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Walter Jens, mein Vater, ist dement. Sein Gedächtnis ist taub, die Sprache versiegt. Die Blicke sind hohl und verloren. Meine Mutter, mein Bruder und ich sind uns einig, wir wollen, wir werden sein Leid nicht verstecken. Tilman Jens Buch ist die Chronik eines Abschieds des Sohnes vom geliebten und bewunderten Vater. Schmerzhaft konkret erzählt er von der Entdeckung eines ganz anderen, hilflosen Menschen, von der Grausamkeit der Krankheit, von einem quälenden langen Weg in die letzte Stufe des Dämmerns. Er zeichnet die Stationen dieses Abschieds nach und erzählt von einem Lebensende, das so…mehr

Produktbeschreibung
Walter Jens, mein Vater, ist dement. Sein Gedächtnis ist taub, die Sprache versiegt. Die Blicke sind hohl und verloren. Meine Mutter, mein Bruder und ich sind uns einig, wir wollen, wir werden sein Leid nicht verstecken. Tilman Jens Buch ist die Chronik eines Abschieds des Sohnes vom geliebten und bewunderten Vater. Schmerzhaft konkret erzählt er von der Entdeckung eines ganz anderen, hilflosen Menschen, von der Grausamkeit der Krankheit, von einem quälenden langen Weg in die letzte Stufe des Dämmerns. Er zeichnet die Stationen dieses Abschieds nach und erzählt von einem Lebensende, das so gänzlich anders verläuft, als es seinem Vater, dem Virtuosen des Wortes, vorbestimmt schien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2009

Wenn der Mensch schweigt, sprechen die Dinge

Das Buch von Tilman Jens über die Demenz seines Vaters Walter ist heftig umstritten. Jetzt hat sich der Sohn in Tübingen seinen Kritikern gestellt.

Nein", sagt Inge Jens, "das hat es wohl tatsächlich noch nie zuvor gegeben. Dass so viele so alte Menschen, dass so viele Achtzigjährige wie heute am öffentlichen Leben ihres Landes teilnehmen und es mitbestimmen, ist vermutlich einzigartig." Aber wie ist dieses Phänomen jenseits des Biologischen zu erklären? Warum schaut eine Gesellschaft, die sich selbst dem Jugendwahn verfallen glaubt, gebannt auf ihre unermüdlichen Greise? "Es hat vor allem mit moralischer Integrität zu tun", sagt der Theologe Hans Küng, 81, der nur ein paar Schritte entfernt wohnt, "ohne Integrität und Ehrlichkeit wäre das nicht denkbar." Marcel Reich-Ranicki, 88 Jahre alt und dem Tübinger Ehepaar seit mehr als einem halben Jahrhundert verbunden, verweist auf die "relative Schwäche der nächsten Generation, darin liegt wohl der Hauptgrund für die enorme Rolle der Achtzigjährigen heute". Inge Jens denkt noch einen Moment nach, dann sagt sie: "Die Alten haben ja gar nichts mehr auszustehen. Es findet nicht einmal mehr ein Generationenkonflikt statt. Vielleicht sucht unsere Gesellschaft einfach nur etwas, vor dem sie Respekt haben kann."

Bis vor wenigen Jahren gehörte Walter Jens zur Speerspitze seiner Generation. Zwischen den Politikern Schmidt und von Weizsäcker, den Schriftstellern Grass, Walser, Enzensberger, den Kritikern Reich-Ranicki und Kaiser war er der Rhetor. Zugleich war er von allem etwas: Schriftsteller, Kritiker und republikanischer Homo politicus, der mit Böll demonstrierte, desertierte amerikanische Soldaten versteckte und in Hunderten, wenn nicht Tausenden von Kommentaren vor Rundfunkmikrofonen und Fernsehkameras dem Land sagte, was es zu denken hatte. Jens war eine öffentliche Person. Der Schutz der Anonymität war nicht gewünscht und im kleinen Tübingen auch nicht denkbar. Wenn Walter Jens Schnupfen hatte, wusste es die halbe Stadt.

