markus Preiß:
Angezählt. Warum ein schwaches Deutschland Europa schadet. dtv München 2024, 288 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
Alexander Thiele:
Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union. Campus-Verlag, Frankfurt 2024. 155 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
Auf zu den Sternen: Ein EU-Fan
in passendem Outfit am Europa-Tag, der dieses Jahr in Brüssel
am 4. Mai gefeiert wurde. Foto: Virginia Mayo/AP
Martin Sonneborn:
Herr Sonneborn bleibt in Brüssel. Neue Abenteuer im Europaparlament. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
20 Euro.
E-Book: 16,99 Euro.
Elmar Brok, Peter Köpf: Verspielt Europa nicht! Ohne die EU ist Deutschland ein Zwerg. Europa-Verlag, München 2024. 272 Seiten, 24 Euro.
Nico Semsrott:
Brüssel sehen und sterben. Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe. Rowohlt Polaris, Hamburg 2024. 352 Seiten, 18 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
Christoph Driessen:
Griff nach den Sternen. Die Geschichte der Europäischen Union. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2024. 288 Seiten, 29,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Am 9. Juni wird gewählt. Die Frage ist:
Kann Brüssel mehr als Krise?
Leitfaden durchs Labyrinth der EU-Bücher.
VON KAROLINE META BEISEL
Kurz vor der Europawahl am 9. Juni widmet sich auch der Buchhandel der Europäischen Union, die viele Beobachter nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine in der Krise sehen. Aber wie dringend ist der Reformbedarf wirklich, und was genau müsste sich ändern? Darauf haben die sechs Autoren ganz unterschiedliche Antworten.
Markus Preiß
Was macht den Autor zum Experten?
Markus Preiß war viele Jahre Chef des ARD-Studios in Brüssel. Von 1. Juni an leitet er das Hauptstadtstudio in Berlin.
Diagnose und verordnete Therapie
Preiß beschreibt, wie sich Deutschlands Auftreten in der EU verändert hat. Früher sei die Bundesrepublik bescheidener, sensibler für die Belange der kleineren Mitgliedstaaten gewesen. Doch schon unter dem früheren SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem „ersten deutschen Macho der Nachkriegszeit“, habe sich das Gebaren Berlins verändert. Seitdem gelte oft: Wenn eine Regel für Deutschland nicht funktioniere, dann könne sie auch keinen Bestand haben. Deutschland first!
Als Beispiele für diesen Egoismus, bisweilen auch für Arroganz nennt Preiß unter anderem den Beginn der Corona-Pandemie, als Deutschland ein Exportverbot für Schutzmaterial verhängte, oder den langen Streit um das Nordstream-Projekt, als die Bundesregierung trotz expliziter Warnungen der europäischen Partner vor den politischen Folgen das Go für die Pipeline gab.
Mit dem Überfall Russlands auf die ganze Ukraine im Februar 2022 sei ein gemeinsames Handeln der EU noch wichtiger geworden. Auf Deutschland, „die USA Europas“ komme es dabei entscheidend an – das erwarteten auch die anderen Länder. Gerade jetzt aber gebe die zerstrittene Ampelregierung ein Bild der Schwäche ab. Auf Impulse anderer reagiere Berlin spät oder gar nicht; eigene Impulse? Fehlanzeige. Das müsse sich dringend ändern.
Für wen ist das Buch?
„Angezählt“ beschreibt die aktuelle Lage der EU für jeden politisch interessierten Leser. Vorwissen ist keines nötig, Preiß erklärt alle Zusammenhänge, wie er sie auch seinen Zuschauern in den Tagesthemen erklären würde. Dazu schildert er Gespräche und Anekdoten aus seinen Jahren als EU-Korrespondent – mit wohltuendem Fokus auf die Sicht der anderen EU-Länder.
Alexander Thiele
Was macht den Autor zum Experten?
Alexander Thiele ist Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht mit Schwerpunkt Europarecht an der privaten Business & Law School BSP in Berlin.
