Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2014Die Champions League unter den Orakeln
Michael Scott weiß, wie man in Delphi mit verrätselten Weissagungen die Kundschaft zum Nachdenken brachte
Als "Pythia vom Bodensee" hat man Elisabeth Noelle-Neumann bezeichnet, mit Achtung oder spöttisch. Wie das delphische Orakel wurde auch die große Dame der deutschen Demoskopie von den Mächtigen gern befragt, obwohl in beiden Fällen nur wenige Eingeweihte darum wussten, wie die Sprüche zustande kamen, und obwohl oft unklar war, ob die Antworten nur die Frage spiegelten oder Ausdruck einer eigenen Politik waren.
Nachvollziehbar beginnt der in Warwick Classics und Alte Geschichte lehrende Michael Scott sein Buch also mit der Praxis des Orakelspruches. In Delphi einen solchen überhaupt zu erhalten war mühsam, konnte man die Orakelpriesterin doch nur jeweils einmal im Monat, insgesamt neunmal im Jahr, befragen. Die Kosten für Anreise und Aufenthalt übertrafen die zu entrichtende Gebühr bei weitem. Verbreitet, aber kaum erhärtbar ist das Bild einer Pythia, die durch einem Erdspalt entströmende Gase in Trance versetzt wird und deren delirierende Sprüche die Apollonpriester in brauchbare Auskünfte verwandeln.
Wichtiger als die seriös nicht mehr zu ermittelnde konkrete Praxis erscheint die Frage, warum das Orakel immer wieder befragt wurde. Antike Divination ruhte auf dem Glauben, eine Kommunikation mit dem Göttlichen sei grundsätzlich möglich und gelinge vielfach auch, und so wie das delphische Orakel nur eines von vielen in der gesamten griechischen Welt war, gab es noch andere Wege, sich ein Wissen besonderer Art zu beschaffen. Delphi erwies sich aber als besonders erfolgreich, weil hier kaum je platte Vorhersagen der Zukunft erbeten und erteilt wurden. "Das Hauptgebiet der Orakel war nicht die Weissagung, sondern der Bescheid im weitern Umfange des Wortes", wusste schon Jacob Burckhardt.
In der Tat trugen die Gesandten meist konkrete Optionen für strittige Vorhaben vor. Eine verrätselte, der Deutung bedürftige Antwort nötigte die Fragenden dann, die Sache daheim wieder zu beraten und zu einer besser begründeten Entscheidung zu kommen, die durch die "richtige" Deutung des Orakelspruchs zusätzliche Autorität gewann.
Mit der Befragung wurde Zeitdruck herausgenommen, die Antwort steigerte im günstigen Fall die Qualität der Deliberation und stärkte den schließlich erreichten Konsens über die Entscheidung, wie Scott am Beispiel der ratsuchenden Athener kurz vor dem persischen Angriff im Jahr 480 vor Christus zeigt. Weil das Orakel nicht mit riskanten Wahrsagesprüchen handelte, sondern eher ein "sense-making mechanism" war, konnte es ferner kaum platt irren - es besaß gleichsam eine Teflonbeschichtung. Nicht zufällig ist der bekannteste mit Delphi verbundene Satz eine Aufforderung an den Besucher: Erkenne dich selbst!
Doch der einzigartige Erfolg des Orakels ist ohne die Geschichte Delphis über seine gesamte Lebensspanne hinweg nicht zu verstehen, und so zielt Scott auf eine Gesamtgeschichte des Nabels der antiken Welt in Breitwandtechnicolor. Die zahlreichen Gründungsmythen helfen nicht weiter, wenn nach dem Wie, Wann und Warum von Delphis Aufstieg gefragt wird, aber sie zeigen, wie die Griechen selbst darüber gedacht haben. Sieg der Ordnung über das Chaos und Durchbruch des Wissens, das verband man mit dem Heiligtum und seinem Gott Apollon. Doch der Aufstieg, befördert durch expandierenden Handel und Netzwerke zwischen Korinth und Thessalien, zog sich.
