Die Bundesrepublik erbebte, als in Thüringen am 5. Februar 2020 Thomas Kemmerich mit Stimmen von AfD, CDU und FDP zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Das Land wurde in seine schwerste politische Krise seit 1990 gestürzt. Die CDU wechselte ihre Führung in Berlin und Erfurt aus, sie zog die Grenzlinie zur AfD neu und duldete gleichzeitig erstmals eine Linke-geführte Landesregierung.Wie kam es zu dieser historischen Zäsur? In seinem Buch zeigt Martin Debes, dass die Wahl Thomas Kemmerichs aus der Überforderung des etablierten Parteiensystems resultierte. Es versagte beim Umgang mit einer völlig neuen Mehrheitssituation. Weil sich die alten Lager gegenseitig lähmten, konnte die AfD das Landesparlament vorführen.Dieses Buch leuchtet die Ereignisse auch an jenen Stellen aus, die bislang im Dunkeln oder im Halbschatten blieben. Die konspirativen Treffen, die geheimen Absprachen, die privaten Textnachrichten, die internen Protokolle, die verborgenen Motivlagen: Erst diese Informationen und Details lassen ein annähernd vollständiges Bild der Ereignisse entstehen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Patrick Bahners lernt aus dem Buch des Reporters Martin Debes, wie es im Februar 2020 zur Regierungskrise in Thüringen kommen konnte und dass sich die AfD mit ihrer Strohmanntaktik durchaus systemkonform verhielt. Dass der Autor nicht auf Enthüllungen setzt, sondern mit Christopher Clarks "Schlafwandler"-Bild argumentiert, um das Geschehen zu erklären, scheint Bahners einzuleuchten. Die ausführliche Darstellung der Vorgeschichte der Krise im Buch hilft Bahners, den 5. Februar 2020 von der politischen Praxis her besser einzuordnen und keine vorschnellen moralischen Schlüsse zu ziehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.08.2021House of
Knarz
Martin Debes’ Politthriller
über die Kemmerich-Wahl
Für die Wahl Thomas Kemmerichs mit Hilfe der AfD sind viele Metaphern bemüht worden, zumeist aus dem Bereich Naturkatastrophen: Beben, Sturm, Tsunami. Ein unvorhergesehenes Ereignis aber, ein unverschuldetes gar, war der 5. Februar 2020 nicht. Das zeigt Martin Debes eindrucksvoll in seinem Buch, das mehr ist als die gewissenhafte Rekonstruktion eines Tabubruchs. Es ist das Porträt eines Landes, in dem nicht nur Mehrheiten verloren gegangen sind, sondern auch politische Gewissheiten. In dem persönliche Fehden Legislaturen überdauern, Solitäre auf Mitläufer treffen. Wäre dies ein Netflix-Politthriller, er verdiente mindestens fünf Staffeln.
Debes, langjähriger Reporter der Thüringer Allgemeinen, nimmt sich Zeit, die Akteure einzuführen. Da ist der ehrgeizige CDU-Aufsteiger Mike Mohring, der nichts anderes kennt als die Politik, der nichts anderes will als an die Spitze. Ein Ausnahmetalent, skrupellos, von Argwohn zerfressen. Da ist der Linke Bodo Ramelow, Pragmatiker, Choleriker, Christ – und manchmal zu sehr von sich überzeugt. Da ist der Demagoge und AfD-Chef Björn Höcke.
Debes gelingt es nicht nur, Faktenordnung in das Chaos von Erfurt zu bringen, er macht die Motivation der Handelnden transparent, benennt unbequeme Wahrheiten: Dass es die heutigen CDU-Spitzen Mario Voigt und Christian Hirte waren, die Kemmerich nahelegten zu kandidieren. Wie Mohring versuchte, die Wahl des FDP-Mannes intern zu verhindern, und später ankündigte mitzuregieren. Wenn Thomas Kemmerich behauptet, er sei da lediglich in etwas hineingeraten, dann hält Debes dem ein unveröffentlichtes Radiointerview entgegen. Darin bildet der Chef einer Fünf-Prozent-Partei in Gedanken schon mal sein Kabinett. Einen Tag vor der Wahl.