Jetzt ist Walter Jens dement, und das ganze Land weiß es. Inge Jens hat Interviews gegeben, in denen sie den Zustand ihres Mannes beschreibt, der älteste Sohn Tilman, 54 Jahre alt, hat ein Buch "Demenz. Abschied von meinem Vater" geschrieben, das beileibe nicht nur die Kritik spaltet (F.A.Z. vom 23. Februar). Hans Küng rutscht unruhig auf seinem Sessel hin und her, bleibt aber bei seinem Vorsatz: Nein, er werde sich zu dem Buch mit keinem Wort äußern. Marcel Reich-Ranicki hatte schon nach den in der "Bild"-Zeitung vorabgedruckten Auszügen genug: "Was Tilman Jens getan hat, ist taktlos, geschmacklos und völlig überflüssig." Gert Ueding, Schüler von Jens und dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik, hat mit dem Buch den Sohn rezensiert und Tilman Jens literarischen Vatermord in der Tradition von Schillers Franz Moor vorgeworfen.

Den Generationenkonflikt, den Inge Jens vermisst, sehen viele Beobachter in ihrem eigenen Haus toben: Da rächt sich einer, der sein Leben lang im Schatten des Vaters gestanden hat, gibt das wehrlos gewordene Familienoberhaupt dem Gespött preis und zeigt den Vater, wie dieser nie sein und nie gesehen werden wollte: geistig verwirrt, hilflos, der Sprache beraubt.

"Ein bissel Angst", sagt Tilman Jens am Montag im Gespräch in Frankfurt, habe er schon vor der Buchpremiere in Tübingen. Die Angriffe gegen ihn auf der Leserbriefseite des "Schwäbischen Tagblatts" waren massiv, es gab Aufrufe nicht zur zum Boykott der Lesung, sondern auch des Veranstalters, der ehrwürdigen Osianderschen Buchhandlung, gegründet 1596.

Am Abend selbst ist die Atmosphäre unter den fast dreihundert Zuhörern angespannt. Tilman Jens, der seinem Vater beim Lesen bis in die Gestik der beschwörend, mahnend erhobenen rechten Hand ähnelt, beschreibt dessen Verzweiflung über den eigenen Verfall. Er rekonstruiert akribisch Verlauf und vor allem Vorgeschichte des Skandals von 2003, als publik wurde, dass die NSDAP Walter Jens in ihrer Mitgliederkartei geführt hat. Dass sein Vater sich aus Scham über die verschwiegene Mitgliedschaft in die Demenz geflüchtet habe, dass Depression und übermäßiger Gebrauch von Psychopharmaka die Krankheit nicht ausgelöst, aber zumindest in ihrem Verlauf beschleunigt hätten, ist die feste Überzeugung des Sohnes. Nur in diesem Punkt ist die Mutter anderer Meinung: "Tilman glaubt, dass mein Mann aus Scham über sein Zögern und seine Schwäche krank wurde. Ich glaube, dass es umgekehrt war: Er hat damals so zögerlich und für ihn untypisch reagiert, weil er bereits schwerkrank war."

Auch Konrad Beyreuther von der Universität Heidelberg, einer der führenden Demenz-Forscher, weist die These zurück. Er hält Jens für den "Prototyp eines Menschen", der vor Alzheimer geschützt sein sollte. Denn rege geistige Aktivität wird als eine der wichtigsten Präventionsmaßnahmen angesehen. Dass Tilman Jens implizit unterstellt, Demenzkranke seien in der Lage, den Verlauf ihrer Krankheit zu beeinflussen, und somit auf gewisse Art selbst schuld an ihrer Lage, bezeichnet Beyreuther als zynisch. Er vermutet bei Jens das "Vorliegen einer genetischen Prädisposition", also eines vererbbaren Krankheitsrisikos. Die genaue Diagnose würde allerdings ein anderes ethisches Problem aufwerfen, denn in diesem Fall müsste auch Tilman Jens mit dem Ausbruch der Krankheit rechnen: "Solange es keine wirksame Therapie gibt, bin ich gegen das Einholen derartiger Information", sagt Beyreuther. Tilman Jens hat sich zwar mit Fachliteratur beschäftigt, aber nie mit Experten über seine These gesprochen.