Delphi war schon geraume Zeit eine bekannte, von Stadtstaaten und -herrschern, kleinasiatischen Potentaten und hellenischen Kolonisten aufgesuchte und mit Weihgaben beschenkte Orakelstätte, bevor überhaupt ein heiliger Bezirk ausgewiesen und später dann mit monumentalen Bauten ausgestattet wurde. Baulich machte das Heiligtum erst im sechsten Jahrhundert einen großen Sprung nach vorn, wobei eine Brandkatastrophe Schrittmacherdienste leistete.
Auch weil das Heiligtum am Fuß des Parnass nicht als Produkt einer einzelnen, ihre Identität bildenden Polisgemeinschaft aufwuchs, war es spät dran, gewann aber gerade durch die politische Ungebundenheit schrittweise an Attraktivität für ganz Griechenland. Die Expertise für alle Fragen von Staatsbildung und Gemeinschaftshandeln erwies sich als zukunftsträchtiges Geschäftsmodell, und als Reichtum und Kompetenz ein bestimmtes Niveau erreicht hatten, konnte Delphi mit weitester Ausstrahlung gleichsam zum FC Bayern der hellenischen Orakel werden.
Als das Heiligtum - auch als Heimstatt weiterer Gottheiten - erst einmal eine kritische Masse erreicht hatte, beeilten sich viele griechische Stadtstaaten, dort mit Weihungen oder gar prachtvoll gestalteten Schatzhäusern präsent zu sein. Nach den Perserkriegen wurde Delphi zusätzlich Ort der Erinnerung an den Sieg der hellenischen Koalition, manifest zumal in der Schlangensäule, die später nach Konstantinopel verbracht wurde. Auch die Pythischen Spiele gewannen noch einmal an Prestige, und im fünften Jahrhundert speiste sich der Rang des Ortes nicht mehr allein aus dem Orakel. Doch die herausragende Bedeutung, der Reichtum an Weihgeschenken, verbunden mit einer geographisch isolierten Lage sowie geringer Größe und Bevölkerung, machte Delphi anfällig, etwa gegen die benachbarten Phoker. Hinzu kamen Umwälzungen im Machtgefüge der Poliswelt und interne Konflikte, ferner als tiefer Einschnitt der Dritte Heilige Krieg Mitte des vierten Jahrhunderts und das Eindringen Philipps des Zweiten von Makedonien in die sogenannte Amphiktyonie, die Gemeinschaft der das Heiligtum schützenden Gemeinden.
Im Hellenismus und im Zeichen von Roms Aufstieg zur Supermacht verlor Delphi an Bedeutung. Der Galliereinfall im dritten vorchristlichen Jahrhundert markierte eine Zäsur. Wie für die Klassische Zeit entfaltet Scott auch hier eine ganze Epochengeschichte aus delphischer Perspektive. In der Kaiserzeit gab es eine gewisse Renaissance: Zwar zeigte Augustus kein besonderes Interesse am Orakel und Heiligtum, aber Hadrian und Herodes Atticus sorgten für eine letzte, bescheidene Blüte. Im Jahr 390 endete der Kult, aber der aufgegebene Apollontempel stand noch lange neben der neuen christlichen Basilika. Die spannende Wiederentdeckung und Erforschung Delphis sowie ein kompakter Rundgang für Besucher beschließen das Buch.
Scott verknüpft gekonnt Beschreibungen von Anlagen, Bauten und Artefakten mit historischen Einordnungen und gehaltvollen Reflexionen - auch über die Frage nach Delphis Bedeutung für unsere Zeit. Das Interesse am antiken Olympia lebt maßgeblich von einem falschen Freund, der lärmenden Inszenierung der gleichnamigen Spiele alle vier Jahre. Delphi dagegen erinnert uns an die Brüchigkeit menschlichen Wissens, das ohne Fragen und Ambiguitäten, aber auch ohne Ethik und tiefere Erkenntnis in die Bedingtheiten der eigenen Existenz letztlich bedeutungslos ist. Schon deshalb lohnt es, die Geschichte der antiken Griechen mit Michael Scott einmal von Delphi aus anzuschauen. Eine deutsche Übersetzung wäre willkommen.
UWE WALTER.
