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Die vorliegende Studie - Teil VII der analytisch ansetzenden "Elemente einer Verfassungstheorie" - stützt sich auf die Beobachtung gegenwärtiger Tendenzen in Recht, Politik und Wirtschaft. Eine zusätzliche materiale Grundlage bildet die Verfassungsvergleichung zwischen Deutschland und Brasilien als dem entwickeltsten Schwellenland der peripheren Moderne. Das Ergebnis der ausnahmslos unveröffentlichten Analysen kann mit einer "Defensive" umschrieben werden, in welche die demokratischen Systeme auch der zentrischen G7-Länder zunehmend geraten. Das wird etwa an Beispielen von funktioneller…mehr

Produktbeschreibung
Die vorliegende Studie - Teil VII der analytisch ansetzenden "Elemente einer Verfassungstheorie" - stützt sich auf die Beobachtung gegenwärtiger Tendenzen in Recht, Politik und Wirtschaft. Eine zusätzliche materiale Grundlage bildet die Verfassungsvergleichung zwischen Deutschland und Brasilien als dem entwickeltsten Schwellenland der peripheren Moderne. Das Ergebnis der ausnahmslos unveröffentlichten Analysen kann mit einer "Defensive" umschrieben werden, in welche die demokratischen Systeme auch der zentrischen G7-Länder zunehmend geraten. Das wird etwa an Beispielen von funktioneller Abnutzung bis hin zum Mißbrauch im Wahlrecht, am Problem der Präjudizien oder an dem präsidialer Notverordnungen entwickelt, wie sie der Demokratie von Weimar schadeten und seit 1988 Brasilien auf den Autoritarismus zu treiben. Anhand praktischer Konflikte wird die Trias "Konstitutionalität-Legalität-Legitimität" begrifflich neu bestimmt und auf den Ebenen von Verfassungsform, Verfassungs- und Rechtsdenken sowie der drei genannten Theoriekonzepte operationalisiert. Eine intensive Untersuchung gilt schließlich den Folgen weltweiter sozialer Exklusion und monetär-ökonomischer Globalisierung für demokratische Strukturen und Funktionen.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Normtexte schlagen zurück
Friedrich Müller mißt die Globalisierung an der Demokratie

Nur selten verlassen deutsche Verfassungsjuristen das vertraute nationalpolitische Terrain. Nicht so der Heidelberger Staatsrechtler Friedrich Müller, der mittlerweile einen Teil des Jahres in Brasilien lehrt und die Globalisierung und die Verfassungswirklichkeit der südlichen Weltregion zu seinem Thema gemacht hat.

Als Jurist, der den normativen Anspruch der Verfassung hochhält, steht Müller dem Ethikboom der Jahrhundertwende ebenso fern wie dem robusten Machtsinn der Realpolitiker. Während Soziologen und Politikwissenschaftler mittlerweile für Kommunitarismus und Bürgertum schwärmen und den Verlust des Vertrauens beklagen, kontert Müller trocken: "Vertrauen ist gut, aber korrekte Verfassungsjustiz ist besser."

Juristen rechnen mit Interessen und sind an ihrer Regelung und deren Realisierungschancen interessiert. Ihnen ist der vornehme Ton der Ethikkommissionen ebenso verdächtig wie seinerzeit dem Königsberger Philosophen die intellektuelle Anschauung der Neuplatoniker. Aber Verträge, Gesetzbücher und vor allem Verfassungen sind Normtexte, und es gilt deren Buchstabe. Er macht die normativen Grenzen von Macht und Interesse sichtbar, und er bindet den grenzensprengenden Geist des Gesetzes an das, was geschrieben steht. Der Buchstabe ist nicht alles, aber ohne ihn ist alles nichts. Das gilt im trans- und internationalen Recht nicht weniger als im nationalen, und es gilt unabhängig vom Kalkül der Durchsetzungschance. An die Adresse aller Realpolitiker, die Recht mit Erzwingbarkeit identifizieren, ist der Satz aus einer älteren Publikation Müllers adressiert, der als Motto über seinem neuen Buch stehen könnte: "Norm- und Verfassungstexte setzt man, mit unaufrichtigem Verständnis konzipiert, letztlich nicht ungestraft. Sie können zurückschlagen."

Seit dem 11. September mehren sich indes die Stimmen derer, die beherzt realpolitische Entschlossenheit einfordern und nach dem Motto The west is the best gar die Rückkehr kraftvoller Kolonialpolitik herbeisehnen. Und die Menschenrechte, die völkerrechtliche Legitimität und Legalität? Makulatur, bestenfalls Sentimentalität, schlimmstenfalls Tarnung finsterster Interessen. Orthodoxe Marxisten, konservative Realpolitiker und postmoderne Philosophen sind sich darin einig, daß die Menschenrechte eine metaphysische Idee darstellen, deren Dekonstruktion nur die Partikularität einer Weltperspektive zurückläßt, die alle andern verleugnet, mißachtet und unter dem Tisch mit Füßen tritt. Kulturimperialismus pur, nur daß die Realisten mit Kissinger und Carl Schmitt für, die Postmodernen mit Foucault und Derrida gegen solchen Imperialismus sind.

"Das muß uns nicht weiter beeindrucken", schreibt Friedrich Müller und läßt den Streit über Kulturimperialismus auf sich beruhen, um statt dessen nach der realen Schutzfunktion der Menschenrechte zu fragen. Und da gibt es keinen Zweifel, daß diese Funktion nicht westlich, sondern "universal" ist: "Schutz vor dem ,Recht des Stärkeren', das kein Recht ist." Schutz vor fundamentalistischem Terror und kommunistischer Geheimpolizei, aber auch vor amerikanischen Standgerichten. Die Frage, ob die Geltung der Menschenrechte an ihrem nordatlantischen Entstehungskontext und dem Herrschaftsverlangen reicher, weißer Männer haftenbleibt, ist für Müller akademisch, zeigt sich doch in der Praxis sofort die ebenso universelle wie herrschaftsbrechende Funktion dieser Rechte. Um das zu zeigen, muß man nur "die Opfer fragen" und "nicht die Apparate", die "Verfolgten, nicht die Verfolger". Sie werden nicht von westlichen, sondern von ihren Rechten sprechen, während die jeweils herrschende, meist europäisch erzogene Oligarchie sie als Infiltration denunziert.

Für Müller ist jedoch das Projekt der Menschenrechte unmittelbar von der globalen Realisierung der Demokratie abhängig, und das trennt ihn von Verfassungsjuristen wie Ernst-Wolfgang Böckenförde wie und Sozialphilosophen wie John Rawls, die beide davon ausgehen, es gäbe "wohlgeordnete hierarchische Gesellschaften" (Rawls), in denen die Menschenrechte geachtet, die Demokratie aber verachtet wird.

Das Volk zuoberst?

Das kann man mit gutem Grund empirisch bestreiten. Aber Müller geht weiter, denn er möchte den menschenrechtlichen Universalismus tiefer verankern und ins Demokratieprinzip zurückverlegen. Sein Buch beginnt deshalb mit der Abgrenzung des modernen, menschenrechtlichen Demokratieverständnisses vom antiken, herrschaftlichen. Die moderne Demokratie hat das alte Ideal der "Selbstregierung" zur "Selbstcodierung" (Selbstgesetzgebung) abgeschwächt und damit das Volk - den demos - von der Ausübung der Herrschaftsgewalt - kratein - getrennt. Dadurch wird aber das Demokratieprinzip zu einem ebenso kritischen und negativen wie universellen und menschenrechtlichen Begriff.