Diagnose und verordnete Therapie
Große Reden und Vorschläge zur Zukunft der EU werden mit viel Aufmerksamkeit bedacht – sei es die berühmte Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im September 2017 an der Sorbonne-Universität, die Europa-Rede des damaligen grünen Außenministers Joschka Fischer im Jahr 2000 oder jüngst jene von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 an der Karls-Universität in Prag.
Selten aber (vielleicht nie?) sind diese so gründlich seziert worden, wie das Thiele in seinem Essay mit ihnen und zwei weiteren Vorschlägen tut. So rechnet er zum Beispiel mit der beliebten Forderung nach einer Ausweitung des Mehrheitsprinzips ab, wenn nicht gleichzeitig geklärt werde, wie die „Minderheitsbefolgungspflicht“ sichergestellt werden könne. Wer pauschal das Mehrheitsprinzip fordere, sei „entweder naiv oder weiß, dass es angesichts der Heterogenität der außenpolitischen Interessen ohnehin nicht kommen wird“.
Warum die zitierten Reformdenker das anders sehen? Thiele analysiert, dass die stützende Ordnungsidee fehle: Warum machten sie genau diese konkreten Vorschläge und nicht ganz andere? Solche Überlegungen würden praktisch nie angestellt. Thiele kommt in seiner Streitschrift zu einem gänzlich anderen Schluss: „Ein großer Wurf sollte von vornherein nicht angestrebt werden.“ Vielmehr sei es richtig, die Union in kleinen Schritten fortzuentwickeln, mit einem Modus, der nicht um die Entscheidung „Mehr oder weniger Europa“ kreist, sondern vielmehr die Frage stellt, wie sich „gute Herrschaft“ organisieren und die Legitimität der EU erhöhen lässt.
Für wen ist das Buch?
Thieles Analyse ist eher für EU-Nerds geeignet und für all jene, die sich mit der Fortentwicklung der Europäischen Union aus beruflichen oder wissenschaftlichen Gründen befassen. Für jene aber sehr zu empfehlen!
Martin Sonneborn
Was macht den Autor zum Experten?
Der Satiriker und frühere Chefredakteur der Zeitschrift Titanic sitzt seit 2014 für „Die Partei“ im europäischen Parlament. Über seine erste Amtszeit hat er ebenfalls ein Buch verfasst: „Herr Sonneborn geht nach Brüssel“.
Diagnose und verordnete Therapie
Sonneborn schildert tagebuchartig Erlebnisse und merkwürdige Anekdoten aus der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode. Etwa die von dem ungarischen EU-Abgeordneten aus der konservativen Fidesz-Partei, der 2020 während des Corona-Lockdowns in Brüssel nach einer schwulen Sexparty „weitgehend unbekleidet und mit Drogen im Gepäck (…) am Ende einer Regenrinne von der belgischen Polizei festgenommen wurde“. Vor allem aber versammelt das Buch sämtliche Aktionen und Reden von Sonneborn und zitiert dazu ausführlich von seiner Homepage, Youtube oder aus Medienberichten. Eine eigene Vision entwickelt Sonneborn nicht, getreu dem Motto, mit dem er 2019 für seine Wiederwahl warb: „Für Europa reicht’s“.
Für wen ist das Buch?
Für Leute, die Sonneborn auch auf anderen Kanälen lustig finden, und für Leser, die sich vergewissern wollen, dass die EU genauso kaputt ist, wie sie immer dachten.
Elmar Brok
Was macht den Autor zum Experten?
Elmar Brok war bis 2019 beinahe 40 Jahre lang CDU-Abgeordneter im Europaparlament, viele Jahre davon als Chef des Auswärtigen Ausschusses.
Diagnose und verordnete Therapie
Brok sieht die EU durch nationalistische Bestrebungen in vielen Ländern in Gefahr. Quasi als Therapie will er „die Wahrheit über Europa berichten, gute wie noch unbefriedigende Seiten, damit Ignoranz und Lügen nicht die Oberhand gewinnen“.
