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Mit »Die Anbetung« legt Jean-Luc Nancy den zweiten Band einer »Dekonstruktion des Christentums« vor. Während der erste Band den selbstdekonstruktiven Charakter des Christentums freizulegen versuchte, wird in den hier versammelten Essays die Geste der Anbetung verfolgt, die einerseits im Herzen des Christentums liegt und andererseits diesem entgegenläuft, indem sie seinem vermeintlich finalen Sinn, seiner scheinbaren Schließung immer noch einen Überschuss hinzufügt. Dabei behandelt Jean-Luc Nancy hier nicht so sehr das Christentum oder seine Autodekonstruktion selbst als vielmehr die Struktur,…mehr

Produktbeschreibung
Mit »Die Anbetung« legt Jean-Luc Nancy den zweiten Band einer »Dekonstruktion des Christentums« vor. Während der erste Band den selbstdekonstruktiven Charakter des Christentums freizulegen versuchte, wird in den hier versammelten Essays die Geste der Anbetung verfolgt, die einerseits im Herzen des Christentums liegt und andererseits diesem entgegenläuft, indem sie seinem vermeintlich finalen Sinn, seiner scheinbaren Schließung immer noch einen Überschuss hinzufügt. Dabei behandelt Jean-Luc Nancy hier nicht so sehr das Christentum oder seine Autodekonstruktion selbst als vielmehr die Struktur, die dieser »erschütternden Geste« der Anbetung zugrunde liegt, der er sich in all ihren Facetten, in der Kunst, der Literatur, dem Christentum und schließlich vor allem bei Sigmund Freud annähert.
Autorenporträt
Nancy, Jean-LucJean-Luc Nancy (1940-2021) war einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Université Marc Bloch in Straßburg und hatte Gastprofessuren in Berkeley, Irvine, San Diego und Berlin inne. Sein vielfältiges Werk umfasst Arbeiten zur Ontologie der Gemeinschaft, Studien zur Metamorphose des Sinns und zu den Künsten, Abhandlungen zur Bildtheorie, aber auch zu politischen und religiösen Aspekten im Kontext aktueller Entwicklungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2012

Auch Gott ist sterblich

Nur weil unser Leben endlich ist, können wir die Welt verändern. Mit seiner Theorie des Körpers ist der Philosoph Jean-Luc Nancy der große Integrator des aktuellen Denkens

Gott ist tot: Das ist ein urchristliches Motiv. Die Götter der alten Mythenwelt, ob sie Uranus, Isis oder Baal geheißen haben, handelten, sprachen oder beobachteten immer vom anderen Ufer des Todes aus. Sie ließen die Toten nicht an jenes Ufer kommen, an dem sie saßen. Und wenn die Toten es doch einmal taten, wachten die Götter streng über der Wahrung jenes Flusses, der zwischen den Menschen und den Göttern immer geflossen war und weiter fließen würde. Die alten Götter saßen tatsächlich auf der anderen Seite.

Gott dagegen, der eine, im Singular, "lebt" nur metaphorisch anderswo. Der eine Gott hängt immer am "Hierselbst" dessen, der ihn ausspricht. Und weil es der menschliche Körper ist, der Gott ausspricht, ist Gott von Anfang an an die Endlichkeit gebunden. Das Christentum hat den Tod als Wahrheit des Lebens gedeutet und den Tod damit ins Leben selbst hineingezogen. Dadurch hat das Christentum aber auch seinem Gott die Möglichkeit der Sterblichkeit sozusagen mitgegeben. Als Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert sehr laut den Tod Gottes verkündete, war er also weder sonderlich originell, noch hatte er sich, wie er behauptete, in die Position des Antichristen versetzt. Nietzsche bewegte sich zumindest mit seiner Formel "Gott ist tot" im Rahmen jener Form des Denkens, die überhaupt erst durch das Christentum möglich wurde. Insofern ist auch das Denken Nietzsches, wenn nicht durch und durch christlich, so doch ohne das Bewässerungssystem des Christentums nicht denkbar. Wie überhaupt nicht nur die Kultur der modernen Welt, ihre Moral, ihr Recht, ihr Humanismus, sondern auch ihr Nihilismus Folgen der christlichen Wende vor 2000 Jahren sind.