Kritisch richtet sich demokratische Legitimität gegen jede Herrschaft, die nicht durch einen "politischen Prozess", der das ganze Volk in die Codifizierung und Konkretisierung aller Rechtsnormen, die seine Freiheit regulieren, einbezieht. Da Herrschaft nicht aus der Welt zu schaffen ist, bleibt Demokratie ein negatives Projekt, das dazu da ist, durch gesetzlich und justiziell "ausgebaute Rechte" Herrschaft "zu erschweren, zu komplizieren, zu begrenzen." Fragt man aber, wer das "ganze Volk" (Artikel 38, Absatz 1, Satz 2 Grundgesetz), das sich selbst wirksame Gesetze (und nicht nur Normtexte) geben soll, ist, so kann das weder das "Aktivvolk" der Wahlberechtigten noch das Staatsbürgervolk sein, dem die Beschlüsse und Entscheidungen "aller" "Staatsgewalten" und "Organe" (Artikel 20, Absatz 2) juristisch "zugerechnet" werden, sondern nur das Volk aller von bindenden Entscheidungen betroffenen Personen: "das ,Volk' als tatsächliche Bevölkerung". Das nennt Müller in seinem neuen Buch den "urdemokratischen Kerngedanken: Selbstcodierung im positiven Recht durch alle vom normativen Code Betroffenen". Legitimationssubjekt kann nur das gesamte "Adressantenvolk" sein, und das umfaßt nicht nur Staatsbürger und Wahlberechtigte.

Dieser Gedanke überschreitet den "traditionellen Herrschaftsdiskurs", zerreißt die Bindung des demos an Herrschaft und erschließt die menschenrechtliche Dimension des Prinzips demokratischer Legitimation. In einer verfassungsmäßigen Demokratie wird nicht einfach das Herrschaftssubjekt ausgetauscht und "das Volk zuoberst gesetzt", sondern, da nicht jeder Betroffene aktiv an der Selbstcodierung teilnehmen kann, muß jeder Mensch, der in den Geltungsbereich einer Rechtsordnung gerät, "als legitimierender Faktor staatlichen Verhaltens" zumindest "ernst genommen" werden, und auch im negativen Status des nichtaktiven Staatsbürgers muß er "als Mitglied des souveränen Volkes" behandelt werden.

Demokratische Autonomie ist das Telos aller Menschenrechte. Der einzige Begriff des "Volkes", der Rechtsordnungen legitimieren kann, ist deshalb der einer inklusiven Gemeinschaft, die prinzipiell für alle Menschen ebenso "offen" ist wie für das Entstehen "neuer Differenzen" und die "friedliche" Entfaltung von "Partikularität". In der Moderne ist "Demokratie" - und Müller kann sich hier ebenso auf Rousseau wie auf Abraham Lincoln stützen - "positives Recht eines jeden Menschen im Bereich ihrer ,-kratie'."

Kettenreaktion der Exklusivität.

Erst der Blick auf die ebenso rasante wie alternativlose Globalisierung von Markt, Macht und Recht läßt die ganze Tragweite von Müllers menschenrechtlichem Begriff demokratischer Legitimation erkennen. Je enger sich nationales, internationales und transnationales Recht durchdringen und vernetzen, desto nachdrücklicher stellt sich nicht nur die Frage nach der demokratischen Legitimation des nach wie vor zentralen, staatlich gesetzten Rechts, sondern auch die utopisch anmutende Frage nach der Legitimation des entstaatlichten, globalen Rechts durch ein "sich allmählich herausbildendes transnationales Volk".

Die sich in wachsender Kritik an der einseitig marktradikalen Globalisierung immer deutlicher artikulierende globale Zivilgesellschaft ist zwar bislang weder das globale Volk noch sein Repräsentant. Aber für den Verfassungsjuristen Müller, der vor allem an einer "gewaltlosen" und "schrittweisen" Demokratisierung der nationalen und übernationalen Rechtsordnungen interessiert ist, gibt es immerhin eine globale Verfassungsfunktion, die Nichtregierungsorganisationen schon heute ausfüllen können, indem sie in Analogie zur verfassungsmäßigen Funktion der innerstaatlichen Parteien "bei der politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken (Artikel 21, Absatz 1, Satz 1 Grundgesetz) und auf diese Weise dazu beitragen, undemokratische Herrschaft zu delegitimieren und zu erschweren.