Schlafwandler nennt der Autor das politische Personal Thüringens, weil alle Beteiligten unbeirrbar, aber ohne Weitsicht in die Abstimmung taumeln. Die Assoziation mit Christopher Clarks Genese des Ersten Weltkrieges drängt sich auf, aber Debes ist vorsichtig mit historischen Vergleichen, widersteht der Versuchung, zu überhöhen oder zu moralisieren. Selbst in der Beschreibung größten Dilettantismus bleibt er so sachlich, wie es sich für einen Berichterstatter gehört. Die Lakonie ist eine Stärke des Buches, die andere sind die Details, die nicht nur Politik-Nerds freuen werden. Debes weiß, wer wann wem SMS geschickt hat in den langen Nächten vor und nach der Wahl. Dass Ramelow Mohring einen Schutzengel schenkte, als dieser mit dem Krebs rang. Dass es schon 2009 eine Ministerpräsidentinnenwahl im Land gab, die fast schiefging, und zehn Jahre offenbar nicht reichen, um klüger zu werden.
„Demokratie unter Schock“ zeigt den Wert kontinuierlicher Politikbeobachtung, zeugt von leidenschaftlichem Lokaljournalismus. Am Ende steht die Erkenntnis: Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen war vielleicht ein Fanal, zuallererst jedoch ein großes Déjà-vu.
ULRIKE NIMZ
Martin Debes: Demokratie unter Schock. Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte. Klartext-Verlag, Essen 2021. 248 Seiten, 18,95 Euro.
Das Buch bringt Ordnung in das
Chaos von Erfurt, ist unbequem,
macht Motivationen transparent
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Knarz
Martin Debes’ Politthriller
über die Kemmerich-Wahl
Für die Wahl Thomas Kemmerichs mit Hilfe der AfD sind viele Metaphern bemüht worden, zumeist aus dem Bereich Naturkatastrophen: Beben, Sturm, Tsunami. Ein unvorhergesehenes Ereignis aber, ein unverschuldetes gar, war der 5. Februar 2020 nicht. Das zeigt Martin Debes eindrucksvoll in seinem Buch, das mehr ist als die gewissenhafte Rekonstruktion eines Tabubruchs. Es ist das Porträt eines Landes, in dem nicht nur Mehrheiten verloren gegangen sind, sondern auch politische Gewissheiten. In dem persönliche Fehden Legislaturen überdauern, Solitäre auf Mitläufer treffen. Wäre dies ein Netflix-Politthriller, er verdiente mindestens fünf Staffeln.
Debes, langjähriger Reporter der Thüringer Allgemeinen, nimmt sich Zeit, die Akteure einzuführen. Da ist der ehrgeizige CDU-Aufsteiger Mike Mohring, der nichts anderes kennt als die Politik, der nichts anderes will als an die Spitze. Ein Ausnahmetalent, skrupellos, von Argwohn zerfressen. Da ist der Linke Bodo Ramelow, Pragmatiker, Choleriker, Christ – und manchmal zu sehr von sich überzeugt. Da ist der Demagoge und AfD-Chef Björn Höcke.
Debes gelingt es nicht nur, Faktenordnung in das Chaos von Erfurt zu bringen, er macht die Motivation der Handelnden transparent, benennt unbequeme Wahrheiten: Dass es die heutigen CDU-Spitzen Mario Voigt und Christian Hirte waren, die Kemmerich nahelegten zu kandidieren. Wie Mohring versuchte, die Wahl des FDP-Mannes intern zu verhindern, und später ankündigte mitzuregieren. Wenn Thomas Kemmerich behauptet, er sei da lediglich in etwas hineingeraten, dann hält Debes dem ein unveröffentlichtes Radiointerview entgegen. Darin bildet der Chef einer Fünf-Prozent-Partei in Gedanken schon mal sein Kabinett. Einen Tag vor der Wahl.
Schlafwandler nennt der Autor das politische Personal Thüringens, weil alle Beteiligten unbeirrbar, aber ohne Weitsicht in die Abstimmung taumeln. Die Assoziation mit Christopher Clarks Genese des Ersten Weltkrieges drängt sich auf, aber Debes ist vorsichtig mit historischen Vergleichen, widersteht der Versuchung, zu überhöhen oder zu moralisieren. Selbst in der Beschreibung größten Dilettantismus bleibt er so sachlich, wie es sich für einen Berichterstatter gehört. Die Lakonie ist eine Stärke des Buches, die andere sind die Details, die nicht nur Politik-Nerds freuen werden. Debes weiß, wer wann wem SMS geschickt hat in den langen Nächten vor und nach der Wahl. Dass Ramelow Mohring einen Schutzengel schenkte, als dieser mit dem Krebs rang. Dass es schon 2009 eine Ministerpräsidentinnenwahl im Land gab, die fast schiefging, und zehn Jahre offenbar nicht reichen, um klüger zu werden.