Michael Scott: "Delphi". A History of the Center of the Ancient World. Princeton University Press, Princeton 2014. 422 S., zahlr. Abb., geb., 29,95 $.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Scott weiß, wie man in Delphi mit verrätselten Weissagungen die Kundschaft zum Nachdenken brachte
Als "Pythia vom Bodensee" hat man Elisabeth Noelle-Neumann bezeichnet, mit Achtung oder spöttisch. Wie das delphische Orakel wurde auch die große Dame der deutschen Demoskopie von den Mächtigen gern befragt, obwohl in beiden Fällen nur wenige Eingeweihte darum wussten, wie die Sprüche zustande kamen, und obwohl oft unklar war, ob die Antworten nur die Frage spiegelten oder Ausdruck einer eigenen Politik waren.
Nachvollziehbar beginnt der in Warwick Classics und Alte Geschichte lehrende Michael Scott sein Buch also mit der Praxis des Orakelspruches. In Delphi einen solchen überhaupt zu erhalten war mühsam, konnte man die Orakelpriesterin doch nur jeweils einmal im Monat, insgesamt neunmal im Jahr, befragen. Die Kosten für Anreise und Aufenthalt übertrafen die zu entrichtende Gebühr bei weitem. Verbreitet, aber kaum erhärtbar ist das Bild einer Pythia, die durch einem Erdspalt entströmende Gase in Trance versetzt wird und deren delirierende Sprüche die Apollonpriester in brauchbare Auskünfte verwandeln.
Wichtiger als die seriös nicht mehr zu ermittelnde konkrete Praxis erscheint die Frage, warum das Orakel immer wieder befragt wurde. Antike Divination ruhte auf dem Glauben, eine Kommunikation mit dem Göttlichen sei grundsätzlich möglich und gelinge vielfach auch, und so wie das delphische Orakel nur eines von vielen in der gesamten griechischen Welt war, gab es noch andere Wege, sich ein Wissen besonderer Art zu beschaffen. Delphi erwies sich aber als besonders erfolgreich, weil hier kaum je platte Vorhersagen der Zukunft erbeten und erteilt wurden. "Das Hauptgebiet der Orakel war nicht die Weissagung, sondern der Bescheid im weitern Umfange des Wortes", wusste schon Jacob Burckhardt.
In der Tat trugen die Gesandten meist konkrete Optionen für strittige Vorhaben vor. Eine verrätselte, der Deutung bedürftige Antwort nötigte die Fragenden dann, die Sache daheim wieder zu beraten und zu einer besser begründeten Entscheidung zu kommen, die durch die "richtige" Deutung des Orakelspruchs zusätzliche Autorität gewann.
Mit der Befragung wurde Zeitdruck herausgenommen, die Antwort steigerte im günstigen Fall die Qualität der Deliberation und stärkte den schließlich erreichten Konsens über die Entscheidung, wie Scott am Beispiel der ratsuchenden Athener kurz vor dem persischen Angriff im Jahr 480 vor Christus zeigt. Weil das Orakel nicht mit riskanten Wahrsagesprüchen handelte, sondern eher ein "sense-making mechanism" war, konnte es ferner kaum platt irren - es besaß gleichsam eine Teflonbeschichtung. Nicht zufällig ist der bekannteste mit Delphi verbundene Satz eine Aufforderung an den Besucher: Erkenne dich selbst!
Doch der einzigartige Erfolg des Orakels ist ohne die Geschichte Delphis über seine gesamte Lebensspanne hinweg nicht zu verstehen, und so zielt Scott auf eine Gesamtgeschichte des Nabels der antiken Welt in Breitwandtechnicolor. Die zahlreichen Gründungsmythen helfen nicht weiter, wenn nach dem Wie, Wann und Warum von Delphis Aufstieg gefragt wird, aber sie zeigen, wie die Griechen selbst darüber gedacht haben. Sieg der Ordnung über das Chaos und Durchbruch des Wissens, das verband man mit dem Heiligtum und seinem Gott Apollon. Doch der Aufstieg, befördert durch expandierenden Handel und Netzwerke zwischen Korinth und Thessalien, zog sich.