Am Donnerstagabend nimmt Tübingen Tilman Jens auf wie einen verlorenen Sohn. Der Beifall ist mehr als freundlich, die Fragen signalisieren Zustimmung, es wird verständnisinnig fast bis über die Kuschelgrenze hinaus. Tilman Jens ist zunächst angespannt, dann erleichtert und am Ende vielleicht sogar glücklich. Und doch liegt auch etwas ungemein Beklemmendes über dem Abend. Denn für Momente wird sichtbar, welch ungeheuren Anspruch die kleine Tübinger Öffentlichkeit an die Familie Jens stellt. Der ehemalige Doktorand, der erklärt, wie tief verletzt er gewesen sei, als er von der jahrzehntelang verschwiegenen NS-Mitgliedschaft hören musste - "mein Doktorvater!"-, der Taxifahrer, der empört berichtet, wie er einmal schlecht vom Herrn Professor behandelt wurde, und nun hervorstößt, für ihn sei Walter Jens "ein Mensch wie jeder andere, und weiter nichts!", als liege in einem solchen Satz die größtmögliche Demütigung, schließlich die Frau, die inbrünstig versichert: "Wir Tübinger lieben Ihren Vater, wir lieben Ihre Mutter, wir lieben Ihre Familie!" - sie alle, was immer sie sagen, verkünden doch nur das eine: Er ist unser, noch immer und jetzt erst recht.

Es ist ein zwiespältiger Liebesbeweis, den der abwesende Walter Jens an diesem Abend erfährt. Man klammert sich an die Unverbrüchlichkeit der Zuneigung, als würde sie genügen, einen Verzweifelten davon zu überzeugen, dass seine Existenz lebenswert sei. Niemand vermag zu sagen, ob Walter Jens an seinem öffentlich geäußerten Wunsch zu sterben, wenn er einmal nicht mehr Herr seiner Sinne sein sollte, heute noch festhält. Die Familie hat sich entschieden, ihm die Sterbehilfe zu verweigern, weil sie nicht weiß, welche Kriterien in der Welt, in der er jetzt eingeschlossen ist, Gültigkeit besitzen. "Im Grunde ist es egal, ob ein Mensch über einen gelungenen Text glücklich ist oder über ein Wurstweckle. Mir das einzugestehen war hart für mich", sagt Inge Jens. Der Kaffee wird in Tassen gereicht, die so groß sind, dass auch ihr Mann sie halten kann - das Tübinger Haus ist ganz auf ihn zugeschnitten. "Ich habe mich von einem Gutteil meines intellektuellen Hochmuts verabschieden müssen. Das ist es wohl, was den Umgang mit dieser Krankheit für die Umwelt so schwer macht: der radikale Bruch mit der Vergangenheit."

1,3 Millionen Menschen in Deutschland, sagt Konrad Maurer vom Frankfurter Universitätsklinikum, litten zurzeit an einer Form von Demenz. 2020 könnten es bis zu vier Millionen sein - "und bedenken Sie, dass von denen jeder bei einer Rundumbetreuung vier Pflegepersonen brauchte". Das wären sechzehn Millionen Pfleger, während gleichzeitig die Geburtenzahlen sinken, die Lebenserwartung aber ebenso steigt wie der Altersdurchschnitt. Die Wahrscheinlichkeit an Demenz zu erkranken, so Maurer, steige mit zunehmendem Alter rasant: "Für Hundertjährige liegt sie bei vierzig bis fünfzig Prozent."

Walter Jens ist fast 86 Jahre alt. Am Vorabend der Lesung kommt er mit seiner Pflegerin Margit nach Hause. Er ist irritiert über den Besucher, bleibt zunächst im Wohnzimmer stehen, mit beiden Armen auf die Sessellehne gestützt, als wolle er sich sammeln. Dann setzt er sich neben Inge Jens, streichelt seiner Frau, die telefoniert, den Rücken. Er stellt Fragen und schüttelt den Kopf, als ob ihm die Antworten nicht einleuchten würden. Er schaut befremdet in die Runde. Und niemand vermag zu sagen, ob Walter Jens unserer Welt ebenso fremd gegenübersteht wie wir der seinen. "Erst wenn der Mensch schweigt", so hatte er einmal geschrieben, "beginnen die Dinge zu reden und ein Drittes wird sichtbar - jenes ,Zwischen', das Ich und Du, das Individuum und die Welt miteinander verbindet und sich am deutlichsten in der Wortlosigkeit der Liebe oder im sakramentalen Vollzug der Ehe enthüllt."