Das ist der Kern des Denkprojektes des Philosophen Jean-Luc Nancy, dessen Resümee gerade auf Deutsch erschienen ist. "Anbetung" heißt das Buch und im Untertitel "Dekonstruktion des Christentums 2". Die 2 ist dabei ein Hinweis auf den bereits 2008 auf Deutsch erschienenen Essayband "Dekonstruktion des Christentums". Man kann die beiden Bände aufeinander aufbauend lesen, muss es aber nicht. Alle zentralen Gedanken des ersten Bandes sind in die Erzählung der "Anbetung" eingegangen und bleiben auch in der notwendig verkürzten Form verständlich.

Unter den aktuell weltweit rezipierten französischen Philosophen wie Alain Badiou und Jacques Rancière ist Nancy der Unaufgeregteste und Unbekannteste. Was mit Sicherheit auch damit zu tun hat, dass er die Welt und seine Gegenstände nicht in ein Innen und Außen einteilt. Die Welt hat kein Außen, und die ihn ihr lebenden Körper teilen sich nicht in ein Innen und Außen. Die lebenden Körper, so Nancy, sind mit ihren Öffnungen, Mund, Augen, Ohren und den Ausscheidungen immer beides: Innen und Außen und damit "in die Welt gesetzt, die sie selbst sind". Das Leben der Körper ist dadurch einfach da, ohne Berechtigung da zu sein und vor allem: ohne jeden Grund.

Am Grund von Nancys Denken steht eine schlichte Tatsache: Die lebendigen Körper haben in dieser Welt nur ein Leben, und dieses Leben ist endlich. Das gilt auch für die berühmte Katze, denn Nancys Körpertheorie schließt die Pflanzen und Tiere ebenso ein wie den Menschen. In seinem Buch "Corpus" versucht Nancy den Körper mit all seinen Unwägbarkeiten, zufälligen Wucherungen, Sinneswahrnehmungen, Gefühlen und Affekten und ihren gedanklichen Verarbeitungen so zu beschreiben, dass der alte Körper-Geist- oder Körper-Seele-Dualismus gar nicht erst überwunden werden muss, sondern schlicht in der neuen Beschreibung aufgelöst wird. Es handelt sich dabei um einen Körper, der singulär, einmalig ist, aber ohne Grund und Ziel in der Welt, und dieser Körper nun versucht mit seinen Sinnen sich einen Sinn zu geben. Bei diesem Versuch merkt der Körper ziemlich schnell, dass Sinn nur erschaffen werden kann, wenn man ihn mit einem anderen teilen kann. "Singulär plural sein" heißt Nancys Formel für diesen Vorgang der Verknüpfung von Ich und Wir.

Nancy ist mit diesen wellenden Bewegungen, die ohne die alten Pole wie Körper und Psyche agieren, der große Integrator des aktuellen Denkens. So wie er das Christentum mit dem Atheismus zusammendenkt beziehungsweise auseinander hervorgehen lässt, so gibt er auch das Spiel "Eins teilt sich in zwei" auf. Das heißt aber nicht, dass Nancy ein unpolitischer Versöhnler wäre, der in esoterischen Gaia-Hypothesen versinkt. Er handelt eher nach Isaac Newton, der von sich sagte: "Ich schmiede keine Hypothesen." Nancy konstruiert wie Newton seine Ordnung rationaler Naturgesetze, eine Ordnung philosophischer Erzählungen, die jedoch nicht dazu dienen dürfen, die Welt als solche zu begründen und ihre Vernünftigkeit nachzuweisen.

