Finanz- und Umweltkrisen haben gezeigt: Die Welt braucht eine neue politische Ordnung. In ihrer Streitschrift entwerfen Michael Hardt und Antonio Negri den Weg dorthin. Inspiriert von den weltweiten Protestbewegungen beschreiben sie das Projekt einer Demokratie von unten: Wenn wir uns den Schulden verweigern, aus der Überwachung befreien, neue Netze politischer Information schaffen und die entleerte repräsentative Demokratie durch lebendige Formen der Beteiligung ersetzen, können wir eine neue Verfassung begründen. Eine, in der Wasser, Banken, Bildung und andere Ressourcen "commons", Gemeingüter sind. Auf diesem Weg können wir die Folgen der Finanzkrise, die drängenden Umweltprobleme und die wachsende soziale Ungleichheit überwinden.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Durchaus enttäuscht ist Rezensentin Tania Martini von der neuen, 120 Seiten kurzen Fibel der "Empire"-Autoren und Multitude-Theoretiker, die sich mit durchschaubaren Tricks davor verwahren, dass ihre "Deklaration" als Manifest angesehen werde, auch wenn der Versuch, jüngere Protestbewegungen wie Occupy zu beschreiben, im Duktus ohne weiteres als Manifest erkennbar ist. Warum solche semantische Verrenkungen? Um einerseits den Protestbewegungen eine hohe, phänomenologische Qualität zuzusprechen und um andererseits die eigene Warte abzusichern, so die leicht griesgrämige Rezensentin, die das alles für Budenzauber zu halten scheint. Auch sachlich hat sie unter Rückgriff auf ein politphilosophisches Begriffsinstrumentarium einiges zu bemäkeln: Die Homogenisierungen der internationalen Protestbewegungen hält sie für fragwürdig, den Forderungen nach einer neuen demokratischen Kultur, in der sich Identitäten und subjektive Verfasstheit elanvoll ab- und überstreifen lassen, begegnet sie skeptisch: Darüber, dass die beiden Philosophen offenbar die historische Konstituierung von Subjektivität aus dem Blick verloren haben und sich eines Machtbegriffs bedienen, der allein auf den Gegensatz zwischen einer schmalen Elite und der breiten Masse abhebt, muss sich Martini am Ende doch sehr wundern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.02.2013In der Schwitzhütte des Diskussionszeltes
Antonio Negri und Michael Hardt streiten für neue Formen der politischen Teilhabe und bleiben doch Antworten schuldig, wie diese umzusetzen sind
Was haben die Proteste des Jahres 2011 von New York, Madrid, Athen, Tel Aviv, Kairo und Tunis miteinander gemein? Nun: alles – wenn man die Spezifika regionalen Aufbegehrens im Hinblick auf die Idee einer zwar heterogenen, aber in ihrem emanzipatorischen Willen verklammerten „Multitude“ als unwesentlich erachtet.
Das postoperaistische Duo Antonio Negri/Michael Hardt, das unter anderem mit den Werken „Empire“ und „Multitude“ in den Nullerjahren eine kontroverse, international geführte Debatte provozierte, hat ein Manifest mit dem Titel „Demokratie! Wofür wir kämpfen“ vorgelegt, das keines sein will, denn „Manifeste verkünden Idealwelten und beschwören ein geisterhaftes Subjekt, das uns dorthin führen soll“. Man darf aber dabei von den nach wie vor angesagten Starintellektuellen Negri und Hardt keine ideologische Anleitung erwarten, denn die Multitude begründe ihre Wahrheiten im Prozess einer fortlaufenden kommunikativen Auseinandersetzung eigenmächtig, horizontal, ohne charismatisches Führungspersonal.
Methodologische Voraussetzung ist bei beiden nach wie vor ein Foucault’sches Machtverständnis. Macht wird als dezentrales Beziehungsgeflecht verstanden, zu welchem kein absolutes Außen existiert. Macht sei immer ein Spannungsverhältnis und insofern auf die Beherrschten angewiesen. Wir seien es, wir, die Multitude, die produktive, auch immateriell arbeitende Menge, die das „Empire“ konstituiere. Zugleich ruhe auf uns die einzige Hoffnung auf dessen Überwindung, der alleinige Garant für Subversion und Gegenmacht.
Negri und Hardt beschreiben nun vier Modi einer neoliberalen Zurichtung, vier Subjektformen, die durch zudringliche Dispositive produziert worden seien und die es durch neue Experimente des Gemeinschaftlichen zu überwinden gelte. Die „Rollen“, die wir heute fatalerweise einnehmen müssten, rubrizieren Negri/Hardt unter den Begriffen „verschuldet“, „vernetzt“, „verwahrt“ und „vertreten“. Als Verschuldete leben wir demnach dauernd auf Pump, unter der Last ständiger Forderungen unserer Gläubiger. Als Vernetzte zerstreuen wir uns in der Masse „toter Information“ auf allen medialen Kanälen. Als Verwahrte durchleuchten wir uns wie im Bentham’schen Panoptikum selbst im Sinne der kontrollierenden Instanzen und leben in Angst vor dem Nächsten, den das System zur Bedrohung stilisiert. Und als Vertretene schließlich geben wir unsere demokratische Teilhabe an ein System ab, das unseren politischen Willen nicht adäquat zu repräsentieren vermag.
Nach dieser schon sehr undifferenzierten Analyse der Gegenwart, die in einem ersten deskriptiven Teil den Anspruch geltend macht, die wahren Verhältnisse in der neoliberalen Gesellschaft offenzulegen, beschwören die Autoren in einem zweiten appellativen Kapitel eine Umcodierung der genannten Subjektformen, gleichsam eine kommunikative Praxis, die gegen das neoliberale Subjekt in „subjektivierender Weise“ wirken soll. Wir werden dann dazu aufgerufen, die ökonomische Verschuldung in eine Ethik des sozialen Schuldens, also der gegenseitigen Hilfeleistung zu überführen, uns von der toten Information, die einem der Bildschirm eingeimpft hat, loszusagen und in direkter Interaktion auf dem Tahrir-Platz oder im Occupy-Zeltlager im „gemeinsamen Handeln der Singularitäten“ lebendige Wahrheit zu produzieren; ferner sollen wir das allgemeine Klima der Angst durch „echte Formen der Sicherheit“ ersetzen und schließlich unsere basisdemokratische Beteiligung gegen eine überkommene Repräsentation profilieren.
Wie das aber genau funktionieren soll, wie wir eine „Ethik des Gemeinsamen“ ausbilden, echte Sicherheitsformen etablieren oder zur direkten Demokratie gelangen können, zur Frage der konkreten Umsetzung also, bleiben Negri und Hardt jede Antwort schuldig. Im dritten Kapitel, das dazu auffordert, eine neue Verfassung von unten zu begründen, beschwören die Autoren unter Verweis auf historische Vorläufer in Südamerika und Beispiele vom Tahrir- bis zum Syntagma-Platz das „Gemeine“, die nicht staatliche Selbstverwaltung. Die Schaffung neuer politischer Strukturen sei dabei „keine leichte Aufgabe“. Es wäre jedoch „eine erste Möglichkeit aus der Erfahrung der besetzten Plätze zu lernen und diese auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen“. Leider kommen die Autoren über sozialromantische Gemeinplätze und die Idealisierung von heterogenen Gruppierungen nicht hinaus, denen sie zwar Methoden, nicht aber klare Inhalte abschauen können. Denn die Ziele der viel beschworenen 99 Prozent, der globalen Multitude von Kairo über New York bis Tel Aviv sind eben so verschieden, dass sie einer kollektiven Willensbildung entgegenwirken. (Zumal die Demonstranten des arabischen Frühlings für eben jene Form der Demokratie auf die Straße gingen, die Negri und Hardt gerne beseitigen möchten.) Das kommunikative Miteinander sollte ferner nicht das einzige Kriterium für beispielhaften Widerstand sein; andernfalls müsste man auch die Gegner der Homo-Ehe und andere Ewiggestrige der geschichtsmächtigen Multitude zurechnen.
Die unfertigen Skizzen einer neuen föderalen Legislative, die Hardt und Negri ins Feld führen, sind inhaltsleer und können das System der repräsentativen Demokratie und der traditionellen Gewaltenteilung nicht im Mindesten infrage stellen. Immer wieder betonen die Autoren, selbst nicht zu wissen, wie sich der Wandel ereignen soll. „Aber wie lassen sich solche demokratischen Gegenkräfte schaffen und woher erhalten sie ihre Macht?“, fragen die beiden und führen aus: „Diese Frage können wir noch nicht beantworten. Aber eines wissen wir: Die Probleme drängen, und die bestehenden Mächte sind unfähig sie zu lösen.“ Aha. Irgendwas muss man also tun, so viel ist sicher, nur das Wie verliert sich im Ungefähren.
In den Protestbewegungen des Jahres 2011 sehen die Autoren eine Multitude am Werk, welche die ursprüngliche biopolitische Zurichtung überwunden habe respektive archetypisch aufzeigen könne, wie es uns „die Kräfte der Rebellion erlauben, die entkräfteten Rollen zu überwinden, die uns die kapitalistische Gesellschaft in der gegenwärtigen Krise zuweist“. In einer Bewegung des organisierten Widerstandes, in der Schwitzhütte des Diskussionszeltes, in der neuen Audimax-Vollversammlung wären wir – also die 99 Prozent – in der Lage, die tief in unseren Körper eingetragen Diskurse und Praktiken des Neoliberalismus zu exorzieren und einen emanzipativen, multitudinalen Körper zu bilden, der frei und gleich entscheidet und dabei sämtliche Unterschiede der ihn konstituierenden Singularitäten in einer Synthese harmonisch zusammenführt.
Es bleibt der Eindruck, dass Negri und Hardt die verschiedensten aktuellen Protestbewegungen instrumentalisieren, um sie ihrem Begriff der Multitude als einer produktiven Ganzheit im Vielen einzuverleiben. Der einzige Mehrwert, der sich aus dieser Streitschrift ableiten lässt, besteht darin, dass Diskussion und lebendige Auseinandersetzung politische Leidenschaften ausbilden, die der Einzelkämpfer vor dem heimatlichen Rechner nicht erahnen kann. Politik braucht ein lebendiges Miteinander; das Zeltlager ist bei Negri und Hardt eine Nachbildung der proletarischen Gemeinschaft von einst. Der französische Bauer sei anders als der heutige Arbeiter seinerzeit eben nicht in der Lage gewesen, ein Klassenbewusstsein auszubilden, weil ihm die direkte Interaktion gefehlt habe.
In „Demokratie! Wofür wir kämpfen“ werfen Revolutionsrentner einen nostalgischen Blick auf junge politische Bewegungen – und kommen zu der nicht sonderlich originellen Erkenntnis, dass Menschen nur gemeinsam etwas bewegen können.
CHRISTOPH DAVID PIORKOWSKI
Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 2013. 127 Seiten, 12,90 Euro.
Die Demonstranten gehen für
jene Demokratie auf die Straße,
welche die Autoren ablehnen
Aktuelle Protestbewegungen
werden in dieser Streitschrift
umstandslos eingemeindet
Politische Aktion braucht ein lebendiges Miteinander. Dessen Bedeutung wird vom Einzelkämpfer vor seinem Rechner leicht unterschätzt.
FOTO: NACHO DOCE/REUTERS
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Antonio Negri und Michael Hardt streiten für neue Formen der politischen Teilhabe und bleiben doch Antworten schuldig, wie diese umzusetzen sind
Was haben die Proteste des Jahres 2011 von New York, Madrid, Athen, Tel Aviv, Kairo und Tunis miteinander gemein? Nun: alles – wenn man die Spezifika regionalen Aufbegehrens im Hinblick auf die Idee einer zwar heterogenen, aber in ihrem emanzipatorischen Willen verklammerten „Multitude“ als unwesentlich erachtet.
Das postoperaistische Duo Antonio Negri/Michael Hardt, das unter anderem mit den Werken „Empire“ und „Multitude“ in den Nullerjahren eine kontroverse, international geführte Debatte provozierte, hat ein Manifest mit dem Titel „Demokratie! Wofür wir kämpfen“ vorgelegt, das keines sein will, denn „Manifeste verkünden Idealwelten und beschwören ein geisterhaftes Subjekt, das uns dorthin führen soll“. Man darf aber dabei von den nach wie vor angesagten Starintellektuellen Negri und Hardt keine ideologische Anleitung erwarten, denn die Multitude begründe ihre Wahrheiten im Prozess einer fortlaufenden kommunikativen Auseinandersetzung eigenmächtig, horizontal, ohne charismatisches Führungspersonal.
Methodologische Voraussetzung ist bei beiden nach wie vor ein Foucault’sches Machtverständnis. Macht wird als dezentrales Beziehungsgeflecht verstanden, zu welchem kein absolutes Außen existiert. Macht sei immer ein Spannungsverhältnis und insofern auf die Beherrschten angewiesen. Wir seien es, wir, die Multitude, die produktive, auch immateriell arbeitende Menge, die das „Empire“ konstituiere. Zugleich ruhe auf uns die einzige Hoffnung auf dessen Überwindung, der alleinige Garant für Subversion und Gegenmacht.
Negri und Hardt beschreiben nun vier Modi einer neoliberalen Zurichtung, vier Subjektformen, die durch zudringliche Dispositive produziert worden seien und die es durch neue Experimente des Gemeinschaftlichen zu überwinden gelte. Die „Rollen“, die wir heute fatalerweise einnehmen müssten, rubrizieren Negri/Hardt unter den Begriffen „verschuldet“, „vernetzt“, „verwahrt“ und „vertreten“. Als Verschuldete leben wir demnach dauernd auf Pump, unter der Last ständiger Forderungen unserer Gläubiger. Als Vernetzte zerstreuen wir uns in der Masse „toter Information“ auf allen medialen Kanälen. Als Verwahrte durchleuchten wir uns wie im Bentham’schen Panoptikum selbst im Sinne der kontrollierenden Instanzen und leben in Angst vor dem Nächsten, den das System zur Bedrohung stilisiert. Und als Vertretene schließlich geben wir unsere demokratische Teilhabe an ein System ab, das unseren politischen Willen nicht adäquat zu repräsentieren vermag.
Nach dieser schon sehr undifferenzierten Analyse der Gegenwart, die in einem ersten deskriptiven Teil den Anspruch geltend macht, die wahren Verhältnisse in der neoliberalen Gesellschaft offenzulegen, beschwören die Autoren in einem zweiten appellativen Kapitel eine Umcodierung der genannten Subjektformen, gleichsam eine kommunikative Praxis, die gegen das neoliberale Subjekt in „subjektivierender Weise“ wirken soll. Wir werden dann dazu aufgerufen, die ökonomische Verschuldung in eine Ethik des sozialen Schuldens, also der gegenseitigen Hilfeleistung zu überführen, uns von der toten Information, die einem der Bildschirm eingeimpft hat, loszusagen und in direkter Interaktion auf dem Tahrir-Platz oder im Occupy-Zeltlager im „gemeinsamen Handeln der Singularitäten“ lebendige Wahrheit zu produzieren; ferner sollen wir das allgemeine Klima der Angst durch „echte Formen der Sicherheit“ ersetzen und schließlich unsere basisdemokratische Beteiligung gegen eine überkommene Repräsentation profilieren.
Wie das aber genau funktionieren soll, wie wir eine „Ethik des Gemeinsamen“ ausbilden, echte Sicherheitsformen etablieren oder zur direkten Demokratie gelangen können, zur Frage der konkreten Umsetzung also, bleiben Negri und Hardt jede Antwort schuldig. Im dritten Kapitel, das dazu auffordert, eine neue Verfassung von unten zu begründen, beschwören die Autoren unter Verweis auf historische Vorläufer in Südamerika und Beispiele vom Tahrir- bis zum Syntagma-Platz das „Gemeine“, die nicht staatliche Selbstverwaltung. Die Schaffung neuer politischer Strukturen sei dabei „keine leichte Aufgabe“. Es wäre jedoch „eine erste Möglichkeit aus der Erfahrung der besetzten Plätze zu lernen und diese auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen“. Leider kommen die Autoren über sozialromantische Gemeinplätze und die Idealisierung von heterogenen Gruppierungen nicht hinaus, denen sie zwar Methoden, nicht aber klare Inhalte abschauen können. Denn die Ziele der viel beschworenen 99 Prozent, der globalen Multitude von Kairo über New York bis Tel Aviv sind eben so verschieden, dass sie einer kollektiven Willensbildung entgegenwirken. (Zumal die Demonstranten des arabischen Frühlings für eben jene Form der Demokratie auf die Straße gingen, die Negri und Hardt gerne beseitigen möchten.) Das kommunikative Miteinander sollte ferner nicht das einzige Kriterium für beispielhaften Widerstand sein; andernfalls müsste man auch die Gegner der Homo-Ehe und andere Ewiggestrige der geschichtsmächtigen Multitude zurechnen.
Die unfertigen Skizzen einer neuen föderalen Legislative, die Hardt und Negri ins Feld führen, sind inhaltsleer und können das System der repräsentativen Demokratie und der traditionellen Gewaltenteilung nicht im Mindesten infrage stellen. Immer wieder betonen die Autoren, selbst nicht zu wissen, wie sich der Wandel ereignen soll. „Aber wie lassen sich solche demokratischen Gegenkräfte schaffen und woher erhalten sie ihre Macht?“, fragen die beiden und führen aus: „Diese Frage können wir noch nicht beantworten. Aber eines wissen wir: Die Probleme drängen, und die bestehenden Mächte sind unfähig sie zu lösen.“ Aha. Irgendwas muss man also tun, so viel ist sicher, nur das Wie verliert sich im Ungefähren.
In den Protestbewegungen des Jahres 2011 sehen die Autoren eine Multitude am Werk, welche die ursprüngliche biopolitische Zurichtung überwunden habe respektive archetypisch aufzeigen könne, wie es uns „die Kräfte der Rebellion erlauben, die entkräfteten Rollen zu überwinden, die uns die kapitalistische Gesellschaft in der gegenwärtigen Krise zuweist“. In einer Bewegung des organisierten Widerstandes, in der Schwitzhütte des Diskussionszeltes, in der neuen Audimax-Vollversammlung wären wir – also die 99 Prozent – in der Lage, die tief in unseren Körper eingetragen Diskurse und Praktiken des Neoliberalismus zu exorzieren und einen emanzipativen, multitudinalen Körper zu bilden, der frei und gleich entscheidet und dabei sämtliche Unterschiede der ihn konstituierenden Singularitäten in einer Synthese harmonisch zusammenführt.
Es bleibt der Eindruck, dass Negri und Hardt die verschiedensten aktuellen Protestbewegungen instrumentalisieren, um sie ihrem Begriff der Multitude als einer produktiven Ganzheit im Vielen einzuverleiben. Der einzige Mehrwert, der sich aus dieser Streitschrift ableiten lässt, besteht darin, dass Diskussion und lebendige Auseinandersetzung politische Leidenschaften ausbilden, die der Einzelkämpfer vor dem heimatlichen Rechner nicht erahnen kann. Politik braucht ein lebendiges Miteinander; das Zeltlager ist bei Negri und Hardt eine Nachbildung der proletarischen Gemeinschaft von einst. Der französische Bauer sei anders als der heutige Arbeiter seinerzeit eben nicht in der Lage gewesen, ein Klassenbewusstsein auszubilden, weil ihm die direkte Interaktion gefehlt habe.
In „Demokratie! Wofür wir kämpfen“ werfen Revolutionsrentner einen nostalgischen Blick auf junge politische Bewegungen – und kommen zu der nicht sonderlich originellen Erkenntnis, dass Menschen nur gemeinsam etwas bewegen können.
CHRISTOPH DAVID PIORKOWSKI
Michael Hardt, Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 2013. 127 Seiten, 12,90 Euro.
Die Demonstranten gehen für
jene Demokratie auf die Straße,
welche die Autoren ablehnen
Aktuelle Protestbewegungen
werden in dieser Streitschrift
umstandslos eingemeindet
Politische Aktion braucht ein lebendiges Miteinander. Dessen Bedeutung wird vom Einzelkämpfer vor seinem Rechner leicht unterschätzt.
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"Hardt und Negri schreiben auf wenigen Seiten sehr kompakt über Repression, Herrschaft, über Occupy und darüber, dass das, was es selbst in den westlichen Industrie- und Zivilisationsländern gibt, nicht als Demokratie begriffen werden darf.", Die Tageszeitung, 11.03.2013