Delphi war schon geraume Zeit eine bekannte, von Stadtstaaten und -herrschern, kleinasiatischen Potentaten und hellenischen Kolonisten aufgesuchte und mit Weihgaben beschenkte Orakelstätte, bevor überhaupt ein heiliger Bezirk ausgewiesen und später dann mit monumentalen Bauten ausgestattet wurde. Baulich machte das Heiligtum erst im sechsten Jahrhundert einen großen Sprung nach vorn, wobei eine Brandkatastrophe Schrittmacherdienste leistete.
Auch weil das Heiligtum am Fuß des Parnass nicht als Produkt einer einzelnen, ihre Identität bildenden Polisgemeinschaft aufwuchs, war es spät dran, gewann aber gerade durch die politische Ungebundenheit schrittweise an Attraktivität für ganz Griechenland. Die Expertise für alle Fragen von Staatsbildung und Gemeinschaftshandeln erwies sich als zukunftsträchtiges Geschäftsmodell, und als Reichtum und Kompetenz ein bestimmtes Niveau erreicht hatten, konnte Delphi mit weitester Ausstrahlung gleichsam zum FC Bayern der hellenischen Orakel werden.
Als das Heiligtum - auch als Heimstatt weiterer Gottheiten - erst einmal eine kritische Masse erreicht hatte, beeilten sich viele griechische Stadtstaaten, dort mit Weihungen oder gar prachtvoll gestalteten Schatzhäusern präsent zu sein. Nach den Perserkriegen wurde Delphi zusätzlich Ort der Erinnerung an den Sieg der hellenischen Koalition, manifest zumal in der Schlangensäule, die später nach Konstantinopel verbracht wurde. Auch die Pythischen Spiele gewannen noch einmal an Prestige, und im fünften Jahrhundert speiste sich der Rang des Ortes nicht mehr allein aus dem Orakel. Doch die herausragende Bedeutung, der Reichtum an Weihgeschenken, verbunden mit einer geographisch isolierten Lage sowie geringer Größe und Bevölkerung, machte Delphi anfällig, etwa gegen die benachbarten Phoker. Hinzu kamen Umwälzungen im Machtgefüge der Poliswelt und interne Konflikte, ferner als tiefer Einschnitt der Dritte Heilige Krieg Mitte des vierten Jahrhunderts und das Eindringen Philipps des Zweiten von Makedonien in die sogenannte Amphiktyonie, die Gemeinschaft der das Heiligtum schützenden Gemeinden.
Im Hellenismus und im Zeichen von Roms Aufstieg zur Supermacht verlor Delphi an Bedeutung. Der Galliereinfall im dritten vorchristlichen Jahrhundert markierte eine Zäsur. Wie für die Klassische Zeit entfaltet Scott auch hier eine ganze Epochengeschichte aus delphischer Perspektive. In der Kaiserzeit gab es eine gewisse Renaissance: Zwar zeigte Augustus kein besonderes Interesse am Orakel und Heiligtum, aber Hadrian und Herodes Atticus sorgten für eine letzte, bescheidene Blüte. Im Jahr 390 endete der Kult, aber der aufgegebene Apollontempel stand noch lange neben der neuen christlichen Basilika. Die spannende Wiederentdeckung und Erforschung Delphis sowie ein kompakter Rundgang für Besucher beschließen das Buch.
Scott verknüpft gekonnt Beschreibungen von Anlagen, Bauten und Artefakten mit historischen Einordnungen und gehaltvollen Reflexionen - auch über die Frage nach Delphis Bedeutung für unsere Zeit. Das Interesse am antiken Olympia lebt maßgeblich von einem falschen Freund, der lärmenden Inszenierung der gleichnamigen Spiele alle vier Jahre. Delphi dagegen erinnert uns an die Brüchigkeit menschlichen Wissens, das ohne Fragen und Ambiguitäten, aber auch ohne Ethik und tiefere Erkenntnis in die Bedingtheiten der eigenen Existenz letztlich bedeutungslos ist. Schon deshalb lohnt es, die Geschichte der antiken Griechen mit Michael Scott einmal von Delphi aus anzuschauen. Eine deutsche Übersetzung wäre willkommen.
UWE WALTER.
Michael Scott: "Delphi". A History of the Center of the Ancient World. Princeton University Press, Princeton 2014. 422 S., zahlr. Abb., geb., 29,95 $.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main