Inmitten der Krisen und Bedrohungen der liberalen Demokratie entwickelt Isabell Lorey eine Demokratie im Präsens, die politische Gewissheiten ebenso aufbricht wie lineare Vorstellungen von Fortschritt und Wachstum. Mit ihrer queer/feministischen politischen Theorie formuliert sie eine grundlegende Kritik an maskulinistischen Konzepten von Volk, Repräsentation, Institution und Multitude. Und sie entfaltet einen originellen Begriff von präsentischer Demokratie, der auf Sorge und Verbundenheit, auf der Unhintergehbarkeit von Verantwortlichkeiten beruht - und ohne vergangene Kämpfe und aktuelle Praktiken sozialer Bewegungen nicht zu denken ist.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Karsten Fischer zeigt sich durchweg enttäuscht von Isabell Loreys Versuch zu einer Theorie der politischen Gegenwart und einer Neuerfindung der Demokratie. Beides leistet das Buch laut Fischer nicht. Wenn die Autorin mit Rousseau und Benjamin, der Idee der Sorge und eines queeren Schuldenbegriffs hantiert, schwindelt dem Rezensenten bald wegen all der "Worthülsen", die ihm da um die Ohren fliegen. Sinn kann die Autorin den von ihr bemühten Begriffen nicht verleihen, meint Fischer. Und wenn Lorey Rechtspopulismus und Vatikan an einem Strang ziehen sieht, ist für Fischer die Verschwörungstheorie nicht mehr weit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2020Queer springt der Tiger
Bitte mal alle auf sozialrevolutionär: Isabell Lorey zerlegt die Volksherrschaft
Nur eine Generation nach ihrem Sieg über den Sozialismus befindet sich die Demokratie in einer unübersehbaren Krise, die neben den osteuropäischen Transformationsstaaten sogar die westlichen Staaten mit den längsten demokratischen Traditionen erfasst hat. Dies gibt Anlass zum Nachdenken. Isabell Lorey, Professorin für Queer Studies in Künsten und Wissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln, glaubt deshalb die "Demokratie im Präsens" neu erfinden zu müssen.
Dazu bemüht sie zunächst die Politische Theorie Jean-Jacques Rousseaus, die statt entpolitisierender Repräsentation auf Versammlung gesetzt habe. Anschließend wird Jacques Derridas Idee einer "Demokratie im Kommen" als nicht in die Zukunft verschobene, ausgedehnte Gegenwart verstanden, die sich nur "im Kontext von permanenter, molekularer, sozialer Revolution verstehen" lasse.
Das führt die Autorin weiter zum materialistischen Messianismus Walter Benjamins, von wo es weitergeht zu Michel Foucaults Begriff der "infinitiven Gegenwart", bevor Antonio Negris Konzept der konstituierenden Macht der "Multitude" verhandelt wird und "präsentische Demokratie" als Gegenmodell der auf die "Ausweitung der Geltung von Rechten und von Normen wie Gleichheit und Freiheit" ausgerichteten liberalen Demokratie präsentiert wird.
Als Alternative zur zentralen liberalen Institution der Verfassung wird von der Autorin "soziales Revolutionär-Werden" propagiert, das auf "wechselseitige Sorgepraxen" und "ein schwarzes und queeres Verständnis von Schulden" konzentriert ist. In "revolutionären Tigersprüngen" könne die "präsentische Demokratie" also mit "Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen patriarchaler, rassistischer und kapitalistischer Gesellschaften" brechen.
Leider ist Loreys "präsentische Demokratie" aber nicht nur einem "durch Infizierungen revolutionärer Praxen" ausgeweiteten "Ereignisgewimmel geschuldet", sondern selbst ein reines Begriffsgewimmel. So muss der Leser aussichtslos versuchen, den Begriffen "Ipsokratie" und "Phallokratie" einen Sinn abzugewinnen und die sechs Komponenten "für eine politische Neubestimmung der Gegenwart" als "präsentischer Demokratie" nachzuvollziehen. Dabei heißt es etwa über die "transversale Wiederkehr", sie sei "die Dynamik, der Modus eines offenen heterogenen Gefüges, in dem Ereignisse entstehen und zur Wiederholung kommen". Der "aktualisierende Sprung" wird präsentiert als "konstitutiver Teil der permanenten Differenzierung in der Gegenwart, die die Dauer als Vielfalt ausmacht." Und "Instituierungen und Organisierung" werden verstanden "als Dauer eines transversalen Gefüges aus differenzierenden Wiederholungen, die Institutionen des Mannigfaltigen und des Gemeinsamen ermöglichen."
