Fremdes Deitschland im fernen Brasilien
Emma Blum legt ihren Debütroman vor, ein Erstling von gewichtigem Ausmaß, 564 gedruckte Seiten, die dem Leser die Lebensgeschichte von Paul Rosenbaum erzählen. Und die ist ganz und gar nicht alltäglich, denn sie führt in das Innere Brasiliens, wo sich seit
dem 19. Jahrhundert deutsche Auswanderer niederließen und ihr kleines „Deitschland“ aufbauten.…mehrFremdes Deitschland im fernen Brasilien
Emma Blum legt ihren Debütroman vor, ein Erstling von gewichtigem Ausmaß, 564 gedruckte Seiten, die dem Leser die Lebensgeschichte von Paul Rosenbaum erzählen. Und die ist ganz und gar nicht alltäglich, denn sie führt in das Innere Brasiliens, wo sich seit dem 19. Jahrhundert deutsche Auswanderer niederließen und ihr kleines „Deitschland“ aufbauten. (Ähnliche deutsche Ansiedlungen gibt es z. B. auch in Argentinien, Verwandte von mir sind dort 1938 als Flüchtlinge angekommen, einige sprachen auch 50 Jahre später noch kein Wort Spanisch, aber die Kindeskinder können nun kein Deutsch mehr.)
Der Roman beginnt mit der Ankunft von Paul in Deutschland, er hat sich um eine Au-Pair-Stelle beworben und wird für ein Jahr in Dortmund, der Geburtsstadt seines Großvaters, auch ein Paul Rosenbaum, den kleinen, verwöhnten und etwas vollgefressenen Felix betreuen. Dass er mit der Ortswahl auch den Zweck der Erforschung der Familiengeheimnisse verbindet, liegt auf der Hand. Mitgenommen nach Deutschland hat er eine alte Keksdose mit Erinnerungsstücken, die ihn auf seiner Suche leiten und begleiten.
Die Menschen in Pauls Heimat sprechen ihr eigenes „Deitsch“, das mit dem Hochdeutschen nur noch entfernt verwandt ist, aber viele von ihnen lernten weder lesen noch schreiben, ganz zu schweigen von Portugiesisch, das zwar Amtssprache ist, aber in den deitschen Dörfern erst benutzt wird, als die Kinder und Kindeskinder in die brasilianischen Schulen gehen. Paul wird erst später bei den Priestern ein richtiges Portugiesisch lernen.
Paul wächst in ärmsten Verhältnissen mit zehn Geschwistern auf, aber er ist von Anfang an ein kleiner Außenseiter, er liebt Bücher, er liest alles, was er bekommen kann. Als sich ihm die Möglichkeit bietet, auf ein Priesterseminar fernab seines Dorfes zu wechseln, wenn er die Schule gut abschließt, lernt er wie der Teufel. Und er erreicht sein erträumtes Ziel. Dass es im katholischen Internat nicht so traumhaft ist wie gedacht, das lernt er schnell. Und ihm fehlt seine unerfüllte Jugendliebe Marlene sehr.
Die Geschichte wechselt in einem stetigen Rhythmus von Rückblicken auf Kindheit und Jugend von Paul zu den Erlebnissen und Erfahrungen, die Paul in Deutschland macht. Verwoben in diese Geschichten ist auch die Historie der deutschen Einwanderer, des Großvaters Paul, der anderen Großeltern, Tanten und Verwandten und der indigenen Ureinwohner, der Guaraní. Dann gibt es da zum Beispiel den 50 Jahre lang verschollenen Großonkel Archibaldo, der plötzlich wieder auftaucht und beeindruckende Sachen über Deutschland und die Welt berichtet. Der junge Paul saugt alles auf, sein Bild von Deutschland ist blühend und schön, dort will er unbedingt hin, er will unbedingt ein richtiger Deutscher werden. Ob ihm das gelingt, das muss jeder Leser selbst herausfinden, ich möchte hier nicht allzu viele Spoiler hinterlassen, das Buch liest sich spannend und muss es bleiben für jeden, der es beginnt.
Paul wird in Dortmund so einige Überraschungen erleben, er wird erfahren, wer sein Großvater wirklich war und warum er 1935 fluchtartig das Land verließ.
Das Ende des Buches mit seinem „Epiprolog“ hat mich etwas ratlos zurückgelassen. Emma Blum wollte damit wahrscheinlich den Kreis schließen. Ich aber hätte mir eher einen Epilog gewünscht, in dem Paul vielleicht zehn Jahre später zu seinen Eltern nach Brasilien geflogen wäre oder ihnen einen Brief geschrieben hätte oder, oder, oder. Der wunderbare Erzählrhythmus ist mir in diesem letzten Teil verloren gegangen.
Da es sich um viele Einzelpersonen (insbesondere in Brasilien) handelt in diesem Roman, wäre ich über eine Namensliste/eine Familienaufstellung/ein Personenregister oder auch über einen kleinen Stammbaum von Pauls Familie nicht böse gewesen.
Fazit: Wow, was für ein Debüt! Spannend, komisch, traurig, informativ und unterhaltsam, das findet man nicht oft alles in einem einzigen Buch. Ein moderner, gut lesbarer Schreibstil, wunderbar eingearbeitet das „Deitsche“, eine Lebens- und Familiengeschichte, die den Leser in eine ungewohnte Richtung weit über den eigenen Tellerrand blicken lässt. Emma Blum schreibt teilweise lange Sätze, das passt gut hinein in die Gedankenwelt von Paul, der so viel denkt, immer hintereinanderweg. Bei vielen der Protagonisten, die ganz wunderbar charakterisiert sind, man hat das Gefühl, man könnte sie alle sehen oder hören, Emma Blum bringt sie einem wirklich nahe. Sei es der wilde Giovani oder die geheimnisvolle Großmutter, die verrückte Cíntia oder der Bruder Bruno, Felix‘ Mutter genauso wie Frieda Gruber, sie alle wachsen dem Leser einfach ans Herz.
Danke, Emma Blum, für dieses bereichernde und herzerwärmende Debüt.