Pesto alla Genovese, Spaghetti Napoli, Bistecca alla Fiorentina, Saltimbocca alla Romana ohne die Städte gäbe es die italienische Küche in ihrer heutigen Form gar nicht. Entgegen der landläufigen Meinung ist diese nicht als Bauernkost in den toskanischen Weinbergen und Olivenhainen entstanden, sondern verkörpert die Geschichte und das Selbstbewusstsein der reichen, unabhängigen Stadtstaaten. Nach seinem Bestseller über die Geschichte der Mafia wendet sich John Dickie der prachtvollen Historie des italienischen Essens zu, die zugleich die Geschichte der beliebtesten Küche der Welt ist. Dabei fördert er Erstaunliches über die angeblich so wohl bekannte Kochkunst zutage und räumt mit vielen Mythen auf. Eine ungewöhnliche, kluge und faszinierende Geschichte Italiens und seiner größten Leidenschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2009In den Städten kamen sie auf den Geschmack
Warum essen die Italiener eigentlich so gut? John Dickie versucht eine Antwort und schreibt ein schönes und ungewöhnliches Buch über Rezepte und ihre Geschichte.
Italiener reagieren gemeinhin mit Skepsis, wenn sich Ausländer in zwei ihrer heikelsten Themen mischen: Mafia und Küche. Denn über beides wissen eigentlich nur die Italiener aus erster Hand Bescheid. Nach seiner umfangreichen Geschichte über die italienische organisierte Kriminalität, die vor drei Jahren unter dem Titel "Cosa nostra" erschien und auch in Italien einhellig positive Reaktionen hervorrief, wagt sich der englische Historiker und Romanist John Dickie nun an das zweite heiße Eisen: die Geschichte der italienischen Küche. "Delizia" ist jedoch glücklicherweise nicht wie so viele andere Veröffentlichungen der Versuch eines Schnellkochs, italienische Rezepte im schlimmsten Fall auf den englischen oder deutschen Gaumen herunterzunivellieren.
John Dickie ist ernsthafter und trotzdem unterhaltsam. Seine Grundfrage lautet: Wie kommt es überhaupt, dass die Italiener so gut essen? Bei der Beantwortung dieser Frage sind wir alle stark von Mythen, von Werbung und Kino beeinflusst. Das Bild einer Landtrattoria, in sanften Toskanahügeln und mit einer Allee von Zypressen davor, erweckt in uns die verheißungsvolle Vorstellung von einem köstlichen Essen mit einer hausgemachten Pasta und einem Glas Chianti. Auch viele Italiener selbst würden glauben, die gute italienische Küche könne nur aus ihren fruchtbaren Landgefilden kommen.
Aber John Dickie hat die Geschichte der italienischen Küche seit dem Mittelalter genauer unter die Lupe genommen und kann nachweisen, dass sie keineswegs auf dem Landleben, sondern allein auf der italienischen Stadtkultur fußt. Wollte man diese Geschichte anhand des Lebens der italienischen Bauern seit dem Mittelalter erzählen, ergebe sich ein trauriges Bild: Armut und Entbehrung brachten kümmerliche Rezepte hervor aus Mais- und Hirsebrei, Bohnen und Zwiebeln. Dazu passt ein italienisches Sprichwort: "Wenn der Bauer ein Huhn isst, ist entweder der Bauer krank oder das Huhn." Es erzählt von einer traurigen Realität, die im ländlichen Italien bis in die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs der 1950er Jahre herrschte. Was wir heute unter typisch italienischer Küche verstehen, hat sich in seiner Breitenwirksamkeit und Vielfalt erst seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Bürgertum entwickelt.
Bereits im frühen Mittelalter hat Dickie allerdings Spuren dessen gefunden, was wir heute Pasta nennen und was damals lediglich Zubereitungen von Getreide waren, die als Klößchen (gnocchi), Teigblätter (lasagne) oder geschnittene Streifen in Wasser oder Brühe gekocht wurden und meistens insgesamt "maccheroni" genannt wurden. Das kommt von "maccare", zerstampfen.
