Produktdetails
  • Verlag: GB / Lane
  • Seitenzahl: 254
  • Englisch
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 546g
  • ISBN-13: 9780713994025
  • Artikelnr.: 30825496
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2001

Viel Schatten . . .
Was kann gegen das Demokratiedefizit in der EU getan werden?

Larry Siedentop: Democracy in Europe. Allen Lane The Penguin Press, London 2000. 254 Seiten, 20,- Pfund.

Die Auseinandersetzung mit dem Mythos der (un-)vollendeten Demokratisierung gehört spätestens seit der Aufwertung des Europäischen Parlaments im Zuge der Einheitlichen Europäischen Akte und des Maastrichter Vertrages zu den zentralen Themen des europäischen Einigungsprozesses. Die meisten Darstellungen kreisen um die wohlbekannten Stichworte Bürgerferne, Politikverdrossenheit und Demokratiedefizit. Die stereotypen Antworten auf diese Herausforderungen lauten: Subsidiarität, Transparenz der Entscheidungsprozesse durch klarere Kompetenzabgrenzung zwischen den Institutionen, Einrichtung einer zweiten Kammer und mehr Bürgerbeteiligung. Siedentops Studie macht hier keinen Unterschied. Allerdings gewinnt sie durch den Rekurs auf die Überlegungen der großen Vordenker supranationaler Regierungsformen wie Montesquieu und Tocqueville und deren kritische Anwendung auf die Probleme der Europäischen Union an zusätzlicher Tiefenschärfe. Ausgehend von der bekannten These, daß Europa mehr als ein Staatenbund, jedoch weniger als ein Bundesstaat ist, und inspiriert vom Verfassungsdiskurs, der der Geburt des amerikanischen Bundesstaates vorausging, fragt der Autor nach den Möglichkeiten einer ähnlichen Entwicklung in Europa.

Anders als die europäischen Mitgliedstaaten haben die amerikanischen Kolonien vor ihrem Unabhängigkeitskampf niemals volle Souveränität erfahren; auch nach Maastricht besteht Europa noch immer aus Nationalstaaten mit unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Erfahrungen. Eine weitere Voraussetzung für die Entwicklung des amerikanischen Sonderfalls war die von den Neuengland-Siedlern importierte Erfahrung lokaler Selbstverwaltung, die der amerikanischen Bürgergesellschaft ihre besondere Dynamik verlieh; sie schlug auch auf die nachfolgenden Immigrantenströme durch und widerlegte das Axiom, wonach große Territorien nur tyrannisch, das heißt zentral, regiert werden konnten.

Im Falle Europas hingegen vollzog sich die Staatswerdung häufig nur unter erzwungener bis gewaltsamer Assimilation von Regionen und Städten, so daß bis heute Einwohner bestimmter Regionen in Spanien, Italien und Frankreich Einwohner anderer Regionen als "Fremde" betrachten. Schließlich bleibt das Kriterium gemeinsamer Werte und Moralvorstellungen. In den Vereinigten Staaten hebt sich die liberale Interpretation des Christentums als zentrale Determinante des amerikanischen Bürgermodells von der der Europäer dadurch ab, daß die gleichen Freiheitsrechte für alle nicht als Gleichheitsrechte verstanden werden. Bürgerrechte und politische Freiheit und Wahlfreiheit wurden von jeher nicht als Feinde der Religion angesehen, sondern vielmehr als von christlichen Moralvorstellungen legitimiert.

Die Ausgangslage unterscheidet sich also fundamental: In Europa fehlt nach wie vor der kritische Diskurs über die angemessene Verfaßtheit, die geeignete Kompetenzabgrenzung beziehungsweise Machtverteilung innerhalb der Union als Voraussetzung für die Demokratisierung. Statt dessen gilt noch immer das Integrationsprinzip, wonach dem ökonomischen Fortschritt (Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion, Euro) sozusagen automatisch die politisch-institutionelle Vertiefung folge. "Ökonomisierung" nennt der Autor diesen Prozeß, der einhergeht mit einem proportional zunehmenden Ausweichen vor den "wirklich entscheidenden Fragen". Aus dem Bürger ist so der Konsument geworden, der seine Rechte kennt, seine daraus folgenden Pflichten jedoch ignoriert. Zu einer wirklich demokratischen Gesellschaft aber gehöre ein Vertragskonzept von "natürlicher Gleichheit" und "Reziprozität". Voraussetzung dafür wiederum sei die Einführung einer Verfassung beziehungsweise der Ausbau des "richterlichen Prüfungsrechts" (judicial review) für den in Grundrechtsfragen besser ausgebildeten Bürger nach amerikanischem Vorbild.

Eine so verstandene "Mündigkeit" ist für den Verfasser die Voraussetzung für die Schaffung einer "offenen politischen Klasse" in einem demokratischen Europa. Hinzu kommen vier weitere Aspekte: eine Reform der föderalen Strukturen in Richtung mehr Bürgerpartizipation auf lokaler und regionaler Ebene; die Akzeptanz des Englischen als Lingua franca in Europa; die Einrichtung einer zweiten Kammer nach amerikanischem Senatsmodell; die Entwicklung einer stärker rechtspolitischen Kultur. Dies sei zwar ein langfristiger Prozeß, jedoch der einzige Weg; andernfalls drohe umgekehrt eine weitere Zentralisierung und "Verbürokratisierung" Europas.

Die große Herausforderung besteht dabei darin, Europas Vielfalt in Einheit zu bewahren, gleichzeitig aber auf dem Weg einer "Föderalisierung" voranzuschreiten. Aus diesem Grund ist die im Forderungskatalog für den Post-Nizza-Prozeß enthaltene Kompetenzfrage so bedeutsam. Nur wenn ein Konsens zwischen Zentrum (Brüssel) und Peripherie (Mitgliedstaaten) über eine sinnvolle Arbeitsteilung erzielt wird, entschärft sich das Problem des Demokratiedefizits in der Gemeinschaft. Die Einrichtung eines Senats, der sich dieser Frage annimmt, und die praktische Arbeit eines Gerichtshofes, der eine gemeinsame Jurisprudenz entwickelt, könnten dazu beitragen, einen solchen Konsens herzustellen.

STEFAN FRÖHLICH

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