Die Autorin hätte Hegel abnehmen sollen, Philosophie sei "ihre Zeit in Gedanken erfaßt" - und nicht in Worthülsen. Stattdessen wird er von ihr verballhornt als Propagandist eines selbstgenügsamen absoluten Geistes ohne Vermittlung und ohne Gesprächspartner. Ebenso abwegig ist es, wenn Rousseau eine demokratische Regierungskunst attestiert wird, die Foucault später mit dem Begriff der Gouvernementalität gefasst habe. Schließlich hat Foucault mit diesem Begriff gerade auch dezidiert vor- und nichtdemokratische Praktiken beschrieben. Und die Behauptung, ohne die Französische Revolution gebe es "kein Verständnis von Politik im liberalen bürgerlichen Sinne, keine repräsentative Demokratie", ist angesichts der politischen Theorien von Locke und Montesquieu ebenso unerklärlich wie die allein schon für die Umwelt- und Friedensbewegung falsche Feststellung, noch in den neunziger und zweitausender Jahren sei es "in sozialen Bewegungen undenkbar" gewesen, "sich positiv auf Begriff und Praxis der Demokratie zu beziehen".
Die politischen Konsequenzen ihrer "Demokratie im Präsens" benennt die Autorin ganz offen. So soll "die unbestimmte Form, die aus der konstituierenden Macht der Multitude entsteht", keiner Interessenvertretung mehr bedürfen und die "in ihren grundlegenden Institutionen paradoxerweise zutiefst undemokratisch" funktionierende liberale Demokratie überwinden. Schließlich könne diese nie alle repräsentieren und basiere auf einer nationalstaatlich exklusiven "Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen", die durch die "vergeschlechtlichte Trennung zwischen einer öffentlichen und einer privaten Sphäre" konstituiert und durch die "patriarchale Ordnung von naturalisierter heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit und Kleinfamilie" ein diskriminierendes Reproduktionsinstrument neoliberalen Sozialabbaus und xenophober Überwachungstechniken sei.
Neu ist an diesem gegen gesellschaftliche Interessenvertretung und Privatsphäre gerichteten Radikalismus nur die Idee, queer gegen die "heteronormative Geschlechterordnung als Staatsgrundlage" vorzugehen und "die Gegenfigur zu einer auf der Souveränität eines ,Volkes' basierenden Form von liberaler Demokratie zu sein". Wer die angeblich erst "durch das bürgerliche Gesetz" geschaffene Ungleichheit abschaffen wollte, müsste dafür schließlich eine noch weitaus größere Ungleichheit der Machtverhältnisse schaffen, was der totalitäre Kommunismus konsequent realisierte.
Wenn die Autorin schließlich die berechtigte Kritik an dem selbstwidersprüchlichen autoritären Populismus damit anheizt, dass sie dessen Positionen "ideologisch aus dem Vatikan befeuert" sieht, weil dieser "die Begrifflichkeit der ,Gender-Ideologie' erfunden und erfolgreich viral verbreitet" habe, ist das Niveau von Verschwörungstheorien erreicht.
Die im Untertitel versprochene "Theorie der politischen Gegenwart" findet man hier ebenso wenig wie eine ihren Namen verdienende Neukonzeption von Demokratie.
KARSTEN FISCHER
Isabell Lorey: "Demokratie im Präsens". Eine Theorie der politischen Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 217 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bitte mal alle auf sozialrevolutionär: Isabell Lorey zerlegt die Volksherrschaft
Nur eine Generation nach ihrem Sieg über den Sozialismus befindet sich die Demokratie in einer unübersehbaren Krise, die neben den osteuropäischen Transformationsstaaten sogar die westlichen Staaten mit den längsten demokratischen Traditionen erfasst hat. Dies gibt Anlass zum Nachdenken. Isabell Lorey, Professorin für Queer Studies in Künsten und Wissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln, glaubt deshalb die "Demokratie im Präsens" neu erfinden zu müssen.
Dazu bemüht sie zunächst die Politische Theorie Jean-Jacques Rousseaus, die statt entpolitisierender Repräsentation auf Versammlung gesetzt habe. Anschließend wird Jacques Derridas Idee einer "Demokratie im Kommen" als nicht in die Zukunft verschobene, ausgedehnte Gegenwart verstanden, die sich nur "im Kontext von permanenter, molekularer, sozialer Revolution verstehen" lasse.
Das führt die Autorin weiter zum materialistischen Messianismus Walter Benjamins, von wo es weitergeht zu Michel Foucaults Begriff der "infinitiven Gegenwart", bevor Antonio Negris Konzept der konstituierenden Macht der "Multitude" verhandelt wird und "präsentische Demokratie" als Gegenmodell der auf die "Ausweitung der Geltung von Rechten und von Normen wie Gleichheit und Freiheit" ausgerichteten liberalen Demokratie präsentiert wird.
