Degrowth oder Postwachstum ist ein dynamisches Forschungsfeld und Bezugspunkt vielfältiger sozial-ökologischer Bewegungen. Postwachstum ist nicht nur eine grundlegende Kritik an der Hegemonie des Wirtschaftswachstums. Es ist auch eine Vision für eine andere Gesellschaft, die angesichts von Klimawandel und globaler Ungleichheit Pfade für grundlegende Gesellschaftsveränderung skizziert. Dieser Band macht erstmals den Versuch einer systematischen Einführung. Er diskutiert die Geschichte von Wachstum und Wirtschaftsstatistiken und rekonstruiert die zentralen Formen der Wachstumskritik: ökologische, soziale, kulturelle, Kapitalismus-, feministische, Industrialismus- sowie Süd-Nord-Kritik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2019Die Schrumpfung der Wirtschaft als Dogma
Matthias Schmelzer und Andrea Vetter vergeben in ihrer Darstellung der Wachstumskritik einige Chancen
Als der Club of Rome 1972 seinen Bericht zu den Grenzen des Wachstums veröffentlichte, galt die Warnung vor allem den endlichen Ressourcen der Erde. Mittlerweile ist die Sorge nicht mehr, dass der Menschheit die fossilen Brennstoffe ausgehen. Vielmehr laufen wir Gefahr, zu viele von ihnen aus dem Boden zu holen. An dem grundlegenden Problem ändert das freilich nichts. Ob der Ausgangspunkt die Endlichkeit ökologischer Ressourcen ist oder der unkontrollierte Wandel des Klimas: Das exponentielle wirtschaftliche Wachstum, das der Menschheit nie dagewesenen materiellen Wohlstand verschafft hat, bedroht unser Wohlergehen und das des Planeten.
In ihrem einführenden Buch spüren die Kulturanthropologin Andrea Vetter und der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer den vielfältigen Quellen der Wachstumskritik nach. Dabei leisten sie einen wertvollen Beitrag: Sie grenzen die verschiedenen Stränge der Debatte - etwa ökologische, kapitalismuskritische und feministische Ansätze der Wachstumskritik - voneinander ab und zeichnen ihre Entwicklung kenntnisreich und gut strukturiert nach.
Leider verwenden sie den Begriff "Postwachstum" dabei so, dass er "Degrowth" einschließt, also "die Forderung nach einer Reduktion der materiellen Größe der Wirtschaft" beinhaltet. Das ist irreführend, denn eine Abkehr vom Paradigma des Wachstums muss nicht die Forderung nach einer Schrumpfung der Wirtschaft bedeuten; und es bedingt, dass das Buch einen Blick auf die Wirtschaft jenseits der Idee von Wachstum gar nicht richtig entwickeln kann - Wachstum wird zum Feindbild erklärt, bleibt dadurch aber der dominante Bezugspunkt.
Dass die Wirtschaftsleistung einer Gesellschaft allein keinen zuverlässigen Indikator für das Wohlergehen der Menschen darstellt, ist längst akzeptiert. Die Vereinten Nationen veröffentlichen bereits seit 1990 den Human Development Index (HDI), der neben der Wirtschaftsleistung auch die Lebenserwartung und den Bildungsstand berücksichtigt. Häufig aber - und das übersehen Wachstumskritiker oft - ermöglicht materieller Wohlstand andere Freiheiten erst. Seit 1871 etwa hat sich die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in Deutschland halbiert, dennoch verdient ein Arbeitnehmer heute kaufkraftbereinigt jeden Monat etwa so viel wie damals in einem Jahr - und lebt im Schnitt über dreißig Jahre länger.
Entscheidend für diese Entwicklung waren technologische und kulturelle Innovationen, doch deren Möglichkeit schließen Schmelzer und Vetter aus, indem sie behaupten: "Wachstum basiert notwendig auf einem ansteigenden Verbrauch von Rohstoffen und Energie." Das aber stimmt nicht: Gelingt es etwa, die Effizienz von Computern zu steigern, so erhöht sich die Rechenleistung, ohne dass der Bedarf für Rohstoffe oder Energie steigt. Eine analoge Beobachtung gilt für Gewächshäuser ebenso wie für den Friseursalon. Natürlich ist es möglich, dass die Nachfrage noch schneller steigt als die Effizienz; notwendig aber ist es nicht. Der Primärenergieverbrauch in Deutschland ist seit 1990 leicht rückläufig, obwohl die Wirtschaftsleistung um etwa fünfzig Prozent gestiegen ist.
Das beweist nicht, dass sich unser heutiger Lebensstandard in einer global gerechteren Welt für mehrere Milliarden Menschen dauerhaft erhalten ließe. Aber es zeigt, dass das Problem nicht notwendig im wirtschaftlichen Wachstum selbst liegt. Gelänge es, mit erneuerbaren Energien auszukommen, Produkte vollständig zu recyceln und beständig effizientere Technologien zu entwickeln, so wäre ökonomisches Wachstum zwar noch immer kein Selbstzweck, aber auch nicht unbedingt ein Problem.
