Über Zerbrechlichkeit und Beständigkeit der Demokratie.Die vielgestaltigen Wege der europäischen Gesellschaften in die Moderne sind mit der Geschichte der Demokratie unauflösbar verbunden. In seinen Studien zur deutschen, britischen und französischen Geschichte beleuchtet Andreas Wirsching diese Wege in all ihrer Ambivalenz und Komplexität. So entsteht eine Geschichte der Demokratie, die um deren Fragilität ebenso weiß, wie sie ihre Stabilitätsfaktoren hervorhebt. Diese historischen Einsichten geben wichtige Impulse für die gegenwärtige Diskussion über die Zukunft der Demokratie in Europa.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2019Wenn Gewalt
Politik ersetzt
Andreas Wirsching fragt, wie stabil oder fragil
Demokratien sind – besonders mit Blick auf Weimar
VON ROLF LAMPRECHT
Der Autor beschwört die „Einheit von Wort und Tat“; das Wechselspiel von „Agitation und Aktion“ erfüllt ihn mit Sorge. Er warnt: Die ständige Wiederholung „ideologischer Feindstereotype“ leiste der Gewaltbereitschaft Vorschub. „Sprache bahnt den Weg der Gewalt“. Wer glaubt, das Personal zu kennen, geht in die Irre. Hier ist nicht die Rede von NPD, Pegida oder AfD, sondern von den zerstörerischen Kräften der Weimarer Republik. Parallelen zur Gegenwart drängen sich allerdings auf – und schlagen aufs Gemüt. Die bedrohliche Analyse stammt aus der Feder des Münchner Zeithistorikers Andreas Wirsching. Sie findet sich in einer Sammlung seiner Abhandlungen, die Schüler und Weggefährten zum 60. Geburtstag des Gelehrten zusammengestellt haben. Der Titel: „Demokratie und Gesellschaft.“
Die Demokratie ist das Lebens-Thema des Adressaten. Der Ordinarius für Neueste Geschichte und Direktor des renommierten Instituts für Zeitgeschichte hat über die britische, die französische und die deutsche Demokratie geforscht, „in all ihrer Ambivalenz und Komplexität“, wie der Verlag anmerkt. So entstand, notieren seine Freunde, „eine Geschichte der Demokratie, die um deren Fragilität ebenso weiß, wie sie ihre Stabilitätsfaktoren hervorhebt.“ Wirsching hat diese Entwicklung wie ein Seismograf aufgezeichnet. Im Scheitern Weimars sieht er ein „Menetekel für die Fragilität der Demokratie“. Die Republik hatte kein Polster, von dem sie zehren konnte. „Ist die Freiheit erst mal verspielt“, resigniert der Gelehrte, erkenne man nur noch „den dünnen Firnis der Zivilisation“. Der Leser lernt Wirsching als originellen und lebensnahen Historiker kennen. Er verweist auf die Widersprüche, mit denen moderne Gesellschaften leben müssen, etwa auf das „Dilemma des Liberalismus“; der leidet an der Notwendigkeit, im Namen der Freiheit „selbst der Freiheit zu misstrauen“ und im Namen der Freiheit nach Wegen der Begrenzung zu suchen, „ohne sie selbst zu zerstören“.
Der Begriff „neue Moderne“ kommt ins Spiel. Wirsching apostrophiert eine „Endstandardisierung von Lebensläufen“ – im Klartext: Identität und Individualität leiten sich verstärkt aus Konsummustern ab, nicht mehr aus der eigenen Arbeit. Daraus folgt ein „Imperativ der Konkurrenz“, der die Menschen verängstigt und verwirrt.
Angesichts der lebhaft geführten Debatte um die Stabilität der bundesdeutschen Verfassungsordnung ist Wirsching, so die Zunft, zu einem „öffentlichen Mahner“ geworden. Er verfolge sorgfältig „die systemischen Prozesse, die die Demokratie von innen auszuhöhlen versuchen“. Muster gibt es zuhauf. Nach seinen Studien berufen sich Verfassungsfeinde seit Weimar „auf eine übergeordnete Moral“ – „auf einen politischen Willen jenseits der bürgerlichen Legalität“. Sie stellen „das Gewaltmonopol des Staates“ in Frage und suchen „die Autorität der Demokratie zu unterminieren“.
Wirsching wird attestiert, dass er diese Gegner „fest im Blick“ habe. Die im Inland und die im Ausland. Bei seinen Forschungen hat er immer über den deutschen Tellerrand gesehen. Das macht ihn zu einem verlässlichen Kronzeugen. Seine Abhandlungen über den englischen Parlamentarismus sowie seine zahlreichen Publikationen zum Rechts- und Linksextremismus in Deutschland und Frankreich schlagen sich in dem neuen Buch nieder, das weit gefächert ist und tief bohrt.
Unversehens ist dabei ein Rechtsvergleich entstanden, der direkt und indirekt die Frage aufwirft: Ist eine Nation anfälliger für radikale Versuchungen als die anderen? Wirsching hält Gewaltbereitschaft für die Wurzel allen Übels. Er lenkt den Blick auf die „Zwischenkriegszeit“ und kommt zu dem Schluss, dass die „verheerenden“ Folgen des Ersten Weltkriegs eine „Brutalisierung der Politik“ bewirkt haben. Er spannt den Bogen von Weimar bis heute und operiert mit einer „vergleichenden Fragestellung“: War politische Gewalt ein typisch deutsches oder auch ein europäisches Phänomen?
Tatsache ist: In der Weimarer Republik tobten „schwere, bürgerkriegsartige Kämpfe“, gab es „linksradikale Aufstands- und rechtsextreme Putschversuche“, zu Beginn herrschte „vier Jahre politischer Mord“. Wirsching registriert „ein Kalkül“ der NSDAP, „das seine Wirkung nicht verfehlte“: den Bekanntheitsgrad der Partei durch „Radau“ zu steigern.
In seiner „zweiten Hypothese“ untersucht er, ob politische Gewalt vielleicht doch ein europäisches „Phänomen“ sein könnte. Ob sie Teil „einer epochenspezifischen Krise der Demokratie“ sei, für welche die deutsche Variante „nur ein besonderes, allerdings extremes Paradigma darstellte“. Zwar gehörte Gewalt, fand Wirsching heraus, in fast allen anderen Ländern „zu den gezielt eingesetzten Mitteln der Politik“, namentlich in Italien. Selbst das „traditionsstabile England“ sei davon nicht verschont geblieben. Doch die „British Union of Fascists“ agierte im Londoner East End vergleichsweise harmlos. „Auch Frankreich kannte zwischen den Weltkriegen mehr als eine Welle der politischen Gewalt.“ Ein „Schatz“ an Traditionen habe das Land vor dem Schlimmsten bewahrt. Der „hegemoniale Diskurs disziplinierte den Extremismus auf der Linken wie auf der Rechten“. Deutschland dagegen litt, beklagt Wirsching, „unter einem Mangel an Traditionen“. Er zitiert die linke Publizistin Ruth Fischer, zugleich Vorsitzende der KPD (1924/25): „Die deutsche Arbeiterklasse hat fast keine revolutionäre, das deutsche Volk fast keine bürgerlich-demokratische Tradition“.
Ein zutreffendes und vernichtendes Urteil. Mit dieser Unbedarftheit fielen die Deutschen auf jeden Trick von Verfassungsfeinden herein. Wirsching beschreibt deren „Legalitätstaktik“. Sie seien trotz ihrer „zumindest potenziellen Gewaltbereitschaft“ bemüht, den Boden der Legalität möglichst nicht zu verlassen, weil sie bei einem Verbot die „legalen Agitations- und Propagandamöglichkeiten, welche die Demokratie bietet“, verlieren würden. Eine scheinheilige Methode, die bis in die Gegenwart fortlebt.
„Demokratie und Gesellschaft“ vermittelt dem Leser wertvolle Urteilskriterien. Wirschings Einsichten und Folgerungen ergeben ein ungemein lehrreiches Buch, das aufmerksam macht auf Kardinalfehler, die sich jederzeit wiederholen können.
Er erinnert an die gefährliche „Perversion rechtlicher, politischer und moralischer Maßstäbe“ – und beschreibt den Moment, der dem NS-Terror voraus ging: „Die grundsätzliche und kompromisslose Ächtung von Gewalt – notwendige Grundlage einer stabilen Demokratie – war der Weimarer Gesellschaft im Namen von ‚Sicherheit und Ordnung‘ abhandengekommen.“ Heute könnte dasselbe im Namen einer falsch verstandenen Toleranz passieren.
Rolf Lamprecht berichtet seit 1968 von den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.
Die Ächtung von Gewalt gelang
der ersten deutschen Republik
nicht; es folgte der NS-Terror
Andreas Wirsching:
Demokratie und
Gesellschaft. Historische Studien zur europäischen Moderne. Hg. von Magnus Brechtken, Thomas
Raithel, Elke Seefried und Martina Steber. Wallstein-Verlag, Göttingen 2019. 400 Seiten. 29,90 Euro.
Die Deutschen und die politische Gewalt: Nach dem misslungenen Putsch 1923 beschloss Hitler, die Republik auf legalem Wege zu beseitigen. Zu sehen ist ein heroisierendes Gemälde des Putsches des Künstlers H. Schmitt.
Foto: Sammlung Megele/SZ Photo
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Politik ersetzt
Andreas Wirsching fragt, wie stabil oder fragil
Demokratien sind – besonders mit Blick auf Weimar
VON ROLF LAMPRECHT
Der Autor beschwört die „Einheit von Wort und Tat“; das Wechselspiel von „Agitation und Aktion“ erfüllt ihn mit Sorge. Er warnt: Die ständige Wiederholung „ideologischer Feindstereotype“ leiste der Gewaltbereitschaft Vorschub. „Sprache bahnt den Weg der Gewalt“. Wer glaubt, das Personal zu kennen, geht in die Irre. Hier ist nicht die Rede von NPD, Pegida oder AfD, sondern von den zerstörerischen Kräften der Weimarer Republik. Parallelen zur Gegenwart drängen sich allerdings auf – und schlagen aufs Gemüt. Die bedrohliche Analyse stammt aus der Feder des Münchner Zeithistorikers Andreas Wirsching. Sie findet sich in einer Sammlung seiner Abhandlungen, die Schüler und Weggefährten zum 60. Geburtstag des Gelehrten zusammengestellt haben. Der Titel: „Demokratie und Gesellschaft.“
Die Demokratie ist das Lebens-Thema des Adressaten. Der Ordinarius für Neueste Geschichte und Direktor des renommierten Instituts für Zeitgeschichte hat über die britische, die französische und die deutsche Demokratie geforscht, „in all ihrer Ambivalenz und Komplexität“, wie der Verlag anmerkt. So entstand, notieren seine Freunde, „eine Geschichte der Demokratie, die um deren Fragilität ebenso weiß, wie sie ihre Stabilitätsfaktoren hervorhebt.“ Wirsching hat diese Entwicklung wie ein Seismograf aufgezeichnet. Im Scheitern Weimars sieht er ein „Menetekel für die Fragilität der Demokratie“. Die Republik hatte kein Polster, von dem sie zehren konnte. „Ist die Freiheit erst mal verspielt“, resigniert der Gelehrte, erkenne man nur noch „den dünnen Firnis der Zivilisation“. Der Leser lernt Wirsching als originellen und lebensnahen Historiker kennen. Er verweist auf die Widersprüche, mit denen moderne Gesellschaften leben müssen, etwa auf das „Dilemma des Liberalismus“; der leidet an der Notwendigkeit, im Namen der Freiheit „selbst der Freiheit zu misstrauen“ und im Namen der Freiheit nach Wegen der Begrenzung zu suchen, „ohne sie selbst zu zerstören“.
Der Begriff „neue Moderne“ kommt ins Spiel. Wirsching apostrophiert eine „Endstandardisierung von Lebensläufen“ – im Klartext: Identität und Individualität leiten sich verstärkt aus Konsummustern ab, nicht mehr aus der eigenen Arbeit. Daraus folgt ein „Imperativ der Konkurrenz“, der die Menschen verängstigt und verwirrt.
Angesichts der lebhaft geführten Debatte um die Stabilität der bundesdeutschen Verfassungsordnung ist Wirsching, so die Zunft, zu einem „öffentlichen Mahner“ geworden. Er verfolge sorgfältig „die systemischen Prozesse, die die Demokratie von innen auszuhöhlen versuchen“. Muster gibt es zuhauf. Nach seinen Studien berufen sich Verfassungsfeinde seit Weimar „auf eine übergeordnete Moral“ – „auf einen politischen Willen jenseits der bürgerlichen Legalität“. Sie stellen „das Gewaltmonopol des Staates“ in Frage und suchen „die Autorität der Demokratie zu unterminieren“.
Wirsching wird attestiert, dass er diese Gegner „fest im Blick“ habe. Die im Inland und die im Ausland. Bei seinen Forschungen hat er immer über den deutschen Tellerrand gesehen. Das macht ihn zu einem verlässlichen Kronzeugen. Seine Abhandlungen über den englischen Parlamentarismus sowie seine zahlreichen Publikationen zum Rechts- und Linksextremismus in Deutschland und Frankreich schlagen sich in dem neuen Buch nieder, das weit gefächert ist und tief bohrt.