Fast schon memoirenhaft schildert der heute 78-Jährige seine Sicht auf Episoden der jüngeren EU-Geschichte und aktuelle, auch innenpolitische Themen und spart nicht mit Appellen, was „wir“ tun oder lassen sollten, um Europa zu neuer Stärke zu verhelfen: „Wollen wir wirklich den Chinesen die Chance geben, auf Dauer die Weltstandards in der Industrie zu setzen?“, „Wir müssen endlich die Taurus-Raketen freigeben“, oder mit Blick auf die Brüsseler Bürokratie: „Wir sollten (. . .) nicht immer zuerst die Risiken sehen, sondern öfter mal die Chancen.“ Als überzeugter Europäer und „Politrentner“, wie er sich selbst bezeichnet, teilt er Preiß’ Analyse des deutschen EU-Egoismus. Und er macht Vorschläge, wie sich das Ansehen der EU in den Mitgliedstaaten verbessern ließe – etwa durch eine jährliche Kosten-Nutzen-Analyse über die Mitgliedschaft in der EU für alle 27 Mitgliedstaaten.
Für wen ist das Buch?
Das Werk liest sich wie die Verschriftlichung eines Brok-Interviews im Radio – allerdings ohne Zwischenfragen. Charmanter Verschreiber: „Als ich 1980 der EU beitrat . . .“ – gemeint sein dürfte Broks Einzug ins EU-Parlament, aber irgendwie passt der Satz angesichts der Tatsache, dass Brok die deutsche Wahrnehmung des EU-Parlaments lange entscheidend mitgeprägt hat, auch so.
Nico Semsrott
Was macht den Autor zum Experten?
Nico Semsrott sitzt seit 2019 als Abgeordneter im EU-Parlament, zuerst für „Die Partei“, nach seinem Austritt 2021 als parteiloser Abgeordneter (aber wie vorher als Mitglied der Fraktion der Grünen).
Diagnose und verordnete Therapie
In Semsrotts Buch – halb Lebensgeschichte, halb Erfahrungsbericht – mischen sich Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit über die Arbeit im EU-Parlament mit seiner persönlichen Geschichte: Eigentlich hatte Semsrott eine Art Late-Night-Show aus dem Europaparlament produzieren wollen. Nach einem tollen Start musste er das Projekt wieder einstellen, Diagnose: Depression, die Therapie brauchte erst einmal er selbst. Semsrott erzählt, wie er diese Zeit empfunden hat, was er über die EU gelernt hat und was ihm dort nicht gefällt, etwa wie machtlos EU-Abgeordnete sind.
Trotz aller Kritik merkt man, dass Semsrott die EU und speziell das Parlament aber tatsächlich am Herzen liegen, „mehr als vielen anderen, die hier arbeiten“, sagte er kürzlich der SZ.
Für wen ist das Buch?
Für Leser, die mit Humor etwas über den oft merkwürdigen Kosmos EU-Parlament erfahren wollen.
Christoph Driessen
Was macht den Autor zum Experten?
Der deutsch-niederländische Historiker und Journalist Christoph Driessen ist Büroleiter der DPA in Köln. Zuvor hat er Bücher über die Geschichte der Niederlande (2009) und Belgiens (2018) veröffentlicht.
Diagnose und verordnete Therapie
Driessen schildert die Geschichte der EU von ihren Anfängen bis heute. Aber nicht als langen Text, sondern in kleinen Anekdoten, die an ganz unterschiedlichen Orten in Europa und darüber hinaus spielen. Er schildert die berühmten Momente, etwa François Mitterrand und Helmut Kohl 1984, Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun (Margaret Thatcher habe das als „zwei erwachsene Männer, die Händchen halten“ abgetan). Aber auch kleine Details, zum Beispiel wie ein niederländischer Bauer durch eine gekonnte Wasserski-Einlage zur Entwicklung der europäischen Agrarpolitik beitrug.