Schmelzer und Vetter begreifen Postwachstum als "wissenschaftliches Forschungsparadigma" ebenso wie als "politisches Projekt". Beide engagieren sich beim Konzeptwerk Neue Ökonomie, einem Leipziger Verein, der sich für die Entwicklung alternativer Formen des Wirtschaftens einsetzt. In dieser Doppelrolle mangelt es ihnen an einigen Stellen an Distanz. Wenn sie beschreiben, wie Degrowth-Konferenzen Akademikerinnen und Künstler zusammenbringen und "aktivistische Forschung" und "post-normale Wissenschaft" eine "kollektive Wissensproduktion" begründen können, bleibt nicht nur unklar, was sich hinter diesen Begriffen genau verbirgt, sondern auch, inwieweit eine solche Verbindung wünschenswert ist.
Mitunter täte der stark im Utopischen schwelgenden Postwachstumsdebatte ein nüchterner und selbstkritischerer Blick gut. Schmelzer und Vetter wagen eine solche Perspektive in ihrem Schlusskapitel "Postwachstum kritisch betrachtet", doch mit sechseinhalb Seiten gerät dieser Abschnitt recht kurz. Das ist schade, zumal die Autoren wichtige Schwachstellen der Debatte benennen, dies dann aber kaum weiter ausführen. So kritisieren sie etwa die weitreichende Ausblendung globaler Strukturen: "Auch wenn es offensichtlich ist, dass die Veränderung in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft in einem einzelnen Land innerhalb des aktuellen Weltsystems gravierende Folgen hätte - wie massive Kapitalflucht, Investitionsstreik, geopolitische Machtverschiebungen, die Gefahr militärischer Konflikte -, sind diese Fragen bisher nicht einmal andiskutiert." Wieso diese Konsequenzen offensichtlich sind, erläutern Schmelzer und Vetter nicht. Zwei Seiten später aber lautet ihr Resümee, trotz ihres Einwands: "Denn so viel ist sicher: Postwachstum stellt die richtigen Fragen."
Beim Lesen dieses Buches ergibt sich ein nuancierterer Eindruck: Im besten Fall identifizieren Beiträge zur Postwachstumsdebatte wichtige Probleme und entwickeln ein hilfreiches Vokabular, nicht selten verlieren sie sich in Dogmen und leeren Phrasen. Dann soll der Begriff Postwachstum für alles Wünschenswerte stehen, von einer "konvivialen Technik" bis hin zur "gelebten Solidarität mit Geflüchteten". Vor allem aber werden konstruktive Ideen in der Regel jenseits tatsächlicher Anreiz- und Machtstrukturen diskutiert. Das mag einige inspirieren, ihr persönliches Verhalten zu ändern. Strukturelle Lösungsansätze aber - und derer bedarf es angesichts des Klimawandels dringend - ergeben sich nur, wo auch pragmatisch und strategisch gedacht wird.
FRIEDEMANN BIEBER
Matthias Schmelzer
und Andrea Vetter:
"Degrowth/Postwachstum". Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2019. 256 S., br., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Matthias Schmelzer und Andrea Vetter vergeben in ihrer Darstellung der Wachstumskritik einige Chancen
Als der Club of Rome 1972 seinen Bericht zu den Grenzen des Wachstums veröffentlichte, galt die Warnung vor allem den endlichen Ressourcen der Erde. Mittlerweile ist die Sorge nicht mehr, dass der Menschheit die fossilen Brennstoffe ausgehen. Vielmehr laufen wir Gefahr, zu viele von ihnen aus dem Boden zu holen. An dem grundlegenden Problem ändert das freilich nichts. Ob der Ausgangspunkt die Endlichkeit ökologischer Ressourcen ist oder der unkontrollierte Wandel des Klimas: Das exponentielle wirtschaftliche Wachstum, das der Menschheit nie dagewesenen materiellen Wohlstand verschafft hat, bedroht unser Wohlergehen und das des Planeten.
In ihrem einführenden Buch spüren die Kulturanthropologin Andrea Vetter und der Wirtschaftshistoriker Matthias Schmelzer den vielfältigen Quellen der Wachstumskritik nach. Dabei leisten sie einen wertvollen Beitrag: Sie grenzen die verschiedenen Stränge der Debatte - etwa ökologische, kapitalismuskritische und feministische Ansätze der Wachstumskritik - voneinander ab und zeichnen ihre Entwicklung kenntnisreich und gut strukturiert nach.
Leider verwenden sie den Begriff "Postwachstum" dabei so, dass er "Degrowth" einschließt, also "die Forderung nach einer Reduktion der materiellen Größe der Wirtschaft" beinhaltet. Das ist irreführend, denn eine Abkehr vom Paradigma des Wachstums muss nicht die Forderung nach einer Schrumpfung der Wirtschaft bedeuten; und es bedingt, dass das Buch einen Blick auf die Wirtschaft jenseits der Idee von Wachstum gar nicht richtig entwickeln kann - Wachstum wird zum Feindbild erklärt, bleibt dadurch aber der dominante Bezugspunkt.