Damals, vor 52 Jahren, als sein Essayband "Statt einer Literaturgeschichte" erschien, handelte Walter Jens von der alle Grenzen überschreitenden Macht der Literatur und des Geistes, der denken kann, dass es das Undenkbare gibt. Mit Büchner warnte er davor, die Welt zu erforschen und darüber den Nächsten aus den Augen zu verlieren: "Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufreissen und einander die Gedanken aus den Hirnfasern zerren." Und er zitierte Thomas Manns Auffassung, es gebe im Grunde nur ein Problem auf der Welt: "Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?" Fast könnte man meinen, Walter Jens habe schon damals, 1957, das Seinige gesagt.

HUBERT SPIEGEL

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.02.2009

Die Rache des Spätgeborenen
Mutiger Gelehrter, lieber Papi, ruhmsüchtiger Egozentriker: Tilman Jens rechnet mit seinem Vater ab
Als Walter Jens im vergangenen Jahr 85 Jahre alt wurde, feierten ihn die Feuilletons als „letzten großen Intellektuellen der Republik” und „sprachmächtigen Aufklärer”. Den Walter Jens, von dem sie sprachen, den Rhetorikprofessor und Gelehrten, der das Neue Testament übersetzt und Romane verfasst hat, der Zeitschriften herausgegeben und während des Irakkriegs US-Deserteure bei sich versteckt hat, diese einmalige Mischung aus sozialdemokratisch engagiertem Protestbürger und humanistisch professoraler Lichtgestalt, den gab es da schon nicht mehr. Noch immer lebt ein Mann gleichen Namens in Tübingen, der aber weiß nichts mehr von sich und der Welt. Walter Jens ist seit fünf Jahren dement.
Ein Geburtstagsartikel fiel damals aus dem Rahmen: Tilman Jens schrieb in der FAZ von der Krankheit seines Vaters, interpretierte diese aber ausschließlich als Zeichen des moralischen Versagens einer ganzen Generation: 2003 waren im Bundesarchiv in Berlin Unterlagen aufgetaucht, die belegen, dass Walter Jens seit September 1942 als NSDAP-Mitglied 9265911 geführt wurde. Jens hat zwar beteuert, er sei ohne eigene Kenntnis aufgenommen worden. Sein Sohn aber argumentierte, Walter Jens habe das alles sehr wohl gewusst und sich so dafür geschämt, dass er sich davor ins jahrzehntelange Schweigen und zuletzt in die Krankheit geflüchtet habe, die „fatale Schweige-Krankheit, an der so viele Köpfe zerbrachen.” Garniert wurde das Ganze zwar mit ein paar Sätzen über den armen Papa, der „nachts durchs eigene Haus irrt und sein Bett nicht mehr findet”, aber das änderte nichts an der Stoßrichtung des Textes: Alzheimer als feige Ausweichstrategie. Darauf muss man erstmal kommen.
Nun hat Tilman Jens diesen Artikel zu einem Buch aufgeblasen. Es heißt „Demenz” und hätte bei einem Autor von anderem Format vielleicht gewinnbringende Lektüre sein können. Zum einen ist Alzheimer die bedeutendste Alterskrankheit der westlichen Welt; in Deutschland gibt es mehr als eine Million Alzheimerkranke. An einem „Fall” wie dem von Walter Jens hätte man vielleicht gut herausarbeiten können, wie Demenz unser Bild vom Menschen als selbstbestimmtem Subjekt gnadenlos dekonstruiert, indem sie an den fleischlichen Ursprung des Verstandes erinnert, daran, dass das Gehirn, wie Jonathan Franzen in einem Text über den Verfall seines Vaters schrieb, „der mit Abstand komplexeste Gegenstand ist; und zugleich ist er ein Klumpen Körpermasse.”
Auch könnte man gerade an Jens’ Erkrankung die erbitterte Debatte um die Patientenverfügung und Sterbehilfe und die Hilflosigkeit der Angehörigen gut aufrollen: Schließlich schrieb er selber mehrfach, dass er nicht mehr leben wolle, wenn er nicht mehr schreiben und denken könne. Hans Küng, mit dem Jens 1995 in dem Buch „Menschenwürdig sterben” für die aktive Sterbehilfe plädierte, sagte, als er zehn Jahre später vor dem dementen Alten stand, auf Inge Jens’ Frage, ob er ihm ein Ende bereiten könnte: „Nein, das kann man nicht.” Inge Jens fügte in einem Interview hinzu: „Er ist ein Mensch, der vor Ihnen steht. Der Geist ist weg, aber das Gefühl ist da.”