Der Autor begegnet bei der Suche nach den Ursprüngen der italienischen Vorliebe für Pasta zahlreichen Legenden. Die bekannteste erzählt von Marco Polo, der die Pasta aus China importiert haben soll. Eine andere entspinnt sich aus den Aufzeichnungen des Hofgeographen des sizilianischen Königs Roger II., al-Sharif al-Idrisi, der unweit von Palermo einen Ort beschrieb, wo man "itriyya" herstellte, die in die ganze Welt exportiert worden seien. Diese "itriyya" will Dickie in einer Pasta-Sorte wiedererkennen, die man heute - aber auch nur unter Eingeweihten - "trie" nennt. Schule gemacht hat dieser Begriff jedenfalls nicht, und er ist, das gibt der Autor zu, auch kein Beweis, dass die Pasta von den Arabern nach Sizilien gebracht wurde. Anders verhält es sich mit dem Couscous aus Hartweizengrieß, der natürlich aus dem arabischen Raum importiert wurde und noch heute in Sizilien zu den Traditionsgerichten gehört.
Dickie hat als staunender Brite eine beeindruckende Menge von historischen Aufzeichnungen, von Kochbüchern beziehungweise Rezeptsammlungen von Hofköchen aus ganz Italien zusammengesucht. Als erstes kulturelles Zentrum der Halbinsel erscheint das Mailand des dreizehnten Jahrhunderts. In "De magnalibus Mediolani", den "Wundern von Mailand", beschreibt ausgerechnet der Bettelmönch Bonvesin seine Stadt wie das Schlaraffenland. Dickie interessiert sich vor allem für das Kapitel über die Mailänder Küche, die uns Heutigen vor allem durch das safrangelbe "Risotto alla Milanese" oder die namensgleichen panierten "cotolette" bekannt ist. Bei Bonvesin trift man diese Gerichte noch nicht an. Stattdessen findet sich vor allem eine prahlerische Aufzählung der von den Mailänder verspeisten Tiere - ein halber Zoo: vom Schwein bis zur Ziege, vom Kapaun bis zu Amseln. Um Verfeinerung ging es Bonvesin nicht. Die schiere Masse sollte den Leser erschlagen, und Dickie analysiert die Aufzählungen der siebzig täglich geschlachteten Ochsen als pure Zurschaustellung von Reichtum und Macht.
Auch wenn der venezianische Weltenbummler Marco Polo vielleicht doch nicht die Pasta von China nach Italien gebracht hat, so spielt seine Heimatstadt Venedig für die Kochkultur eine entscheidende Rolle. Venedig war im vierzehnten Jahrhundert das wichtigste Handelszentrum Europas, hier wurden die begehrten Gewürze des Orients umgeschlagen. Pfeffer, Ingwer, Muskat, Gewürznelken, Zimt parfümierten den gesamten Rialto-Markt. Im venezianischen Dialektwerk "Libro per cuoco" werden für den Kochprofi genaue Gewürzmischungen beschrieben. Und wir lernen, was auch amerikanische Ketchup-Hersteller wissen: Zucker - damals überaus rar - ist ein idealer Geschmacksverstärker. Darüber hinaus findet sich hier tatsächlich bereits ein Rezept für einen der Klassiker der venezianischen Küche, "pesse in saor", Fisch, der nach dem Braten in einer Marinade aus Wein, Essig und Zwiebeln eingelegt und damit auch haltbar gemacht wird. Und doch meint Dickie, dass weder Gewürze noch Zubereitungen etwas mit der Konservierung oder mit dem Hautgout nicht mehr ganz frischer Lebensmittel zu tun hatten, sondern immer schon eine reine Geschmacksfrage waren. Ob der Gaumen - und nicht der Magen - vor der Erfindung der Kühlschränke wirklich das einzige Motiv fürs Würzen war? Immerhin desinfizierte man in Venedig bis ins sechzehnte Jahrhundert nach Pestepidemien Hammelkeulen durch Räuchern und Pökeln.
Romanhaft spannend werden Dickies Beschreibungen immer dann, wenn er sich historische Personen wie den Verwalter und Haushofmeister der Herzöge von Ferrara, Cristoforo da Messisburgo, herausgreift. Dieser war unter anderem für die Festessen anlässlich der Hochzeit von Ercole d'Este mit der Tochter Ludwigs XII. verantwortlich. Die Aufzählung der Vorspeisen klingt noch verlockend: Anchovissalat, Wildschweinpastete, gebeizte Meerbrasse. Aber dann folgt beim ersten Gang neben Kapaun, Wachteln und Meerbarschmilz: Aal in Marzipan. Und um die Perversion für heutige Gaumen auf die Spitze zu treiben: Kalbsbries mit Zucker und Zimt.
Wie sich die feinen Leute über die hungernde Landbevölkerung lustig machten, kann Dickie an einer besonders eindrucksvollen Trouvaille aus dem siebzehnten Jahrhundert verdeutlichen: Der Bologneser Dichter Giulio Cesare Croce liefert in einer Parodie auf die Oberschichtenküche ein grausames Zeugnis von Entbehrung und Not: ein Menü der Armut, das "Bankett der Unterernährten", bestehend aus Hornissenfrikadellen und Gekröse vom Zaunkönig. Schmalhans war nie ein guter Küchenmeister.
Für unser Verständnis der "cucina italiana", wie wir sie heute kennen, sind all diese lesenswerten historischen Details von geringem Belang. Interessant wird es da erst im neunzehnten Jahrhundert. Der aus der Romagna stammende Wahl-Florentiner Pellegrino Artusi kann mit Recht einer der Begründer der italienischen Küche genannt werden. Sein 1881 erschienenes Werk "Die Wissenschaft des Kochens" zählt auch heute zum Kochbücher-Grundbestand in bürgerlichen italienischen Haushalten, die es ernst nehmen mit ihrer Tradition. Dickie weist zu Recht darauf hin, dass die Vereinigung Italiens zu einer Nation im sogenannten "Risorgimento" das Anliegen einer winzigen Minderheit war. Diese kam vornehmlich aus dem Piemont, das von den französischsprachigen Savoyern regiert wurde.
Noch heute merkt man der piemontesischen Küche ihre französischen Wurzeln mit Gerichten wie "fonduta" und "fricandó" deutlich an. Demgegenüber stellte Artusi eine bürgerliche Küche vor, die er vor allem aus Rezepten aus Bologna und Florenz, dem an landwirtschaftlichen Produkten reichen Bauch Italiens, zusammensuchte. An diesen einfachen Rezepten, in denen Pasta und Tomatensugo bereits eine herausragende Rolle spielen, hat sich im Kernbestand nur wenig geändert. Daran konnten auch die brutalen Geschmacksverirrungen des Futuristen Filippo Tommaso Marinetti nichts ändern, der in einem Musterlokal in Turin Anfang der dreißiger Jahre "Intuitive Vorspeisen" und "Carneplastico" (Plastikfleisch) propagierte. Die Pasta, so zitiert Dickie, war in den Augen der Futuristen die "absurde gastronomische Religion Italiens".
John Dickie ist ein schönes und ungewöhnliches Küchenbuch über die Geschichte Italiens gelungen. Er würdigt am Ende noch die Slow-Food-Bewegung, die seit 1989 versucht, genuin italienische Produkte zu fördern und gegen die boomende Imbissküche zu schützen. "Warum essen die Italiener eigentlich so gut?" Diese seine Eingangsfrage kann John Dickie letztlich nicht wirklich beantworten. Und dass dieses Rätsel ungelöst bleibt, macht den Zauber dieser einfachen und zugleich so komplizierten Küche nur noch größer.
BIRGIT PAULS
John Dickie: "Delizia!" Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 448 S., Abb., geb., 22,95 [Euro].
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Warum essen die Italiener eigentlich so gut? John Dickie versucht eine Antwort und schreibt ein schönes und ungewöhnliches Buch über Rezepte und ihre Geschichte.
Italiener reagieren gemeinhin mit Skepsis, wenn sich Ausländer in zwei ihrer heikelsten Themen mischen: Mafia und Küche. Denn über beides wissen eigentlich nur die Italiener aus erster Hand Bescheid. Nach seiner umfangreichen Geschichte über die italienische organisierte Kriminalität, die vor drei Jahren unter dem Titel "Cosa nostra" erschien und auch in Italien einhellig positive Reaktionen hervorrief, wagt sich der englische Historiker und Romanist John Dickie nun an das zweite heiße Eisen: die Geschichte der italienischen Küche. "Delizia" ist jedoch glücklicherweise nicht wie so viele andere Veröffentlichungen der Versuch eines Schnellkochs, italienische Rezepte im schlimmsten Fall auf den englischen oder deutschen Gaumen herunterzunivellieren.
John Dickie ist ernsthafter und trotzdem unterhaltsam. Seine Grundfrage lautet: Wie kommt es überhaupt, dass die Italiener so gut essen? Bei der Beantwortung dieser Frage sind wir alle stark von Mythen, von Werbung und Kino beeinflusst. Das Bild einer Landtrattoria, in sanften Toskanahügeln und mit einer Allee von Zypressen davor, erweckt in uns die verheißungsvolle Vorstellung von einem köstlichen Essen mit einer hausgemachten Pasta und einem Glas Chianti. Auch viele Italiener selbst würden glauben, die gute italienische Küche könne nur aus ihren fruchtbaren Landgefilden kommen.
Aber John Dickie hat die Geschichte der italienischen Küche seit dem Mittelalter genauer unter die Lupe genommen und kann nachweisen, dass sie keineswegs auf dem Landleben, sondern allein auf der italienischen Stadtkultur fußt. Wollte man diese Geschichte anhand des Lebens der italienischen Bauern seit dem Mittelalter erzählen, ergebe sich ein trauriges Bild: Armut und Entbehrung brachten kümmerliche Rezepte hervor aus Mais- und Hirsebrei, Bohnen und Zwiebeln. Dazu passt ein italienisches Sprichwort: "Wenn der Bauer ein Huhn isst, ist entweder der Bauer krank oder das Huhn." Es erzählt von einer traurigen Realität, die im ländlichen Italien bis in die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs der 1950er Jahre herrschte. Was wir heute unter typisch italienischer Küche verstehen, hat sich in seiner Breitenwirksamkeit und Vielfalt erst seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Bürgertum entwickelt.
Bereits im frühen Mittelalter hat Dickie allerdings Spuren dessen gefunden, was wir heute Pasta nennen und was damals lediglich Zubereitungen von Getreide waren, die als Klößchen (gnocchi), Teigblätter (lasagne) oder geschnittene Streifen in Wasser oder Brühe gekocht wurden und meistens insgesamt "maccheroni" genannt wurden. Das kommt von "maccare", zerstampfen.
Der Autor begegnet bei der Suche nach den Ursprüngen der italienischen Vorliebe für Pasta zahlreichen Legenden. Die bekannteste erzählt von Marco Polo, der die Pasta aus China importiert haben soll. Eine andere entspinnt sich aus den Aufzeichnungen des Hofgeographen des sizilianischen Königs Roger II., al-Sharif al-Idrisi, der unweit von Palermo einen Ort beschrieb, wo man "itriyya" herstellte, die in die ganze Welt exportiert worden seien. Diese "itriyya" will Dickie in einer Pasta-Sorte wiedererkennen, die man heute - aber auch nur unter Eingeweihten - "trie" nennt. Schule gemacht hat dieser Begriff jedenfalls nicht, und er ist, das gibt der Autor zu, auch kein Beweis, dass die Pasta von den Arabern nach Sizilien gebracht wurde. Anders verhält es sich mit dem Couscous aus Hartweizengrieß, der natürlich aus dem arabischen Raum importiert wurde und noch heute in Sizilien zu den Traditionsgerichten gehört.
Dickie hat als staunender Brite eine beeindruckende Menge von historischen Aufzeichnungen, von Kochbüchern beziehungweise Rezeptsammlungen von Hofköchen aus ganz Italien zusammengesucht. Als erstes kulturelles Zentrum der Halbinsel erscheint das Mailand des dreizehnten Jahrhunderts. In "De magnalibus Mediolani", den "Wundern von Mailand", beschreibt ausgerechnet der Bettelmönch Bonvesin seine Stadt wie das Schlaraffenland. Dickie interessiert sich vor allem für das Kapitel über die Mailänder Küche, die uns Heutigen vor allem durch das safrangelbe "Risotto alla Milanese" oder die namensgleichen panierten "cotolette" bekannt ist. Bei Bonvesin trift man diese Gerichte noch nicht an. Stattdessen findet sich vor allem eine prahlerische Aufzählung der von den Mailänder verspeisten Tiere - ein halber Zoo: vom Schwein bis zur Ziege, vom Kapaun bis zu Amseln. Um Verfeinerung ging es Bonvesin nicht. Die schiere Masse sollte den Leser erschlagen, und Dickie analysiert die Aufzählungen der siebzig täglich geschlachteten Ochsen als pure Zurschaustellung von Reichtum und Macht.
Auch wenn der venezianische Weltenbummler Marco Polo vielleicht doch nicht die Pasta von China nach Italien gebracht hat, so spielt seine Heimatstadt Venedig für die Kochkultur eine entscheidende Rolle. Venedig war im vierzehnten Jahrhundert das wichtigste Handelszentrum Europas, hier wurden die begehrten Gewürze des Orients umgeschlagen. Pfeffer, Ingwer, Muskat, Gewürznelken, Zimt parfümierten den gesamten Rialto-Markt. Im venezianischen Dialektwerk "Libro per cuoco" werden für den Kochprofi genaue Gewürzmischungen beschrieben. Und wir lernen, was auch amerikanische Ketchup-Hersteller wissen: Zucker - damals überaus rar - ist ein idealer Geschmacksverstärker. Darüber hinaus findet sich hier tatsächlich bereits ein Rezept für einen der Klassiker der venezianischen Küche, "pesse in saor", Fisch, der nach dem Braten in einer Marinade aus Wein, Essig und Zwiebeln eingelegt und damit auch haltbar gemacht wird. Und doch meint Dickie, dass weder Gewürze noch Zubereitungen etwas mit der Konservierung oder mit dem Hautgout nicht mehr ganz frischer Lebensmittel zu tun hatten, sondern immer schon eine reine Geschmacksfrage waren. Ob der Gaumen - und nicht der Magen - vor der Erfindung der Kühlschränke wirklich das einzige Motiv fürs Würzen war? Immerhin desinfizierte man in Venedig bis ins sechzehnte Jahrhundert nach Pestepidemien Hammelkeulen durch Räuchern und Pökeln.
Romanhaft spannend werden Dickies Beschreibungen immer dann, wenn er sich historische Personen wie den Verwalter und Haushofmeister der Herzöge von Ferrara, Cristoforo da Messisburgo, herausgreift. Dieser war unter anderem für die Festessen anlässlich der Hochzeit von Ercole d'Este mit der Tochter Ludwigs XII. verantwortlich. Die Aufzählung der Vorspeisen klingt noch verlockend: Anchovissalat, Wildschweinpastete, gebeizte Meerbrasse. Aber dann folgt beim ersten Gang neben Kapaun, Wachteln und Meerbarschmilz: Aal in Marzipan. Und um die Perversion für heutige Gaumen auf die Spitze zu treiben: Kalbsbries mit Zucker und Zimt.
Wie sich die feinen Leute über die hungernde Landbevölkerung lustig machten, kann Dickie an einer besonders eindrucksvollen Trouvaille aus dem siebzehnten Jahrhundert verdeutlichen: Der Bologneser Dichter Giulio Cesare Croce liefert in einer Parodie auf die Oberschichtenküche ein grausames Zeugnis von Entbehrung und Not: ein Menü der Armut, das "Bankett der Unterernährten", bestehend aus Hornissenfrikadellen und Gekröse vom Zaunkönig. Schmalhans war nie ein guter Küchenmeister.
