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Produktdetails
  • Verlag: Icon Books
  • ISBN-13: 9781848312012
  • Artikelnr.: 29915579
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  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2010

Wenn Hormone fluten, Hirnbilder funkeln und Thesen immer steiler werden
Ein Blick auf populärwissenschaftliche Aufbereitungen der Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Cordelia Fine holt die Neurowissenschaften auf den Teppich

Die Widersacher der "political correctness" halten es sich immer zugute, anders als ihre Gegner der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht blicken zu können und sich nicht von gutgemeinten, doch naiven Wunschbildern verlocken zu lassen. Diese stolzen Antagonisten des Multikulti-, Öko- oder Gleichberechtigungs-Zeitgeistes finden Bestätigung für ihre Haltung gern in den keine Zweifel erlaubenden Erkenntnissen der Naturwissenschaften und in der schnörkellosen, transparenten Sprache nackter Zahlen und Statistiken.

Die vorgeblich biologisch fundierten Unterschiede zwischen den Geschlechtern bieten ein gutes Beispiel für dieses Muster. Sie sind eine Konstante in gesellschafts- und sozialpolitischen Debatten: Jungs seien nun mal Rabauken, da sie als Föten einer Testosteronflut ausgesetzt seien, und die Schulpolitik dürfe diese Erkenntnis nicht ignorieren; "Gender Mainstreaming" sei eine fast schon totalitäre Umerziehungsmaßnahme, die natürliche Identitäten zerstöre; und wenn es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, werden immer noch fast ausschließlich Frauen angesprochen. Diese Faszinationskraft vermeintlich natürlicher Unterschiede wird genährt und verstärkt von Autoren wie Louann Brizendine, Susan Pinker, Leonard Sax oder Simon Baron-Cohen, die in ihren ins Deutsche übersetzten Büchern mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ein traditionelles Rollenverständnis - empathiebegabte Frauen und konkurrenzgierige Männer - untermauern.

Bei genauerem Hinsehen aber stellt sich heraus, dass sich die illusionsfreien, politisch inkorrekten Standpunkte meist auf schlechte oder unbedacht und oberflächlich gedeutete Wissenschaft berufen. Die Psychologin Cordelia Fine nimmt in ihrem Buch nun genüsslich die pseudowissenschaftlichen Geschlechtertheorien von Brizendine, Baron-Cohen, Sax und Konsorten auseinander. Dabei entsteht ein wenig schmeichelhaftes Bild der populärwissenschaftlichen Literatur - und auch mancher Aktivität in wissenschaftlichen Labors. Die Anmaßung, mit der von diesen Autoren weitreichende Folgerungen aus hauchdünnen Belegen gezogen werden, kann dem Leser die Sprache verschlagen.

Experimente in Baron-Cohens Labor, die angeblich zeigten, dass weibliche Kleinkinder mehr Empathie zeigen als männliche, waren dermaßen schlampig durchgeführt, dass sie wertlos sind, und der Mythos der fötalen Testosteronflut, die ein "männliches Gehirn" erzeugt, beruht auf äußerst zweifelhaften Extrapolationen von Ratten auf Menschen. Tierstudien, in denen ein großes Arsenal an experimentellen Methoden angewendet werden kann, zeichnen ein immer komplexer und zunehmend undurchschaubar werdendes Bild der Zusammenhänge zwischen Hormonwirkung, Gehirnstruktur und Verhalten. Die einfachen, linearen Abhängigkeiten zur Erklärung menschlichen Verhaltens, die in der populärwissenschaftlichen Literatur Konjunktur haben, entbehren jeder Grundlage.

Louann Brizendine ist ein besonders dankbares Ziel für Fines spöttische, aber immer fundierte Kritik (F.A.Z. vom 24. August). Brizendine stützt ihre Behauptungen zu männlichen und weiblichen Gehirnen stets mit einer Flut von Belegen aus der Fachliteratur. Aber wehe, man liest dort nach: Nur in den seltensten Fällen haben diese Belege tatsächlich etwas mit den Behauptungen zu tun. Mal handelt es sich um Studien, die nur an Männern oder nur an Frauen durchgeführt wurden und daher nichts über Geschlechtsunterschiede aussagen, mal werden junge und alte Versuchspersonen verglichen und nicht Männer mit Frauen. Brizendine stilisiert sich als eine widerwillige, aber furchtlose Botschafterin der Wahrheit - dabei sind ihre Bücher voller "Tatsachen", von denen es keine Spur in den zitierten wissenschaftlichen Belegen gibt.

Nirgendwo zeigen sich die fragwürdigen Verlockungen der modernen Neurowissenschaften deutlicher als in den Versuchen, Geschlechtsunterschiede zu verstehen. Wenn eine Erklärung in neurowissenschaftlicher Einkleidung präsentiert wird, scheint sie bereits ein solides Ansehen zu erhalten - und zeitigt ernsthafte gesellschaftliche Nebenwirkungen, etwa wenn sie zum Neurosexismus mutiert.

Cordelia Fine belässt es aber nicht bei dieser Diagnose. Ihr Buch stellt außerdem ausführlich alternative und viel befriedigendere Erklärungsmodelle für Geschlechtsunterschiede vor. Sie erläutert anschaulich, welche subtile Macht Stereotype dabei ausüben können. Das Geschlecht ist wohl das hervorstechendste Merkmal, das Rollenerwartungen an Kinder und Erwachsene definiert. Fine stellt zahlreiche sozialpsychologische Studien vor, die zeigen, dass das Bewusstsein solcher Rollenerwartungen Leistungen beeinflusst und dass die Manipulation des sozialen Kontexts stereotypes geschlechtsspezifisches Verhalten verschwinden lassen kann.

Wird vor einem Mathematiktest in einem Fragebogen nach dem Geschlecht gefragt, schneiden Frauen schlechter als Männer ab. Wird nicht danach gefragt, gleichen sich die Leistungen an. Sind sich Versuchspersonen nicht bewusst, dass ihre Empathiefähigkeit untersucht wird, werden keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gefunden. In einem Umfeld, in dem Stereotype ständig gegenwärtig sind, werden sie real - nicht weil sie biologisch fundiert oder fest im Gehirn verdrahtet sind, sondern weil stereotypes Verhalten häufig einen deutlich geringeren sozialen Preis mit sich bringt.

Cordelia Fines unterhaltsam geschriebenes Buch bestätigt die Einsicht, dass das Gehirn ein ungemein plastisches und soziales Organ ist. Es isoliert durch den Scanner zu betrachten kann nur ein unzulängliches und einseitiges Bild von seinem wahren Potential geben.

THOMAS WEBER

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