Um interessant über den Verfall seines Vaters oder über die Dilemmata der Sterbehilfe zu schreiben, bräuchte Tilman Jens aber schriftstellerische und diskursive Fähigkeiten. Und von denen, die Welt ist ungerecht, hat sein Vater ihm leider nicht viel vererbt. Ein paar Kitschpfützen hier, ein wenig Kolportage da, mehr ist da literarisch nicht zu holen.
Bliebe die Option, journalistisch sauber die NSDAP-Geschichte nochmal aufzurollen: Ist dem Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte zu trauen, das meinte, Jens die Kenntnis der Mitgliedschaft nachweisen zu können? Oder hatte der Historiker Götz Aly Recht, der am Ende seiner Analyse schrieb, Jens sei ahnungslos in einer kollektiven Prozedur zum Parteimitglied erklärt worden?
Auch als Journalist aber versagt Tilman Jens. Er hat gar keine Zeit für eine saubere Kommentierung, muss er doch das Leben seines Vaters nach Indizien für seine These von der Krankheit als Verdrängung durchforsten. Die sehen dann beispielsweise so aus: Die Journalistin Stella Braam hat in einem Buch über ihren dementen Vater beschrieben, wie er zu Beginn der Krankheit überall Zettel anbrachte, im verzweifelten Bemühen, den Verfall vor seiner Umwelt zu verbergen. Nun der Beweis für Jens’ strategische Flucht in die Demenz: „Mein Vater tut nichts dergleichen. Warum auch? Wer vergessen will, wer sich nicht mehr erinnern mag, die Verbindungen zur Vergangenheit kappt, der braucht kein Gedächtnisstützen.”
Umdeutung der Schatten
Dass der alte Jens seine Autobiographie nicht mehr zu schreiben vermochte, ist seinem Sohn Beweis dafür, dass er nicht über seine Nazivergangenheit schreiben wollte. Dass Jens an seinen schriftstellerischen Qualitäten zweifelte; dass er mehrfach sagte, sein Tübinger Gelehrtenleben sei nicht interessant genug für ein ganzes Buch gewesen – alles Lüge. Ja, dem Sohn werden noch die abwegigsten Tatsachen zum Beweis: Jens hat im Juni 1944 vor einer Turner-Kameradschaft einen Vortrag über den verfemten Thomas Mann gehalten, in dem er sagte: „Verlieren wir in unserer Zeit, wo wir dem Eingepresstwerden in eine bestimmte Anschauung auf allen Gebieten zu verfallen drohen, nicht den Blick für die Vielfalt der Erscheinungen. Lasst uns auch das, was man heute wegwirft, prüfen, ob es das Wegwerfen wirklich verdient hat oder ob es uns nicht im Gegenteil sehr viel zu sagen hat.” Tilman Jens kommentiert: „Dieser Willkommensgruß an einen verbotenen Dichter war mutig, ein intellektueller, ein moralischer Persilschein für alle Zeit.”
Ja, was denn nun? War es mutig? Oder war es eine verschlagen-strategische Geste, was der Begriff vom „Persilschein” doch wohl insinuieren soll? Aber ist es nicht nachgerade albern, eine Rede auf Thomas Mann, der über BBC die Deutschen zur Kapitulation aufrief, eine Rede, für die der 19-jährige Jens 1944 hätte hingerichtet werden können, als Persilschein zu bezeichnen? Der Satz ist in seiner Widersprüchlichkeit symptomatisch für das Buch. Dauernd ist da vom mutigen Gelehrten oder vom lieben „Papi” die Rede, der aber im selben Atemzug zum geschickten Strategen oder ruhmsüchtigen Egozentriker gemacht wird.