„Demokratie unter Schock“ zeigt den Wert kontinuierlicher Politikbeobachtung, zeugt von leidenschaftlichem Lokaljournalismus. Am Ende steht die Erkenntnis: Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen war vielleicht ein Fanal, zuallererst jedoch ein großes Déjà-vu.
ULRIKE NIMZ
Martin Debes: Demokratie unter Schock. Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte. Klartext-Verlag, Essen 2021. 248 Seiten, 18,95 Euro.
Das Buch bringt Ordnung in das
Chaos von Erfurt, ist unbequem,
macht Motivationen transparent
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2021Die Schlafwandler von Erfurt
Krisenberichterstatter im Parlament: Die kurze Geschichte der Regierung Kemmerich
Am 4. Februar 2020, dem Tag vor der Ministerpräsidentenwahl im Erfurter Landtag, reiste Thomas Kemmerich nach Berlin. Der Landes- und Fraktionschef der FDP traf sich mit Hauptstadtjournalisten, um zu erläutern, warum er vorhatte, in einem eventuellen dritten Wahlgang als Kandidat anzutreten. Ein Reporter des Deutschlandfunks führte ein Interview mit ihm, das aus unbekannten Gründen nicht gesendet wurde. Vielleicht schien Kemmerich, den außerhalb Thüringens damals kaum jemand kannte, nicht wichtig genug fürs nationale Programm.
Martin Debes, der Chefreporter der Thüringer Allgemeinen, zitiert aus dem Interview in seinem Buch über die von Kemmerich ausgelöste Regierungssystemkrise. Der Kandidat im Wartestand, dessen Partei bei der Landtagswahl vom 27. Oktober 2019 die Fünfprozenthürde nur knapp genommen hatte, trug eine lange demokratietheoretische Rechtfertigung seines Unternehmens vor. Es könne "durchaus ein kleinerer Partner im parlamentarischen Gefüge" berufen sein, eine Minderheitsregierung anzuführen: Das Interesse einer Fraktion an der Mehrheitsbildung war nach Kemmerichs Theorie umgekehrt proportional zu ihrer Größe - vielleicht könne das "Bemühen" der Kleinen sogar "versöhnend" wirken.
In den Ohren von Debes verträgt sich das Tondokument schlecht mit den späteren Beteuerungen Kemmerichs, nie an eine Mehrheit gemäß Artikel 70 Absatz 3 der Landesverfassung geglaubt zu haben. Das Buch wartet nicht mit Enthüllungen auf. Debes hat keine Indizien dafür gefunden, dass man die gemeinschaftliche Stimmabgabe von AfD, CDU und FDP im dritten Wahlgang auf eine Absprache zurückführen könnte. Statt einer Komplotttheorie schlägt er "Die Schlafwandler" von Christopher Clark als Modell für die Eigendynamik eines von widerstreitenden Intentionen vorangetriebenen Geschehens vor, dessen Ausgang nicht erwünscht war, aber im entscheidenden Moment in Kauf genommen wurde. In der Chronologie der Februarkrise käme der Verabredung der CDU-Fraktion, geschlossen für Kemmerich zu stimmen, eine ähnliche Bedeutung zu wie 1914 dem Blankoscheck des Deutschen Reiches für Österreich: Der auf dem Papier mächtigste Akteur gab die Initiative aus der Hand und machte sich von seinem Juniorpartner abhängig, beziehungsweise im Fall der CDU von der AfD als dem Partner, der kein Partner sein sollte. Blanko wurde die Zusage der CDU an Kemmerich insofern ausgefertigt, als es keine Verabredung darüber gab, ob er im Fall einer Mehrheit durch AfD-Stimmen die Wahl annehmen oder ausschlagen werde. Auf Twitter verbreitete Mike Mohring, Kemmerichs Amtskollege bei der CDU, ein Foto aus der entscheidenden Fraktionssitzung mit dem aus dem Lateinischen übersetzten Merksatz: "Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende!" Was glaubte Mohring mit der Versendung dieser Sentenz zu tun?