Als Alternative zur zentralen liberalen Institution der Verfassung wird von der Autorin "soziales Revolutionär-Werden" propagiert, das auf "wechselseitige Sorgepraxen" und "ein schwarzes und queeres Verständnis von Schulden" konzentriert ist. In "revolutionären Tigersprüngen" könne die "präsentische Demokratie" also mit "Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen patriarchaler, rassistischer und kapitalistischer Gesellschaften" brechen.
Leider ist Loreys "präsentische Demokratie" aber nicht nur einem "durch Infizierungen revolutionärer Praxen" ausgeweiteten "Ereignisgewimmel geschuldet", sondern selbst ein reines Begriffsgewimmel. So muss der Leser aussichtslos versuchen, den Begriffen "Ipsokratie" und "Phallokratie" einen Sinn abzugewinnen und die sechs Komponenten "für eine politische Neubestimmung der Gegenwart" als "präsentischer Demokratie" nachzuvollziehen. Dabei heißt es etwa über die "transversale Wiederkehr", sie sei "die Dynamik, der Modus eines offenen heterogenen Gefüges, in dem Ereignisse entstehen und zur Wiederholung kommen". Der "aktualisierende Sprung" wird präsentiert als "konstitutiver Teil der permanenten Differenzierung in der Gegenwart, die die Dauer als Vielfalt ausmacht." Und "Instituierungen und Organisierung" werden verstanden "als Dauer eines transversalen Gefüges aus differenzierenden Wiederholungen, die Institutionen des Mannigfaltigen und des Gemeinsamen ermöglichen."
Die Autorin hätte Hegel abnehmen sollen, Philosophie sei "ihre Zeit in Gedanken erfaßt" - und nicht in Worthülsen. Stattdessen wird er von ihr verballhornt als Propagandist eines selbstgenügsamen absoluten Geistes ohne Vermittlung und ohne Gesprächspartner. Ebenso abwegig ist es, wenn Rousseau eine demokratische Regierungskunst attestiert wird, die Foucault später mit dem Begriff der Gouvernementalität gefasst habe. Schließlich hat Foucault mit diesem Begriff gerade auch dezidiert vor- und nichtdemokratische Praktiken beschrieben. Und die Behauptung, ohne die Französische Revolution gebe es "kein Verständnis von Politik im liberalen bürgerlichen Sinne, keine repräsentative Demokratie", ist angesichts der politischen Theorien von Locke und Montesquieu ebenso unerklärlich wie die allein schon für die Umwelt- und Friedensbewegung falsche Feststellung, noch in den neunziger und zweitausender Jahren sei es "in sozialen Bewegungen undenkbar" gewesen, "sich positiv auf Begriff und Praxis der Demokratie zu beziehen".
Die politischen Konsequenzen ihrer "Demokratie im Präsens" benennt die Autorin ganz offen. So soll "die unbestimmte Form, die aus der konstituierenden Macht der Multitude entsteht", keiner Interessenvertretung mehr bedürfen und die "in ihren grundlegenden Institutionen paradoxerweise zutiefst undemokratisch" funktionierende liberale Demokratie überwinden. Schließlich könne diese nie alle repräsentieren und basiere auf einer nationalstaatlich exklusiven "Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen", die durch die "vergeschlechtlichte Trennung zwischen einer öffentlichen und einer privaten Sphäre" konstituiert und durch die "patriarchale Ordnung von naturalisierter heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit und Kleinfamilie" ein diskriminierendes Reproduktionsinstrument neoliberalen Sozialabbaus und xenophober Überwachungstechniken sei.
Neu ist an diesem gegen gesellschaftliche Interessenvertretung und Privatsphäre gerichteten Radikalismus nur die Idee, queer gegen die "heteronormative Geschlechterordnung als Staatsgrundlage" vorzugehen und "die Gegenfigur zu einer auf der Souveränität eines ,Volkes' basierenden Form von liberaler Demokratie zu sein". Wer die angeblich erst "durch das bürgerliche Gesetz" geschaffene Ungleichheit abschaffen wollte, müsste dafür schließlich eine noch weitaus größere Ungleichheit der Machtverhältnisse schaffen, was der totalitäre Kommunismus konsequent realisierte.
Wenn die Autorin schließlich die berechtigte Kritik an dem selbstwidersprüchlichen autoritären Populismus damit anheizt, dass sie dessen Positionen "ideologisch aus dem Vatikan befeuert" sieht, weil dieser "die Begrifflichkeit der ,Gender-Ideologie' erfunden und erfolgreich viral verbreitet" habe, ist das Niveau von Verschwörungstheorien erreicht.
Die im Untertitel versprochene "Theorie der politischen Gegenwart" findet man hier ebenso wenig wie eine ihren Namen verdienende Neukonzeption von Demokratie.
KARSTEN FISCHER
Isabell Lorey: "Demokratie im Präsens". Eine Theorie der politischen Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 217 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Buch Demokratie im Präsens ... ist ein echter Glücksfall.« Jens-Christian Rabe Süddeutsche Zeitung 20201013