Wie nebenbei versteht der Leser so auch die großen Linien, warum etwa das Bild von Briten und Franzosen auf das europäische Projekt von Anfang an so unterschiedlich war. Mit eigenen Thesen hält der Autor sich zurück, dafür ergänzen informative Kurzporträts zu Personen und Institutionen den historischen Kontext. Als Diagnose zum Zustand der EU trägt das Buch darum wohl nur die Erkenntnis in sich, dass diese auch weiter existieren wird.
Für wen ist das Buch?
Ein Geschichtsbuch für Leute, die sonst keine Geschichtsbücher lesen – oder für Leute, die sich Bekanntes noch einmal kurzweilig und mit einem neuen Blick erzählen lassen wollen.
Markus Preiß:
Angezählt. Warum ein schwaches Deutschland Europa schadet. dtv München 2024, 288 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
Alexander Thiele:
Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union. Campus-Verlag, Frankfurt 2024. 155 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
Auf zu den Sternen: Ein EU-Fan
in passendem Outfit am Europa-Tag, der dieses Jahr in Brüssel
am 4. Mai gefeiert wurde. Foto: Virginia Mayo/AP
Martin Sonneborn:
Herr Sonneborn bleibt in Brüssel. Neue Abenteuer im Europaparlament. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024.
20 Euro.
E-Book: 16,99 Euro.
Elmar Brok, Peter Köpf: Verspielt Europa nicht! Ohne die EU ist Deutschland ein Zwerg. Europa-Verlag, München 2024. 272 Seiten, 24 Euro.
Nico Semsrott:
Brüssel sehen und sterben. Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe. Rowohlt Polaris, Hamburg 2024. 352 Seiten, 18 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
Christoph Driessen:
Griff nach den Sternen. Die Geschichte der Europäischen Union. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2024. 288 Seiten, 29,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2024Woran Visionen für Europa kranken
Die Zukunftsentwürfe für die EU haben alle einen Makel, schreibt der Staatsrechtler Alexander Thiele. Eine Rückbesinnung auf das antike Erbe fordert der Philosoph Christoph Quarch.
Visionen für die Zukunft der Europäischen Union sind vor der Europawahl Mangelware, in Deutschland, aber auch in anderen Mitgliedstaaten. Im Wahlkampf von Union, SPD, Grünen und Liberalen spielt die Frage, welche Gestalt ein geeintes Europa im Jahr 2040 haben sollte, kaum eine Rolle. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Die EU-skeptischen bis antieuropäischen Kräfte am rechten Rand erstarken. Die Befürworter einer vertieften Integration konzentrieren sich daher auf die Verteidigung des europapolitischen Status quo. Aber es könnte auch an den Visionen selbst liegen, jedenfalls dann, wenn man der Lesart des Berliner Staatsrechtlers Alexander Thiele folgt. Er vertritt die These, dass die europapolitischen Zukunftsentwürfe, angefangen von Joschka Fischers Reformvorschlag aus dem Jahr 2000 über Emmanuel Macrons vielbeachtete Rede an der Pariser Sorbonne Universität 2017 bis hin zur Prager Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 allesamt einen Makel haben: Sie schweben letztlich im luftleeren Raum, weil sie die entscheidende Frage ausblenden: Wozu das Ganze? Thiele nennt sie in seinem gleichnamigen Buch daher "defekte Visionen". In diesen Zukunftsentwürfen werde die europäische Integration selbst als universeller Problemlöser dargestellt, während die Frage, "welches konkrete Problem durch die europäische Integration wie gelöst werden soll, in den Hintergrund tritt", schreibt er in seinem sehr lesenswerten Essay. Und wer sich erlaube, darauf aufmerksam zu machen, dass diesen Visionen der Praxisbezug fehle, der müsse sich vorwerfen lassen, ein schlechter Europäer zu sein. Es gelte die Devise: Je mehr Europa, desto besser. Das ist aus Thieles Sicht jedoch eine falsche Perspektive. Es dürfe nicht um mehr oder weniger Europa gehen. Im Mittelpunkt müsse vielmehr die Frage stehen, mit welchem Integrationsschritt sich in bestimmten Politikfeldern, etwa in der Klima- oder Migrationspolitik, welcher Fortschritt erzielen lasse. Stattdessen erschöpften sich die Zukunftsentwürfe weitgehend in staatstheoretischen Beschreibungsversuchen.
Was damit gemeint ist, illustriert Thiele am Beispiel des Begriffs "föderaler europäischer Bundesstaat". Damit umschreibt etwa die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag ihr europapolitisches Ziel. Aber was bedeutet "föderaler Bundesstaat"? Eine feste, allseits anerkannte Definition der politischen Struktur eines Bundesstaates gibt es bis heute nicht. In diese Kategorie fallen so unterschiedliche Länder wie Deutschland, die USA, Indien Mexiko und die Schweiz. Man könnte die EU, wie Thiele überzeugend darlegt, durchaus heute schon einen föderalen Bundesstaat nennen. Denn das, was sie von einem Staat unterscheide, die Hoheitsgewalt, sich selbst Kompetenzen zu geben - diese können der EU nur die Mitgliedstaaten übertragen -, falle im Tagesgeschäft nicht ins Gewicht.
Die tiefere Ursache dafür, dass die Frage nach dem Ziel der europäischen Integration ausgeblendet wird, reicht bis an die Anfänge der EU zurück, wie Thiele darlegt. Nach dem Scheitern der Pläne für eine politische Gemeinschaft Mitte der 1950er- Jahre habe sich die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als unpolitisches Gebilde verstanden. Das sei Europa jedoch nie gewesen - damals nicht und heute erst recht nicht. Eine Antwort darauf, wie die Zukunft Europas aussehen solle, könne es nur geben, wenn man die Europäische Union als das akzeptiere und bezeichne, was sie sei: eine politische Herrschaftsorganisation. Begünstigt wurde dieses unpolitische Verständnis der EU insbesondere von Walter Hallstein, der von 1958 bis 1967 erster Präsident der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war. Er prägte das Wort von der Europäischen Union als "Rechtsgemeinschaft". Daran sei prinzipiell nichts auszusetzen, findet der Berliner Staatsrechtler, wenn damit nicht auch eine bewusste Abgrenzung von einer politischen Gemeinschaft verbunden gewesen wäre. Die Vorstellung der EU als einer unpolitischen und technokratischen Organisation sieht Thiele bis heute am Werk. Als Beispiel dafür nennt er Emmanuel Macron, der die politischen Debatten im Europäischen Rat als zu überwindenden "Bürgerkrieg" bezeichnete.
Interessant ist Thieles Erklärung für das Demokratiedefizit in der EU, die sich aus seiner These einer weitgehend entpolitisierten EU ergibt. Im Gegensatz zur herkömmlichen Lesart, die sich auch das Bundesverfassungsgericht zu eigen machte, bestehe das Demokratiedefizit weniger in einer defizitär verwirklichten Gleichheit aller Unionsbürger. Gemeint ist damit der Umstand, dass ein deutscher EU-Abgeordneter viel mehr Bürger vertritt als einer aus Malta. Nach seiner Auffassung besteht das Demokratiedefizit der EU vor allem in einer materiellen Überfrachtung der Unionsverträge. Weil in den Verträgen vieles festgeschrieben worden sei, was eigentlich gar nicht in eine Verfassung gehöre, mangele es den europäischen Gesetzgebungsinstanzen an politischer Verhandlungsmasse. Die aber sei ein wesentliches Element für eine politische Herrschaftsorganisation wie die EU.
Während Thiele das Pathos gänzlich aus der europapolitischen Debatte verbannen möchte, strotzen die zehn Vorschläge nur davon, die Christoph Quarch unter dem programmatischen Titel "Den Geist Europas wecken" unterbreitet. Was Europa heute brauche, sei eine geistige Mitte, eine gemeinsame Vision von einem gemeinschaftlichen Leben, "die so leuchtend und strahlend ist wie der delphische Gott Apollon", schreibt Quarch. Seine Vorschläge wirken auf den ersten Blick wie die weltfremden Träumereien eines Altertumsfreundes aus der Nachkriegszeit: So schlägt er eine neue platonische Akademie für Europa vor oder Delphi, den Sitz des berühmtesten antiken Orakels, zur ständigen Kulturhauptstadt Europas und Austragungsort "delphischer Spiele" zu machen. Quarch plädiert für eine Rückbesinnung auf das Erbe des antiken Griechenlands als Fundament für das moderne Europa. Sein Pathos mag übertrieben wirken, sein Griechenland-Bild idealisierend, aber warum sollte man die abgedroschene Leerformel vom antiken Erbe Europas in einer Zeit weitgehend Lateinunterricht-freier Schulen nicht auch einmal ausbuchstabieren? Auch solche Visionen braucht Europa. THOMAS JANSEN
Christoph Quarch: Den Geist Europas wecken. Zehn Vorschläge.
Europa Verlag, München 2024. 240 S., 24,- Euro.
Alexander Thiele: Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union.
Campus Verlag, Frankfurt 2024. 155 S., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Zukunftsentwürfe für die EU haben alle einen Makel, schreibt der Staatsrechtler Alexander Thiele. Eine Rückbesinnung auf das antike Erbe fordert der Philosoph Christoph Quarch.
Visionen für die Zukunft der Europäischen Union sind vor der Europawahl Mangelware, in Deutschland, aber auch in anderen Mitgliedstaaten. Im Wahlkampf von Union, SPD, Grünen und Liberalen spielt die Frage, welche Gestalt ein geeintes Europa im Jahr 2040 haben sollte, kaum eine Rolle. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Die EU-skeptischen bis antieuropäischen Kräfte am rechten Rand erstarken. Die Befürworter einer vertieften Integration konzentrieren sich daher auf die Verteidigung des europapolitischen Status quo. Aber es könnte auch an den Visionen selbst liegen, jedenfalls dann, wenn man der Lesart des Berliner Staatsrechtlers Alexander Thiele folgt. Er vertritt die These, dass die europapolitischen Zukunftsentwürfe, angefangen von Joschka Fischers Reformvorschlag aus dem Jahr 2000 über Emmanuel Macrons vielbeachtete Rede an der Pariser Sorbonne Universität 2017 bis hin zur Prager Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 allesamt einen Makel haben: Sie schweben letztlich im luftleeren Raum, weil sie die entscheidende Frage ausblenden: Wozu das Ganze? Thiele nennt sie in seinem gleichnamigen Buch daher "defekte Visionen". In diesen Zukunftsentwürfen werde die europäische Integration selbst als universeller Problemlöser dargestellt, während die Frage, "welches konkrete Problem durch die europäische Integration wie gelöst werden soll, in den Hintergrund tritt", schreibt er in seinem sehr lesenswerten Essay. Und wer sich erlaube, darauf aufmerksam zu machen, dass diesen Visionen der Praxisbezug fehle, der müsse sich vorwerfen lassen, ein schlechter Europäer zu sein. Es gelte die Devise: Je mehr Europa, desto besser. Das ist aus Thieles Sicht jedoch eine falsche Perspektive. Es dürfe nicht um mehr oder weniger Europa gehen. Im Mittelpunkt müsse vielmehr die Frage stehen, mit welchem Integrationsschritt sich in bestimmten Politikfeldern, etwa in der Klima- oder Migrationspolitik, welcher Fortschritt erzielen lasse. Stattdessen erschöpften sich die Zukunftsentwürfe weitgehend in staatstheoretischen Beschreibungsversuchen.
Was damit gemeint ist, illustriert Thiele am Beispiel des Begriffs "föderaler europäischer Bundesstaat". Damit umschreibt etwa die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag ihr europapolitisches Ziel. Aber was bedeutet "föderaler Bundesstaat"? Eine feste, allseits anerkannte Definition der politischen Struktur eines Bundesstaates gibt es bis heute nicht. In diese Kategorie fallen so unterschiedliche Länder wie Deutschland, die USA, Indien Mexiko und die Schweiz. Man könnte die EU, wie Thiele überzeugend darlegt, durchaus heute schon einen föderalen Bundesstaat nennen. Denn das, was sie von einem Staat unterscheide, die Hoheitsgewalt, sich selbst Kompetenzen zu geben - diese können der EU nur die Mitgliedstaaten übertragen -, falle im Tagesgeschäft nicht ins Gewicht.
Die tiefere Ursache dafür, dass die Frage nach dem Ziel der europäischen Integration ausgeblendet wird, reicht bis an die Anfänge der EU zurück, wie Thiele darlegt. Nach dem Scheitern der Pläne für eine politische Gemeinschaft Mitte der 1950er- Jahre habe sich die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als unpolitisches Gebilde verstanden. Das sei Europa jedoch nie gewesen - damals nicht und heute erst recht nicht. Eine Antwort darauf, wie die Zukunft Europas aussehen solle, könne es nur geben, wenn man die Europäische Union als das akzeptiere und bezeichne, was sie sei: eine politische Herrschaftsorganisation. Begünstigt wurde dieses unpolitische Verständnis der EU insbesondere von Walter Hallstein, der von 1958 bis 1967 erster Präsident der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war. Er prägte das Wort von der Europäischen Union als "Rechtsgemeinschaft". Daran sei prinzipiell nichts auszusetzen, findet der Berliner Staatsrechtler, wenn damit nicht auch eine bewusste Abgrenzung von einer politischen Gemeinschaft verbunden gewesen wäre. Die Vorstellung der EU als einer unpolitischen und technokratischen Organisation sieht Thiele bis heute am Werk. Als Beispiel dafür nennt er Emmanuel Macron, der die politischen Debatten im Europäischen Rat als zu überwindenden "Bürgerkrieg" bezeichnete.
Interessant ist Thieles Erklärung für das Demokratiedefizit in der EU, die sich aus seiner These einer weitgehend entpolitisierten EU ergibt. Im Gegensatz zur herkömmlichen Lesart, die sich auch das Bundesverfassungsgericht zu eigen machte, bestehe das Demokratiedefizit weniger in einer defizitär verwirklichten Gleichheit aller Unionsbürger. Gemeint ist damit der Umstand, dass ein deutscher EU-Abgeordneter viel mehr Bürger vertritt als einer aus Malta. Nach seiner Auffassung besteht das Demokratiedefizit der EU vor allem in einer materiellen Überfrachtung der Unionsverträge. Weil in den Verträgen vieles festgeschrieben worden sei, was eigentlich gar nicht in eine Verfassung gehöre, mangele es den europäischen Gesetzgebungsinstanzen an politischer Verhandlungsmasse. Die aber sei ein wesentliches Element für eine politische Herrschaftsorganisation wie die EU.
Während Thiele das Pathos gänzlich aus der europapolitischen Debatte verbannen möchte, strotzen die zehn Vorschläge nur davon, die Christoph Quarch unter dem programmatischen Titel "Den Geist Europas wecken" unterbreitet. Was Europa heute brauche, sei eine geistige Mitte, eine gemeinsame Vision von einem gemeinschaftlichen Leben, "die so leuchtend und strahlend ist wie der delphische Gott Apollon", schreibt Quarch. Seine Vorschläge wirken auf den ersten Blick wie die weltfremden Träumereien eines Altertumsfreundes aus der Nachkriegszeit: So schlägt er eine neue platonische Akademie für Europa vor oder Delphi, den Sitz des berühmtesten antiken Orakels, zur ständigen Kulturhauptstadt Europas und Austragungsort "delphischer Spiele" zu machen. Quarch plädiert für eine Rückbesinnung auf das Erbe des antiken Griechenlands als Fundament für das moderne Europa. Sein Pathos mag übertrieben wirken, sein Griechenland-Bild idealisierend, aber warum sollte man die abgedroschene Leerformel vom antiken Erbe Europas in einer Zeit weitgehend Lateinunterricht-freier Schulen nicht auch einmal ausbuchstabieren? Auch solche Visionen braucht Europa. THOMAS JANSEN
Christoph Quarch: Den Geist Europas wecken. Zehn Vorschläge.
Europa Verlag, München 2024. 240 S., 24,- Euro.
Alexander Thiele: Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union.
Campus Verlag, Frankfurt 2024. 155 S., 22,- Euro.
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»Titel und Format lassen an eine Streitschrift denken. Tatsächlich besticht Thieles Essay aber nicht mit Polemik, sondern mit differenzierten Ausführungen. [...] In Zeiten wahlkämpferischer Polemik, die ein Zerrbild der EU zeichnet, ist Thieles [...] Auseinandersetzung eine willkommene Lektüre [...].« Thomas Süsler-Rohringer, H-Soz-Kult, 12.09.2024»Thieles Buch ist in vielerlei Hinsicht anregend, insofern er auf radikale Zuspitzungen verzichtet und stattdessen inkrementelle Reformnotwendigkeiten betont. Wohltuend ist dabei seine vorbehaltlose Anerkennung der Union als politische Gemeinschaft, die aber diesen politischen Charakter nicht zuletzt in ihrem Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern stärker berücksichtigen müsse. [...] Um im Sinne des Autors über die Zukunft der Union zu streiten, wäre dem Buch auch nach der Europawahl eine große Leserschaft zu wünschen.« Gabriele Abels, Portal für Politikwissenschaft, 10.06.2024»Die Einsichten Alexander Thieles stehen konträr zum Mainstream: Es sollte eben nicht um eine fundamentale Reform des bestehenden institutionellen Systems gehen [...]. Damit stellt Thiele zurecht den ganzen Mythos vom Demokratiedefizit infrage.« Martin Unfried, taz, 15.06.2024»Die Europäische Union wird immer wieder vor große Herausforderungen gestellt. [...] Dennoch ist [Thieles] Blick in die Zukunft nicht pessimistisch. Er sieht die Lösungen aber nicht in großen Visionen, denen es an Bodenhaftung fehle. Ihm geht es vielmehr um die 'Organisation guter Herrschaft'.« Annette Wilmes, Deutschlandfunk Andruck, 22.01.2024»Große Reden und Vorschläge zur Zukunft der EU werden mit viel Aufmerksamkeit bedacht - sei es die berühmte Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im September 2017 an der Sorbonne-Universität, die Europa-Rede des damaligen grünen Außenministers Joschka Fischer im Jahr 2000 oder jüngst jene von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 an der Karls-Universität in Prag. Selten aber (vielleicht nie?) sind diese so gründlich seziert worden,wie das Thiele in seinem Essay [...] tut. [...] Sehr empfehlenswert.« Karoline Meta Beisel, Süddeutsche Zeitung, 18.05.2024»Sehr lesenswertes Essay.« Thomas Jansen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.05.2024»Der Verfassungsrechtler Alexander Thiele hat angesichts der Dauerkrise, in der sich die EU befindet, eine 'Intervention zur Zukunft der europäischen Union' vorgelegt, die den Titel 'Defekte Visionen' trägt. Thieles schmaler Band ist unbedingt lesenswert, denn er enthält eine kritische Untersuchung der institutionellen Architektur der EU, sowie eine kritische Rückschau auf die Probleme der 'EU-Visionen', die in den letzten Jahrzehnten in Umlauf waren. [...] Mit seinem Buch leistet Thiele einen wichtigen Beitrag zur Entzauberung der EU, die angesichts der Neuordnung der globalen, internationalen Ordnung mehr als überfällig ist.« Matthias Ubl, Politik & Ökonomie. Beiträge zur politischen Ökonomie, 29.04.2024