Für unser Verständnis der "cucina italiana", wie wir sie heute kennen, sind all diese lesenswerten historischen Details von geringem Belang. Interessant wird es da erst im neunzehnten Jahrhundert. Der aus der Romagna stammende Wahl-Florentiner Pellegrino Artusi kann mit Recht einer der Begründer der italienischen Küche genannt werden. Sein 1881 erschienenes Werk "Die Wissenschaft des Kochens" zählt auch heute zum Kochbücher-Grundbestand in bürgerlichen italienischen Haushalten, die es ernst nehmen mit ihrer Tradition. Dickie weist zu Recht darauf hin, dass die Vereinigung Italiens zu einer Nation im sogenannten "Risorgimento" das Anliegen einer winzigen Minderheit war. Diese kam vornehmlich aus dem Piemont, das von den französischsprachigen Savoyern regiert wurde.
Noch heute merkt man der piemontesischen Küche ihre französischen Wurzeln mit Gerichten wie "fonduta" und "fricandó" deutlich an. Demgegenüber stellte Artusi eine bürgerliche Küche vor, die er vor allem aus Rezepten aus Bologna und Florenz, dem an landwirtschaftlichen Produkten reichen Bauch Italiens, zusammensuchte. An diesen einfachen Rezepten, in denen Pasta und Tomatensugo bereits eine herausragende Rolle spielen, hat sich im Kernbestand nur wenig geändert. Daran konnten auch die brutalen Geschmacksverirrungen des Futuristen Filippo Tommaso Marinetti nichts ändern, der in einem Musterlokal in Turin Anfang der dreißiger Jahre "Intuitive Vorspeisen" und "Carneplastico" (Plastikfleisch) propagierte. Die Pasta, so zitiert Dickie, war in den Augen der Futuristen die "absurde gastronomische Religion Italiens".
John Dickie ist ein schönes und ungewöhnliches Küchenbuch über die Geschichte Italiens gelungen. Er würdigt am Ende noch die Slow-Food-Bewegung, die seit 1989 versucht, genuin italienische Produkte zu fördern und gegen die boomende Imbissküche zu schützen. "Warum essen die Italiener eigentlich so gut?" Diese seine Eingangsfrage kann John Dickie letztlich nicht wirklich beantworten. Und dass dieses Rätsel ungelöst bleibt, macht den Zauber dieser einfachen und zugleich so komplizierten Küche nur noch größer.
BIRGIT PAULS
John Dickie: "Delizia!" Die Italiener und ihre Küche. Geschichte einer Leidenschaft. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 448 S., Abb., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
John Dickies Buch über die italienische Küche hat Rezensentin Birgit Pauls sehr gut gefallen. Sie zeigt sich beeindruckt von der Fülle von historischen Aufzeichnungen, Kochbüchern und Rezeptsammlungen, die der Autor herangezogen und ausgewertet hat. Dickies Geschichte der italienischen Küche vom Mittelalter bis heute scheint ihr ebenso solide wie unterhaltsam. Sie berichtet über die zahlreichen Legenden, denen der Autor bei seiner Suche nach den Ursprüngen der Pasta begegnet, über die ärmliche Bauernküche im italienischen Mittelalter und der protzigen der feinen Leute sowie über die Entstehung der italienische Küche, wie wir sie heute kennen, im 19. Jahrhunderts, als deren Begründer Pellegrino Artusi mit seinem Werk "Die Wissenschaft des Kochens" zählen darf. Dass der Autor seine Eingangsfrage, warum die Italiener eigentlich so gut essen, nicht wirklich beantworten kann, fällt für Pauls nicht negativ ins Gewicht, sondern verstärkt für sie den Zauber der italienischen Küche nur noch. Ihr Fazit: ein "schönes und ungewöhnliches Buch über Rezepte und ihre Geschichte".
© Perlentaucher Medien GmbH
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