Die AfD genoss paradoxerweise einen strategischen Vorteil, den man mit dem Vergleich mit 1914 nicht mehr erklären kann. Staaten befinden sich in einem Verhältnis zueinander, das dem Naturzustand der politischen Philosophie gleicht. Parlamentarische Parteien dagegen bekämpfen einander nach Regeln, und die wichtigste Regel einer parlamentarischen Verfassung besagt, dass der Versuch der Mehrheitsbildung gemacht werden muss, unabhängig von individuellen Bündnisabsichten. Man mag sich über den Trick empören, dass Björn Höckes AfD-Fraktion einen Strohmann nominierte, um im dritten Wahlgang scheinbar überraschend Kemmerich wählen zu können. Aber bei funktionaler Betrachtung wird man nicht umhinkönnen, Höckes Taktik als systemkonform zu beschreiben: Die AfD tat das, was die parlamentarische Verfassung von den Fraktionen erwartet - sie organisierte eine Mehrheit für eine Regierung in ihrem Sinne. Ein Symptom einer Krise der parlamentarischen Regierungsweise ist es dagegen, dass CDU und - wenn man Kemmerich glaubt, dass er nicht an einen Sieg glaubte - FDP die von ihnen verloren gegebene Abstimmung über den Regierungschef als Gelegenheit für Symbolpolitik nutzten: Um ein Zeichen zu setzen für die Mitte, sammelten sich Mohrings Leute hinter Kemmerich.
Ausführlich stellt Debes als Vorgeschichte der Krise von 2019/20 die Krise von 2014 dar, als der knappe Wahlausgang und der Einzug der AfD in den Landtag schon einmal eine langwierige Regierungsbildung bedingten. Der Rückgriff ist hilfreich für die Einordnung des 5. Februars 2020, weil man Gründe erhält, den Zäsurcharakter dieses Tages zu modifizieren. Instrumente wie Minderheits- und Expertenregierung, die Kemmerich und Höcke, aber auch Ramelow zu verschiedenen Zeitpunkten ins Spiel brachten, waren schon 2014 in den Raum gestellt worden. Es ist das Verdienst des Buches von Debes, ein moralisch und geschichtspolitisch schnell und einfach zu beurteilendes Ereignis geduldig aus der parlamentarischen Praxis herzuleiten. Der Wehrhaftigkeit der Demokratie ist am besten gedient, wenn sie ihr eigenes Funktionieren versteht. PATRICK BAHNERS
Martin Debes: "Demokratie unter Schock". Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte.
Klartext Verlag, Essen 2021. 248 S., br., 18,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krisenberichterstatter im Parlament: Die kurze Geschichte der Regierung Kemmerich
Am 4. Februar 2020, dem Tag vor der Ministerpräsidentenwahl im Erfurter Landtag, reiste Thomas Kemmerich nach Berlin. Der Landes- und Fraktionschef der FDP traf sich mit Hauptstadtjournalisten, um zu erläutern, warum er vorhatte, in einem eventuellen dritten Wahlgang als Kandidat anzutreten. Ein Reporter des Deutschlandfunks führte ein Interview mit ihm, das aus unbekannten Gründen nicht gesendet wurde. Vielleicht schien Kemmerich, den außerhalb Thüringens damals kaum jemand kannte, nicht wichtig genug fürs nationale Programm.
Martin Debes, der Chefreporter der Thüringer Allgemeinen, zitiert aus dem Interview in seinem Buch über die von Kemmerich ausgelöste Regierungssystemkrise. Der Kandidat im Wartestand, dessen Partei bei der Landtagswahl vom 27. Oktober 2019 die Fünfprozenthürde nur knapp genommen hatte, trug eine lange demokratietheoretische Rechtfertigung seines Unternehmens vor. Es könne "durchaus ein kleinerer Partner im parlamentarischen Gefüge" berufen sein, eine Minderheitsregierung anzuführen: Das Interesse einer Fraktion an der Mehrheitsbildung war nach Kemmerichs Theorie umgekehrt proportional zu ihrer Größe - vielleicht könne das "Bemühen" der Kleinen sogar "versöhnend" wirken.