Unversehens ist dabei ein Rechtsvergleich entstanden, der direkt und indirekt die Frage aufwirft: Ist eine Nation anfälliger für radikale Versuchungen als die anderen? Wirsching hält Gewaltbereitschaft für die Wurzel allen Übels. Er lenkt den Blick auf die „Zwischenkriegszeit“ und kommt zu dem Schluss, dass die „verheerenden“ Folgen des Ersten Weltkriegs eine „Brutalisierung der Politik“ bewirkt haben. Er spannt den Bogen von Weimar bis heute und operiert mit einer „vergleichenden Fragestellung“: War politische Gewalt ein typisch deutsches oder auch ein europäisches Phänomen?
Tatsache ist: In der Weimarer Republik tobten „schwere, bürgerkriegsartige Kämpfe“, gab es „linksradikale Aufstands- und rechtsextreme Putschversuche“, zu Beginn herrschte „vier Jahre politischer Mord“. Wirsching registriert „ein Kalkül“ der NSDAP, „das seine Wirkung nicht verfehlte“: den Bekanntheitsgrad der Partei durch „Radau“ zu steigern.
In seiner „zweiten Hypothese“ untersucht er, ob politische Gewalt vielleicht doch ein europäisches „Phänomen“ sein könnte. Ob sie Teil „einer epochenspezifischen Krise der Demokratie“ sei, für welche die deutsche Variante „nur ein besonderes, allerdings extremes Paradigma darstellte“. Zwar gehörte Gewalt, fand Wirsching heraus, in fast allen anderen Ländern „zu den gezielt eingesetzten Mitteln der Politik“, namentlich in Italien. Selbst das „traditionsstabile England“ sei davon nicht verschont geblieben. Doch die „British Union of Fascists“ agierte im Londoner East End vergleichsweise harmlos. „Auch Frankreich kannte zwischen den Weltkriegen mehr als eine Welle der politischen Gewalt.“ Ein „Schatz“ an Traditionen habe das Land vor dem Schlimmsten bewahrt. Der „hegemoniale Diskurs disziplinierte den Extremismus auf der Linken wie auf der Rechten“. Deutschland dagegen litt, beklagt Wirsching, „unter einem Mangel an Traditionen“. Er zitiert die linke Publizistin Ruth Fischer, zugleich Vorsitzende der KPD (1924/25): „Die deutsche Arbeiterklasse hat fast keine revolutionäre, das deutsche Volk fast keine bürgerlich-demokratische Tradition“.
Ein zutreffendes und vernichtendes Urteil. Mit dieser Unbedarftheit fielen die Deutschen auf jeden Trick von Verfassungsfeinden herein. Wirsching beschreibt deren „Legalitätstaktik“. Sie seien trotz ihrer „zumindest potenziellen Gewaltbereitschaft“ bemüht, den Boden der Legalität möglichst nicht zu verlassen, weil sie bei einem Verbot die „legalen Agitations- und Propagandamöglichkeiten, welche die Demokratie bietet“, verlieren würden. Eine scheinheilige Methode, die bis in die Gegenwart fortlebt.
„Demokratie und Gesellschaft“ vermittelt dem Leser wertvolle Urteilskriterien. Wirschings Einsichten und Folgerungen ergeben ein ungemein lehrreiches Buch, das aufmerksam macht auf Kardinalfehler, die sich jederzeit wiederholen können.
Er erinnert an die gefährliche „Perversion rechtlicher, politischer und moralischer Maßstäbe“ – und beschreibt den Moment, der dem NS-Terror voraus ging: „Die grundsätzliche und kompromisslose Ächtung von Gewalt – notwendige Grundlage einer stabilen Demokratie – war der Weimarer Gesellschaft im Namen von ‚Sicherheit und Ordnung‘ abhandengekommen.“ Heute könnte dasselbe im Namen einer falsch verstandenen Toleranz passieren.
Rolf Lamprecht berichtet seit 1968 von den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.
Die Ächtung von Gewalt gelang
der ersten deutschen Republik
nicht; es folgte der NS-Terror
Andreas Wirsching:
Demokratie und
Gesellschaft. Historische Studien zur europäischen Moderne. Hg. von Magnus Brechtken, Thomas
Raithel, Elke Seefried und Martina Steber. Wallstein-Verlag, Göttingen 2019. 400 Seiten. 29,90 Euro.
Die Deutschen und die politische Gewalt: Nach dem misslungenen Putsch 1923 beschloss Hitler, die Republik auf legalem Wege zu beseitigen. Zu sehen ist ein heroisierendes Gemälde des Putsches des Künstlers H. Schmitt.
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»ein ungemein lehrreiches Buch, das aufmerksam macht auf Kardinalfehler, die sich jederzeit wiederholen können.« (Rolf Lamprecht, Süddeutsche Zeitung, 23.09.2019)