Auch im nationalen Recht nötigt die internationale Verflechtung mit anderen Rechtsordnungen immer mehr dazu, die Differenz zwischen Staatsbürgervolk und der tatsächlich adressierten Bevölkerung zu berücksichtigen und demokratisch und legitimatorisch ernst zu nehmen. Demokratie verbietet als "Verfassungsgrundsatz" den sozialen Ausschluß großer Bevölkerungsgruppen vom Zugang zu den wichtigsten Kommunikationssystemen des modernen Lebens. Sie verbietet den faktischen Ausschluß der peripheren Populationen in den großen Städten des Westens ebenso wie Favelas und Massenelend in Lateinamerika, Indien oder Afghanistan.

Denn die "Kettenreaktion der Exklusion" - keine Arbeit, kein Geld, kein fester Wohnsitz, keine Chance, die Kinder zur Schule zu schicken, kein Paß, keine Klagemöglichkeiten vor Gericht und so weiter - drückt das Adressatenvolk auf einen Status herab, der oberhalb einer gewissen Schwelle Rechtsstaat und Demokratie und damit die normative Konkretisierung der jeweiligen Verfassungstexte unmöglich macht.

Steigt die Armutsrate bei gleichzeitigem Sinken der Wahlbeteiligung dann auch in den etablierten Demokratien des Westens und nimmt sie gar so dramatische Ausmaße an, wie sie heute schon in den Vereinigten Staaten zu beobachten sind, so stellt sich mit Georg Jellinek die Frage, ob hier nicht schon ein schleichender Verfassungswandel zu einer demokratisch und verfassungsmäßig nicht mehr legitimierbaren Herrschaftsform vorliegt - auch ohne ausdrückliche Verfassungsänderung. Dann aber bliebe von einer globalen Menschenrechtspolitik, für die der Westen sich mit guten Gründen stark macht, nichts mehr übrig als kraftvolle Kolonialpolitik ohne das alteuropäische Erbe von Pluralismus, Republikanismus und Demokratie.

HAUKE BRUNKHORST.

Friedrich Müller: "Demokratie in der Defensive". Funktionelle Abnutzung - soziale Exklusion - Globalisierung. Elemente einer Verfassungstheorie VII. Herausgegeben und eingeleitet von Ralph Christensen. Schriften zur Rechtstheorie, Heft 197. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2001. 96 S., br., 34,- .

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der deutsche Jurist Friedrich Müller blickt, wie Hauke Brunkhorst gleich anfangs erwähnt, über den den heimatlichen Tellerrand, er lehrt (auch) in Brasilien. Kein Wunder, so der Rezensent, dass sein Blick auf Phänomene wie Verfassungswirklichkeit und Menschenrechte so unsentimental wie empirisch genau ist. Müller ist - gegen den neu-alten amerikanischen Chauvinismus ebenso wie gegen die Postmoderne - ein vehementer Streiter für die Menschenrechte, deren "reale Schutzfunktion" er herausstreicht. Auch sein auf der Einbeziehung des ganzen Volkes - und sei es in Zukunft transnational - insistierender Demokratiebegriff speist sich aus dem ganz Ernst genommenen Buchstaben von Gesetzen, Verfassungen und eben Menschenrechten. Seine Warnung gilt, so Brunkhorst, vor allem dem Verlust der Inklusivität der demokratischen Gemeinschaften - wie er in den brasilianischen Favelas offenkundig, aber auch in den USA längst eine, freilich gerne heruntergespielte, Realität ist.

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