In den Ohren von Debes verträgt sich das Tondokument schlecht mit den späteren Beteuerungen Kemmerichs, nie an eine Mehrheit gemäß Artikel 70 Absatz 3 der Landesverfassung geglaubt zu haben. Das Buch wartet nicht mit Enthüllungen auf. Debes hat keine Indizien dafür gefunden, dass man die gemeinschaftliche Stimmabgabe von AfD, CDU und FDP im dritten Wahlgang auf eine Absprache zurückführen könnte. Statt einer Komplotttheorie schlägt er "Die Schlafwandler" von Christopher Clark als Modell für die Eigendynamik eines von widerstreitenden Intentionen vorangetriebenen Geschehens vor, dessen Ausgang nicht erwünscht war, aber im entscheidenden Moment in Kauf genommen wurde. In der Chronologie der Februarkrise käme der Verabredung der CDU-Fraktion, geschlossen für Kemmerich zu stimmen, eine ähnliche Bedeutung zu wie 1914 dem Blankoscheck des Deutschen Reiches für Österreich: Der auf dem Papier mächtigste Akteur gab die Initiative aus der Hand und machte sich von seinem Juniorpartner abhängig, beziehungsweise im Fall der CDU von der AfD als dem Partner, der kein Partner sein sollte. Blanko wurde die Zusage der CDU an Kemmerich insofern ausgefertigt, als es keine Verabredung darüber gab, ob er im Fall einer Mehrheit durch AfD-Stimmen die Wahl annehmen oder ausschlagen werde. Auf Twitter verbreitete Mike Mohring, Kemmerichs Amtskollege bei der CDU, ein Foto aus der entscheidenden Fraktionssitzung mit dem aus dem Lateinischen übersetzten Merksatz: "Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende!" Was glaubte Mohring mit der Versendung dieser Sentenz zu tun?
Die AfD genoss paradoxerweise einen strategischen Vorteil, den man mit dem Vergleich mit 1914 nicht mehr erklären kann. Staaten befinden sich in einem Verhältnis zueinander, das dem Naturzustand der politischen Philosophie gleicht. Parlamentarische Parteien dagegen bekämpfen einander nach Regeln, und die wichtigste Regel einer parlamentarischen Verfassung besagt, dass der Versuch der Mehrheitsbildung gemacht werden muss, unabhängig von individuellen Bündnisabsichten. Man mag sich über den Trick empören, dass Björn Höckes AfD-Fraktion einen Strohmann nominierte, um im dritten Wahlgang scheinbar überraschend Kemmerich wählen zu können. Aber bei funktionaler Betrachtung wird man nicht umhinkönnen, Höckes Taktik als systemkonform zu beschreiben: Die AfD tat das, was die parlamentarische Verfassung von den Fraktionen erwartet - sie organisierte eine Mehrheit für eine Regierung in ihrem Sinne. Ein Symptom einer Krise der parlamentarischen Regierungsweise ist es dagegen, dass CDU und - wenn man Kemmerich glaubt, dass er nicht an einen Sieg glaubte - FDP die von ihnen verloren gegebene Abstimmung über den Regierungschef als Gelegenheit für Symbolpolitik nutzten: Um ein Zeichen zu setzen für die Mitte, sammelten sich Mohrings Leute hinter Kemmerich.
Ausführlich stellt Debes als Vorgeschichte der Krise von 2019/20 die Krise von 2014 dar, als der knappe Wahlausgang und der Einzug der AfD in den Landtag schon einmal eine langwierige Regierungsbildung bedingten. Der Rückgriff ist hilfreich für die Einordnung des 5. Februars 2020, weil man Gründe erhält, den Zäsurcharakter dieses Tages zu modifizieren. Instrumente wie Minderheits- und Expertenregierung, die Kemmerich und Höcke, aber auch Ramelow zu verschiedenen Zeitpunkten ins Spiel brachten, waren schon 2014 in den Raum gestellt worden. Es ist das Verdienst des Buches von Debes, ein moralisch und geschichtspolitisch schnell und einfach zu beurteilendes Ereignis geduldig aus der parlamentarischen Praxis herzuleiten. Der Wehrhaftigkeit der Demokratie ist am besten gedient, wenn sie ihr eigenes Funktionieren versteht. PATRICK BAHNERS
Martin Debes: "Demokratie unter Schock". Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte.
Klartext Verlag, Essen 2021. 248 S., br., 18,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main