Dass die Wirtschaftsleistung einer Gesellschaft allein keinen zuverlässigen Indikator für das Wohlergehen der Menschen darstellt, ist längst akzeptiert. Die Vereinten Nationen veröffentlichen bereits seit 1990 den Human Development Index (HDI), der neben der Wirtschaftsleistung auch die Lebenserwartung und den Bildungsstand berücksichtigt. Häufig aber - und das übersehen Wachstumskritiker oft - ermöglicht materieller Wohlstand andere Freiheiten erst. Seit 1871 etwa hat sich die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in Deutschland halbiert, dennoch verdient ein Arbeitnehmer heute kaufkraftbereinigt jeden Monat etwa so viel wie damals in einem Jahr - und lebt im Schnitt über dreißig Jahre länger.
Entscheidend für diese Entwicklung waren technologische und kulturelle Innovationen, doch deren Möglichkeit schließen Schmelzer und Vetter aus, indem sie behaupten: "Wachstum basiert notwendig auf einem ansteigenden Verbrauch von Rohstoffen und Energie." Das aber stimmt nicht: Gelingt es etwa, die Effizienz von Computern zu steigern, so erhöht sich die Rechenleistung, ohne dass der Bedarf für Rohstoffe oder Energie steigt. Eine analoge Beobachtung gilt für Gewächshäuser ebenso wie für den Friseursalon. Natürlich ist es möglich, dass die Nachfrage noch schneller steigt als die Effizienz; notwendig aber ist es nicht. Der Primärenergieverbrauch in Deutschland ist seit 1990 leicht rückläufig, obwohl die Wirtschaftsleistung um etwa fünfzig Prozent gestiegen ist.
Das beweist nicht, dass sich unser heutiger Lebensstandard in einer global gerechteren Welt für mehrere Milliarden Menschen dauerhaft erhalten ließe. Aber es zeigt, dass das Problem nicht notwendig im wirtschaftlichen Wachstum selbst liegt. Gelänge es, mit erneuerbaren Energien auszukommen, Produkte vollständig zu recyceln und beständig effizientere Technologien zu entwickeln, so wäre ökonomisches Wachstum zwar noch immer kein Selbstzweck, aber auch nicht unbedingt ein Problem.
Schmelzer und Vetter begreifen Postwachstum als "wissenschaftliches Forschungsparadigma" ebenso wie als "politisches Projekt". Beide engagieren sich beim Konzeptwerk Neue Ökonomie, einem Leipziger Verein, der sich für die Entwicklung alternativer Formen des Wirtschaftens einsetzt. In dieser Doppelrolle mangelt es ihnen an einigen Stellen an Distanz. Wenn sie beschreiben, wie Degrowth-Konferenzen Akademikerinnen und Künstler zusammenbringen und "aktivistische Forschung" und "post-normale Wissenschaft" eine "kollektive Wissensproduktion" begründen können, bleibt nicht nur unklar, was sich hinter diesen Begriffen genau verbirgt, sondern auch, inwieweit eine solche Verbindung wünschenswert ist.
Mitunter täte der stark im Utopischen schwelgenden Postwachstumsdebatte ein nüchterner und selbstkritischerer Blick gut. Schmelzer und Vetter wagen eine solche Perspektive in ihrem Schlusskapitel "Postwachstum kritisch betrachtet", doch mit sechseinhalb Seiten gerät dieser Abschnitt recht kurz. Das ist schade, zumal die Autoren wichtige Schwachstellen der Debatte benennen, dies dann aber kaum weiter ausführen. So kritisieren sie etwa die weitreichende Ausblendung globaler Strukturen: "Auch wenn es offensichtlich ist, dass die Veränderung in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft in einem einzelnen Land innerhalb des aktuellen Weltsystems gravierende Folgen hätte - wie massive Kapitalflucht, Investitionsstreik, geopolitische Machtverschiebungen, die Gefahr militärischer Konflikte -, sind diese Fragen bisher nicht einmal andiskutiert." Wieso diese Konsequenzen offensichtlich sind, erläutern Schmelzer und Vetter nicht. Zwei Seiten später aber lautet ihr Resümee, trotz ihres Einwands: "Denn so viel ist sicher: Postwachstum stellt die richtigen Fragen."
Beim Lesen dieses Buches ergibt sich ein nuancierterer Eindruck: Im besten Fall identifizieren Beiträge zur Postwachstumsdebatte wichtige Probleme und entwickeln ein hilfreiches Vokabular, nicht selten verlieren sie sich in Dogmen und leeren Phrasen. Dann soll der Begriff Postwachstum für alles Wünschenswerte stehen, von einer "konvivialen Technik" bis hin zur "gelebten Solidarität mit Geflüchteten". Vor allem aber werden konstruktive Ideen in der Regel jenseits tatsächlicher Anreiz- und Machtstrukturen diskutiert. Das mag einige inspirieren, ihr persönliches Verhalten zu ändern. Strukturelle Lösungsansätze aber - und derer bedarf es angesichts des Klimawandels dringend - ergeben sich nur, wo auch pragmatisch und strategisch gedacht wird.
FRIEDEMANN BIEBER
Matthias Schmelzer
und Andrea Vetter:
"Degrowth/Postwachstum". Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2019. 256 S., br., 15,90 [Euro].
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