Und das, man merkt es beim Lesen immer mehr, ist der eigentliche Vorwurf, den Tilman Jens seinem Vater macht: Er war kein liebevoller Vater. Der Asthmatiker nahm dem Rest der Familie allen Platz zum Atmen. Selbst das hätte Thema eines interessanten Buches sein können. Aber Tilman Jens schreibt, kaum dass er den Vorwurf geäußert hat: „Nein, Du hast mich nie in Deinen Schatten gestellt.” Wirrer wurde selten argumentiert. So scheint das Buch nicht so sehr Zeugnis abzulegen vom Verfall des Vaters als vielmehr von den ungelösten familiären Konflikten des Sohnes, von Verdrängung und Umdeutung. Dass er selbst im Dezember 2003 für „aspekte” ein verhörähnliches Interview mit seinem Vater machte, rechtfertigt er heute so: „Ich sah darin die Chance, endlich mehr zu erfahren.” Zweite Antwort, einige Zeilen weiter: Es sei ein „Weg dem von den Medien waidwund Geschossenen die Flucht nach vorn zu ermöglichen.” In einem Interview von fünf Minuten Länge, aufgenommen unter hektischen Umständen in Berlin, im Beisein von Kameramännern und Technikern, auf dem Höhepunkt des medialen Kesseltreibens? Was für ein fadenscheiniger Selbstbetrug. Und wenn irgendjemand jemals versucht hat, Walter Jens „waidwund” zu schießen, dann sein Sohn mit diesem Buch.
Aber vielleicht ist das ja die gerechte, wenn auch späte Strafe. Schließlich hat sich der kleine Tilman seinerzeit nur beim alten Ehepaar Schaich wirklich zu Hause gefühlt, „den Nachbarn, die mir die Kindheit zur Kindheit machten”. Ein ganzes Kapitel widmet er diesem Tübinger Idyll, das natürlich ein trügerisches war, denn am Ende stellt sich heraus, dass der alte Schaich, Tilmans Ersatzvater, ein richtig harter Nazi war, inklusive Blut an den Händen. Auch der hat später geschwiegen, genau wie Walter Jens.
Diese Parallelmontage ist derart grotesk, dass einen fast Fremdscham beim Lesen überkommt. Oder dass man beinahe versucht ist, die Krankheit des Vaters selbst metaphorisch umzudeuten, als Flucht vor dem infamen Gerede seines Sohnes. ALEX RÜHLE
TILMAN JENS: Demenz Abschied von meinem Vater; Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009; 141 Seiten, 17,95 Euro.
Walter Jens wurde 1923 in Hamburg geboren, wo er das Johanneum besuchte und 1941 das Abitur ablegte. Er war Mitglied der Hitlerjugend und des NS-Studentenbundes. Dass ihn die NSDAP seit dem 1. September 1942 als Mitglied führte, wurde erst im Jahr 2003 bekannt. Seit 2004 leidet der Schriftsteller, Gelehrte und protestantische Intellektuelle an Demenz. Foto: Brigitte Friedrich
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als empörend und ”ehrlose Entblößung seines wehrlosen Vaters” empfindet Rezensentin Iris Radisch das ”kleine” Buch, das der Journalist Tilman Jens über seinen demenzkranken Vater Walter Jens geschrieben hat. Auch die Tatsache, dass Jens jr. seine voyeuristischen Überlegungen von der Bild-Zeitung vorabdrucken ließ, findet sie unrühmlich. Jens' Kernthese, dass nämlich die Demenz des Vaters aus Scham über die jahrzehntelange Verheimlichung seiner NSDAP-Mitgliedschaft quasi als ”historisch-politischer” Reflex entstanden sei, findet sie so ”abwegig” und entfernt von jeder medizinischen Vernuft, dass sie die Idee fast schon ”literarisch” nennen möchte. Allerdings öffnet ihr die Dämonisierung der väterlichen Krankheit durch den Sohn auch andere Blicke auf das Buch: dass nämlich der Sohn die Krankheit des Vaters ”romantisiere”, der nicht an einer normalen Krankheit sterben dürfe, sondern hölderlinhaft an einer ”hochbrisanten politischen Infektion”. An diesem Punkt wird die Denunziation für die Rezensentin zur Verklärung und damit auch zum Ausdruck einer unausgereiften Auseinandersetzung mit einem übergroßen Vaterbild, der Versuch eines ”demolierten Sohnes”, sich durch Denkmalsturz seinen ”kreatürlichen Vater” zurückzuerobern.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr