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Noch vor wenigen Jahren sahen alle heute im Bundestag vertretenen Parteien außer der CDU in ihren Partei- oder Wahlprogrammen die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene vor. Das entsprach dem Wunsch einer großen Mehrheit der Bürger. Inzwischen hat sich der Wind der öffentlichen Meinung gedreht. Vor allem das Brexit-Votum der Briten und die Erfolge populistischer Politiker und Parteien in vielen Ländern haben neue Skepsis geweckt, ob man politische Sachentscheidungen wirklich "dem Volk" überlassen kann. Was ist davon zu halten? Haben wir es mit einer Rückkehr zum Realismus oder mit…mehr

Produktbeschreibung
Noch vor wenigen Jahren sahen alle heute im Bundestag vertretenen Parteien außer der CDU in ihren Partei- oder Wahlprogrammen die Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene vor. Das entsprach dem Wunsch einer großen Mehrheit der Bürger. Inzwischen hat sich der Wind der öffentlichen Meinung gedreht. Vor allem das Brexit-Votum der Briten und die Erfolge populistischer Politiker und Parteien in vielen Ländern haben neue Skepsis geweckt, ob man politische Sachentscheidungen wirklich "dem Volk" überlassen kann. Was ist davon zu halten? Haben wir es mit einer Rückkehr zum Realismus oder mit einer Wiederkehr alter, antidemokratischer Vorurteile zu tun? Das Buch geht diesen Fragen nach und zeigt, dass die Chancen und Risiken direkter Demokratie sich nicht ohne genaue Betrachtung der näheren Ausgestaltung beurteilen lassen.Just a few years ago, all parties represented in the Bundestag today except the CDU included in their party or election programs the introduction of referendums at the federal level. This was in line with what a large majority of citizens expressly requested. In the meantime, the winds of public opinion have shifted. Above all, the Brexit vote by the British and the successes of populist politicians and parties in many countries have aroused new skepticism as to whether factual political decisions can really be left to "the people." What are we to make of this? Are we dealing with a return to realism or with a return of old, anti-democratic prejudices? The book explores these questions and shows that the opportunities and risks of direct democracy cannot be assessed without a close look at how it is implemented.
Autorenporträt
Gertrude Lübbe-Wolff ist emeritierte Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld und war von 2002 bis 2014 Bundesverfassungsrichterin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Otfried Höffe, Philosoph und selbst Autor eines Plädoyers "Für ein Europa der Bürger", kann der früheren Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff nur beipflichten, die sich für mehr direkte Demokratie ausspricht. Wenn sie in ihrem Buch die vielen Vorbehalte widerlegt, dann liefert sie gute Argumente, versichert Höffe. Auch das unfair durchgeführte Brexit-Referendum kann dann nicht als Gegenargument herhalten, denn Lübbe-Wolff fordert natürlich mit Volksabstimmungen auch faire Vorbereitungen wie etwa in der Schweiz, wo ein "Abstimmungsbuechli" jeweils die Argumente Pro und Contra vorstellt. In der Sache überzeugt, äußert Höffe allerdings Vorbehalte gegen die Form von Lübbe-Wolffs Buch, das ihm stellenweise zu gelehrt und zu uferlos in seinen Literaturhinweisen erscheint, und die positiven Gründe für mehr direkte Demokratie vielleicht etwas unter Wert verkauft.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.02.2023

Kollektive Klugheit
des Souverän
Mehr direkte Demokratie wagen –
Gertrude Lübbe-Wolffs famose Streitschrift
VON TILMAN ALLERT
Nicht übertrieben wäre es, bei diesem Buch von einer Sensation zu sprechen. Erst dem Untertitel der leicht spleenigen Wortschöpfung „Demophobie“ lässt sich entnehmen, dass hier der Beitrag zu einer brisanten politischen Debatte vorliegt. Gertrude Lübbe-Wolff, ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht, bricht eine Lanze für direktdemokratische Formen der politischen Beteiligung. Keine Angst vor dem Bürger, so lautet ihr Credo.
Mit geschulter Rechtskenntnis und in breit angelegter komparativer Perspektive – Volksbegehren in Costa Rica nicht ausgeschlossen – behandelt Lübbe-Wolff das „Gottseibeiuns“ von Verfechtern des institutionellen Same procedure as every year. Kapitel für Kapitel werden die Einwände diskutiert. Die Bevölkerung sei zu blöd und unwillig, Volksbegehren, Volksbefragungen oder Referenden bildeten den Nährboden für Demagogie, Ja-Nein-Entscheidungen seien zu simpel, allenfalls in Gemeinschaften von der Größe der Schweizer Kantone durchführbar, die Rechtsverbindlichkeit der Partizipationsformen bleibe ungeklärt, um nur einige Vorbehalte zu nennen, die auch aus dem Streit über die Zukunft des Parteienstaats vertraut sind.
Das Buch, „von einer Juristin verfasst, aber kein juristisches Buch“, in seinem üppigen Anmerkungsapparat unverkennbar vom Karlsruher Geist der Begründungsstrenge durchweht, macht Voraussetzungen und Folgen demokratischer Willensbildung zum Thema. Eine Streitschrift, sorgfältig recherchiert, dabei im Gestus zugleich erfrischend kämpferisch und von einer unerschütterlichen aufklärerischen Zuversicht in die Klugheit der Leute unterlegt. Lübbe-Wolff diskutiert anhand historisch brisanter Beispiele. Die Verfahrenslogik des Schweizer Volksbegehrens kommt zur Sprache, die Umstände der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten. Instruktiv sind die Passagen über Volksbefragungen im Zuge der europäischen Einigung, der Brexit zum Beispiel.
Die Argumentation, in ihrer Fundiertheit weitaus mehr als eine Streitschrift, erweist sich im Horizont der durchweg spannend aufbereiteten Einzelfälle als ein demokratietheoretisches Lehrstück. Schließlich geht es dabei um die Frage, wie Sorgen und Anliegen – in der Lebenspraxis der Bürger tagtäglich zu erfahren – in den politischen Handlungsraum zu übersetzen sind: Welche Artikulations- und Durchsetzungschancen haben bürgerschaftliche Anliegen in einer historisch gewachsenen Struktur politischer Entscheidungsfindung, etwa im System der Parteienkonkurrenz? Der Fortschritt ist eine Schnecke, so wurde und wird der Koalitionszwang schulterzuckend kommentiert. Aber wenn es unter den Nägeln brennt – um mit dem Klimawandel nur eines von vielen Problemen zu nennen?
Welche Institutionaliserungswege stehen Innovatoren offen und welche Gefahren der De-Institutionalisierung entstehen, wenn sich Parlament und Regierung, durch regelmäßige Wahlen legitimiert, dem Volkswillen öffnen? Oder wenn das Volk auf die Straße geht, mehr Mitsprache fordert, am „Runden Tisch“ oder anders beteiligt? In den Verfahrensoptionen, die Lübbe-Wolff in einem übersichtlichen Anhang auflistet, lässt sich leicht eine Antwort auf die Frage des Buches finden: Politische Devianz, etwa „Fridays for Future“, eine massenmedial wirksam artikulierte kollektive Kritik an der Sklerotisierung des politischen Systems, ist keineswegs zwangsläufig bedrohlich, vielmehr eine Voraussetzung für institutionelle Innovation.
Denn Insuffizienzen politischer Ordnungen zeigen sich systematisch auf den Ebenen, die schon Max Weber als grundlegend unterschieden hat. Verwaltungsstab und Legitimation bilden die Scharniere des politischen Prozesses. Die Verwaltung, eine Behördenstruktur zieht Tempodrosselung nach sich. Auch die Legitimation, der normative Rahmen eines allgemein geteilten gesellschaftlichen Konsensus ist keineswegs sakrosankt. Der in Wahlen gewährte Vertrauensvorschuss kann bekräftigt oder entzogen werden, abhängig vom Leistungsversprechen derjenigen, die an der Macht sind. Somit ist kontinuierliche Interpretation und Reinterpretation der Wertbezüge, die eine politische Ordnung bestimmen, unabdingbar. Desgleichen gilt für die Verfahrensprinzipien, die den Werten Geltung verschaffen.
Liest man hier also in einem Brevier für soziale Bewegungen, als Kassiber aus den heiligen Hallen der Rechtsrationalität geschmuggelt? Ja und Nein. In modernen Gesellschaften machen direktdemokratische Initiativen zunehmend lauthals von sich reden. Die politische Soziologie diskutiert „Situationsdeutungsgemeinschaften“ (Birgitta Nedelmann), kollektive Bewegungen, die im Unterschied zu schwerfälligen Strukturorganisationen, „Catch-all“-Parteien und lobby-orientierten Verbänden, issue-orientiert handeln. Sie können erfindungsreich, thematisierungsflexibel Anliegen auf die politische Agenda treiben. Die Arbeit von Lübbe-Wolff verschafft ihnen Gehör, wobei ihre Argumentation natürlich voraussetzt, dass repräsentativdemokratische politische Systeme über eine eingebaute relative Flexibilität verfügen. Dringend geboten hält die Autorin, über die Institutionalisierung alternativer Entscheidungsformen nachzudenken, die der drohenden Sklerotisierung des politischen Apparats entgegenwirken könnten.
Ungebrochen optimistisch hält das Buch der vielerorts verbreiteten Furcht vor populistischen Auswüchsen das Argument entgegen, dass Systeme nur gewinnen können, wenn sie fallweise die kollektive Klugheit des Souveräns in Anspruch nehmen. Gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich nicht einhegen, aber gewiss braucht die historisch gewachsene Gestalt des Demos Toleranzspielräume für politisch artikulierte Devianz und Nonkonformität. In der eingebauten Flexibilität liegt das Geheimnis der Repräsentativdemokratie, die auf der Seite der Bevölkerung den Typus des „wohlinformierten Staatsbürgers“ (Alfred Schütz) unterstellt. Das optimistische Pathos ihrer Argumentation aufgreifend, würde die Autorin die demokratische Ordnung wohl um die Idee des „wohl vertretenen Staatsbürgers“ ergänzen, in vielversprechenden Vorschlägen umgesetzt. Es kommt auf die nähere Ausgestaltung an, und die Demophobie bliebe nicht mehr als ein Gespenst.
Beeindruckend ist der Mut, mit dem die Autorin ein heikles Thema aufgreift. Der Populismus-Vorwurf liegt auf der Hand, aber von dergleichen ist die Argumentation meilenweit entfernt, handelt es sich doch bei den Vorschlägen um durchweg bedenkenswerte Ideen, der Interdependenz institutionalisierter Entscheidungslogiken und Initiativen aus dem vorpolitischen Raum eine stärkere Aufmerksamkeit zu widmen – for the sake of democracy. Lübbe-Wolff betont die Wechselwirkung, erhofft sich hingegen von Partizipationsausweitung eine höhere Elastizität des politischen Systems. Sie setzt dabei in ungebrochen optimistisch aufklärerischem Gestus auf das Argument einer Zivilisierung des Souveräns durch verstärkte fallweise Inanspruchnahme seiner Klugheit.
Tilman Allert lehrte Soziologie an der Goethe Universität Frankfurt.
Die ehemalige Richterin
am Bundesverfassungsgericht
argumentiert nach Karlsruher Art
Der Populismus-Vorwurf
liegt auf der Hand, doch selten
war ein Vorwurf unzutreffender
Gertrude Lübbe-Wolff: Demophobie.
Muss man die direkte Demokratie fürchten? Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 2023. 212 Seiten, 24,80 Euro.
Keine Angst vor dem Volk: Eine „Fridays for Future“-Demonstrantin im 2019 in Berlin. Im Hintergrund das Reichstagsgebäude, wo die Parlamentarier gern den Alleinvertretungsanspruch zelebrieren.
Foto: Regina Schmeken
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023

Nicht schimpfen, sondern mitentscheiden

Gut gegen vulgäre Elitenverachtung: Gertrude Lübbe-Wolff wägt Empirie, Behauptungen und Argumente in Sachen direkte Demokratie.

Von Jürgen Kaube

Die Demokratie hält sich zugute, dass in ihr das Volk herrsche. Tatsächlich werden in Wahlen Volksvertreter bestimmt, die dann im Parlament auf eigentümliche Weise das Volk repräsentieren sollen: einerseits das ganze Volk, andererseits ihre Wähler im Wahlkreis, außerdem ihre Fraktion und mitunter dann auch noch ihr Gewissen. Es ist also kompliziert mit der Volksvertretung und wird nicht einfacher, wenn Wahlrechtsreformen dafür sorgen, dass womöglich direkt gewählte Abgeordnete nicht mehr in den Bundestag kommen. So oder so sind die Wähler, was inhaltliche Fragen des politischen Entscheidens angeht, auf die Berufspolitiker und ihre Kompromisse verwiesen. Das kann man aus vielen Gründen gut finden, Volksherrschaft ist es nicht. Wäre sie überhaupt möglich? In der Analyse unserer Staatsform wird zwischen direkter und repräsentativer Demokratie unterschieden. Erstere ist eine punktuelle Form des politischen Entscheidens. Zu einzelnen, besonders kontroversen Sachfragen werden Volksabstimmungen abgehalten. Die Bielefelder Juristin und ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht Gertrude Lübbe-Wolff geht nun der Frage nach, weshalb wir so viel Volksvertretung und so wenig direkte Demokratie haben. Vor allem auf der Bundesebene ist das so. Weder der Atomausstieg noch die Einwanderungspolitik, weder der Euro noch ein Tempolimit sind in Volksabstimmungen zur Diskussion gestellt worden. Kommunal und auf Länderebene kennen wir Referenden: Der Oberbürgermeister von Frankfurt wurde in einem solchen Akt (keine Sach-, sondern eine Personalfrage) abgewählt, die schnelle Klimaneutralität drang in Berlin nicht durch, in Hamburg wurde eine Schulreform auf direktdemokratischem Wege zu Fall gebracht, und in Bayern hat ein Volksbegehren ("Rettet die Bienen") für grundlegende Änderungen des Naturschutzgesetzes gesorgt. Doch im Bund gibt es keine verfassungsgemäße Möglichkeit für Volksabstimmungen. Und das, obwohl alle Parteien außer der CDU in ihren Programmen lange Zeit die Stärkung direktdemokratischer Verfahren für wünschbar erklärten. Inzwischen sind sie davon abgerückt. Übrig geblieben ist die Absicht, Bürgerräte einzuführen, die aber nur die Menge unverbindlicher Empfehlungen erhöhen würden, was dann als Partizipation verkauft wird. Vor allem die Grünen und die FDP, die aus dem Geist der Bürgerinitiative und des Liberalismus einst für stärkere Bürgerbeteiligung waren, haben sich kleinlaut aus diesem Feld zurückgezogen. Man redet von mehr Dialog mit den Bürgern, traut ihnen aber keine Entscheidungen in Sachfragen zu. Lübbe-Wolff untersucht die Gründe dieser Furcht. Sie reichen von der Sorge, das Volk würde irrational zu Dingen urteilen , von denen es nichts versteht, über die daran anschließende Befürchtung, Volksabstimmungen begünstigten Demagogen, insbesondere solche, die viel Werbung für ihre Sache schalten können, bis zum angeblichen Befund, an Volksentscheiden beteiligten sich nur wenige politisch Interessierte oder Wutbürger und also hätten sie unsoziale Ergebnisse. Das völlig transparent und argumentativ dicht geschriebene Buch versammelt so ziemlich alles, was es an Forschung zu diesen Behauptungen gibt. Volksabstimmungen in Bolivien, Polen und Kanada werden ebenso herangezogen wie die reiche Literatur zur Schweizer Demokratie, zu den Vereinigten Staaten und zum Brexit. Dessen Schatten liegt über der gegenwärtigen Diskussion, obwohl es sich keinesfalls um ein Volksbegehren, sondern um die "von oben" aufgeworfene Volksbefragung eines ungeschickten Premierministers handelte, der sich mit dem irrtümlich erwarteten Ergebnis seine Wiederwahl zu sichern hoffte. In der Abstimmungskampagne wurde dann gelogen, dass sich die Balken bogen, was in der Schweiz zum Ungültigwerden eines solchen Referendums geführt hätte. Der Brexit ist insofern für Lübbe-Wolff nicht mehr als ein Beispiel, wie direkte Demokratie keinesfalls organisiert werden sollte: nicht von oben, nicht ohne Regeln, nicht nur dreimal in achthundert Jahren Parlamentarismus und nicht ohne Klarheit über die Folgen ihrer Entscheidung. Als die Schotten über ihre Unabhängigkeit entschieden, war das Handbuch, das die Folgen auflistete, tausend Seiten stark, beim Brexit hingegen gehörten unwahre Aufschriften auf Nahverkehrsbussen zu den einflussreichsten Texten. In vielen Staaten, in denen es direkte Demokratie gibt, ist man sich solcher Bedingungen für ihre sinnvolle Einrichtung bewusst. Entsprechend ist dort geregelt, wie über die Sachfrage informiert wird, in welchem Umfang Kampagnen möglich sind, ob Gegenentwürfe zugelassen werden, wie viel Geld im Spiel sein darf und welche Wahlbeteiligungen erforderlich sind. Im Saarland müsste die Hälfte der Stimmberechtigten zur Urne gehen, um ein einfaches Gesetz zu ändern, in Paris reichten gerade acht Prozent, um die E-Scooter per Volksentscheid aus dem Verkehr zu ziehen. Es hat also wenig Sinn, pauschal von direkter Demokratie zu sprechen. Der zweite Fehler, den man in der Diskussion dieses Entscheidungsverfahrens machen kann, ist für Lübbe-Wolff der Idealvergleich. Das Volk sei zu dumm, um über komplexe Materien zu entscheiden. Aber zu dumm, um Abgeordnete zu wählen, ist es nicht? Und auch verglichen mit Andreas Scheuer, Wolfgang Kubicki, Sevim Dagdelen oder Tino Chrupalla soll es nicht urteilsfähig genug sein? Es hat, mit anderen Worten, wenig Sinn, sich ein ideales Bild vom Parlament, seiner Rationalität, Unbestechlichkeit und Weitsicht zu machen und es dann mit beliebigen Vorstellungen über Volksbegehren zu vergleichen. Aus der Luft gegriffen ist beispielsweise, dass die Staatsausgaben dort wachsen, wo das Volk finanzwirksam entscheidet. Die Schuldenbremse ist in der Schweiz mit einer Mehrheit von knapp 85 Prozent eingeführt worden. Umgekehrt wurde die Todesstrafe, von der befürchtet wird, Volksabstimmungen könnten sie wieder einführen, und die bis 2017 in der hessischen Verfassung vorgesehen war, per Volksentscheid mit einer Mehrheit von 83 Prozent abgeschafft. Verfassungswidrige Volksbegehren können zwar angenommen werden, bleiben aber verfassungswidrig. In der Schweiz haben die Bürger zunächst für ein strengeres Ausweisungsrecht gestimmt, um sich danach gegen seine völkerrechtswidrige Durchsetzung zu wenden. Die Autorin nimmt sich jedes Arguments gegen Volksabstimmungen an. Und sie verzeichnet knapp ihre Vorzüge. Fest geschnürte Politikpakete - "Du gibst mir die Hotelsteuer, dafür belassen wir es bei der Praxisgebühr" - können aufgelöst werden. Der Druck auf den parlamentarischen Prozess, sich enger an den Präferenzen von Bürgern zu orientieren, erhöht sich. Fehlerkorrekturen sind leichter möglich, weil Gesichtswahrung keine Rolle spielt. Das Niveau der politischen Kommunikation wird erhöht. Vor allem aber: Demokratie plus Misstrauen ins Volk ist eine gefährliche Option. Nicht zuletzt wäre mehr direkte Demokratie eine Medizin gegen die vulgäre Elitenverachtung: nicht schimpfen, sondern mitentscheiden. Um mit Lübbe-Wolff zu schließen, die eine hervorragende Einführung in die Demokratie geschrieben hat: "Die wirksamste Verantwortung besteht darin, dass man die Suppe, die man sich eingebrockt hat, auch auslöffeln muss. Die selbst eingebrockte Suppe schmeckt dann im Zweifel auch nicht ganz so übel, wie wenn andere, zum Beispiel gewählte Politiker, sie angerührt hätten." Gertrude Lübbe-Wolff: "Demophobie". Muss man die direkte Demokratie fürchten? Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2023. 212 S., br., 24,80 Euro.

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