Für Nancy sind das alles Dinge, die nicht möglich sind. Es gibt in "Anbetung" dazu eine kurze Passage, in der er die Entstehung von Leibniz' Forderung nach dem "Satz vom Grund", nach dem für jede Sache ein zureichender Grund angegeben werden muss, beschreibt. Die Forderung nach dem Vernunftprinzip taucht, meint Nancy, genau in dem Moment auf, als das Modell der Rationalität bereits seine eigene Grenze ahnte oder schon an ihr kratzte, wie Newton es mit seinem Diktum tat. Und wir heute können, nachdem das Modell der Rationalität unter anderem von Nietzsche der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, nicht mehr zu ihm zurückkehren. Genauso wenig können wir aber auch zu Gott oder zur Religion zurückkehren. Jede Rückkehr ist schal. Es gilt allerdings zu verstehen, dass das Christentum die Abschaffung Gottes selbst inszeniert hat, indem es den Gott in diese Welt eintreten ließ und Gott die Welt aus nichts erschaffen ließ. Deshalb kann Nancy sagen, "die Welt beruht auf nichts". Und mit dem Tod Gottes ist der Welt auch ihr Schöpfer abhandengekommen. Die Welt ist damit nur diese Welt, sie hat keinen anderen Sinn als nur den, da zu sein für die Lebewesen, die in ihr leben. An diesem Punkt wird Nancys Dekonstruktion des Christentums politisch. Das Christentum ist für ihn untrennbar mit dem Westen verbunden, und der Westen ist, mit dem Prozess der Globalisierung, die Welt geworden. Trotz der großen Unterschiede zwischen Judentum, Islam und Christentum sieht Nancy den Atheismusvektor auch in Islam und Judentum auf die Dauer wirken.

Wie das geschehen kann, kann man am Denken Friedrich Wilhelm Joseph Schellings nachvollziehen, von dem Nancy die These übernimmt, dass der Monotheismus ein Atheismus sei. Schelling denkt in der Zeit der Romantik einen Bruch. Die Naturwissenschaften hatten zu der Zeit bereits jede einmalige unveränderte Schöpfung insofern erledigt, als klar geworden war, dass sich Arten oder Lebewesen andauernd verändern, aussterben beziehungsweise sich unberechenbar wuchernd in der Welt verbreiten. Das konstatierte Schelling auch in seiner bis heute nicht erschöpften Naturphilosophie, die an manchen Stellen fast schon darwinianisch jeden Grund und jedes Ziel der Natur verwirft. Von Gott sprach Schelling allerdings in seinen Texten unverändert weiter, ihn wegzulassen fiel dafür den Lesern seiner Naturphilosophie umso leichter.

Denselben Prozess sieht Nancy in Teilen des Judentums und des Islams am Werk. Ohne die vielen Widersacher dieses Prozesses zu unterschlagen, sieht er darin die universelle Möglichkeit der Erschaffung einer neuen Welt aus der alten, eben auch christlichen heraus. Das ist das zentrale integrative Element dieses Denkens: Nur in der Auseinandersetzung mit den herrschenden Mächten kann das Neue entstehen, weil es kein Außen gibt, in das man flüchten kann. Die Wege in den Exodus sind nicht verstellt; es gibt sie nicht. Man kann nur hier am Rahmen zerren. Die Globalisierung zum Beispiel lässt sich nicht aufhalten. Man kann aber beschreiben, inwieweit sie die Prozesse des menschlichen Zusammenlebens determiniert, anstatt sie frei zur Entfaltung kommen zu lassen. Für Nancy ist die Globalisierung dadurch gekennzeichnet, dass sie den frei gewordenen Platz des Schöpfergottes nicht frei lässt, sondern besetzt durch die verschiedensten Mächte, zu denen er auch das Kapital zählt. Marx zitierend, meint Nancy, dass die Öffnung der Welt nur über freie Arbeit freier Arbeiter erschaffen werden kann. Wobei Öffnung ein Schlüsselbegriff ist, der jedem Körper in seiner Singularität zugänglich ist. Nancy geht dabei mit einer solchen Selbstverständlichkeit von der Wahrscheinlichkeit des Gelingens der Öffnung in singulärer Schönheit aus, dass jede Form der Resignation aus seinem Werk verdammt scheint. Das ist schön und erstaunlich zugleich, bei einem Körper, wie dem Nancys. Seit Jahrzehnten lebt der Philosoph mit einer prekären Gesundheit. Nancy musste sich einer Herztransplantation unterziehen und parallel zur Herzgenesung auch noch gegen den Krebs kämpfen.

CORD RIECHELMANN

Jean-Luc Nancy: "Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2". Diaphanes, 160 Seiten, 19,90 Euro

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»Nicht nur, dass dieses Buch in seinem feinfühligen und zärtlichen Betasten seines Sujets ein erotisches ist: 'Die Anbetung' exponiert den mustergültigen Fall eines Schreibgestus, bei dem das Wie der Darstellung ihr Was innig umgarnt und doch stets davon unterscheidbar bleibt.« Tillmann Reik, Culturmag