Enni wächst naturnah auf, zwischen Buddha im Meditationsraum und Christus an der Wand, dem alternativen Vater, der tüchtigen Mutter und einer frömmelnden Großmutter, die mit im Hause wohnt. Alle nur möglichen Tiere bevölkern den großen Garten, werden benannt und versorgt, die Welt könnte in Ordnung sein, aber sie ist es für Enni ganz und gar nicht. Der Roman einer Kindheit, den Sandra Hoffmann mit ihrem zweiten Buch vorlegt, erzählt von Zwang und dem Unheimlichen inmitten einer liebevoll entworfenen Alltagsszenerie zwischen Schule, Ballettunterricht und Kinderfreundschaften, in die sich bald die Riten einer erwachenden Sexualität mischen.
Doch dieses Erwachen ist für Enni ein böses. Sie beginnt zu hungern.
Detailgenau und mit einem wunderbaren Blick für den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben und für die Abgründe einer scheinbar heilen Familie erzählt Sandra Hoffmann von den Gefährdungen einer Kindheit in der so behüteten Gegenwart und davon, wie Enni sie zu meistern lernt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Doch dieses Erwachen ist für Enni ein böses. Sie beginnt zu hungern.
Detailgenau und mit einem wunderbaren Blick für den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenleben und für die Abgründe einer scheinbar heilen Familie erzählt Sandra Hoffmann von den Gefährdungen einer Kindheit in der so behüteten Gegenwart und davon, wie Enni sie zu meistern lernt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2004Symbole machen auch dick
Schneckenhaus: Sandra Hoffmanns Roman über eine Magersüchtige
Magersucht ist eine rätselhafte Sucht. Spielt hier doch gerade keine körperliche Abhängigkeit von einem Stoff eine Rolle. Magersüchtige sind laut Statistik jung, hübsch, wohlhabend, eher weiblich und nicht selten überdurchschnittlich intelligent. Sie haben also nach gängigem Verständnis keinen Grund, sich von der Welt und ihren Sinnenfreuden fernzuhalten. Doch genau das tun Magersüchtige. Anders als alle anderen Junkies hegen sie keinen Wunsch nach einem Mehr, sondern - umgekehrt - nach einem Weniger. Immerhin jeder fünfte Erkrankte, so schätzt man, hungert sich dabei buchstäblich zu Tode. Das macht die Magersucht zur wohl provokantesten Verweigerungsgeste einer Wohlstandsgesellschaft, die Lebensglück vorrangig als Genußerlebnis propagiert.
Im Akt der radikalen Selbstkasteiung liegt ein ungeheurer Affront, der Angehörige und Therapeuten gleichermaßen hilflos macht. Letztere deuten die Magersucht in der Regel als Trotzreaktion auf einen familiären Konflikt. Eine Sichtweise, der auch Sandra Hoffmann in ihrem ersten Roman folgt. Die Tübinger Autorin verschiebt allerdings die psychologische Standarddiagnose, wonach die psychosomatische Krankheit stets eine Revolte des Kindes gegen seine Eltern ist, hier in die vorherige Generation. Nicht Mutter oder Vater sind in ihrer Geschichte die Übermächtigen. Es ist vielmehr eine allgegenwärtige Großmutter.
Anders als bei anderen deutschen Autorinnen, die in letzter Zeit über Eßstörungen geschrieben haben, wie etwa Karen Duve oder Kerstin Grether, gewinnt man bei der gelernten Heimerzieherin Sandra Hoffmann, die selbst einmal in der Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, schnell den Eindruck, daß sie für ihr Romandebüt weniger aus eigener Erfahrung als aus dem Psychologiebuch geschöpft hat. Schon von der Symptomatik her wirkt ihre magersüchtige Heldin Anja Demuth, genannt "Enni", wie ein typischer Fall: Enni friert ständig, mag keine Berührungen, hat eine aussetzende Menstruation, zählt zwanghaft Kalorien und leidet schließlich unter einer derart verzerrten Selbstwahrnehmung, daß sie sogar noch bei 36 Kilogramm Körpergewicht "Fett an ihren Oberschenkeln" entdeckt.
Darüber hinaus paßt Hoffmanns Protagonistin aber vor allem von ihrer Persönlichkeit und Herkunft her exakt ins Krankheitsschema. Enni, so erfährt man, stammt aus einer gutbürgerlichen Familie mit zwei berufstätigen Eltern und einem jüngeren Bruder. Sie besucht ein Gymnasium, gilt bei Lehrern als hoch begabt, hat Freundinnen und Verehrer und ist eine äußerst ehrgeizige Ballett-Tänzerin - ein Mädchen also, das auf den ersten Blick alles problemlos im Griff zu haben scheint, wie Magersüchtige ja meistens auf andere wirken. Als Enni mit sechzehn Jahren schließlich so dramatisch an Gewicht verloren hat, daß sie in eine Klinik eingewiesen werden muß, können sich das weder ihre Eltern noch ihre Freundinnen und Lehrer erklären. "Ist es denn unsere Schuld?" fragt der Vater ratlos.
Diese Frage würde der Leser den Eltern an dieser Stelle, etwa der Mitte des Romans, sicher nicht mehr stellen. Schließlich weiß er bis dahin längst, daß hinter der Fassade des heilen Familienlebens der siebziger und achtziger Jahre tatsächlich so manches für die kleine Enni schieflief, obwohl sich der nüchtern-personale Erzähltonfall bewußt mit Wertungen zurückhält. Es liegt vielmehr an einer arg sinnschweren Psychosymbolik, mit der die Autorin noch einmal Ennis Kindheit nacherzählt. Da liest man dann etwa, daß sich die Grundschülerin die Haare einst zur "Jungenfrisur" schneiden ließ, bezeichnenderweise "so kurz wie die von Joschi", dem Bruder - ein überdeutlicher Hinweis auf ihre Eifersucht, weil der hautkranke Bruder von der Mutter bevorzugt behandelt wurde.
Oder man erfährt, daß sie als kleines Mädchen ausgerechnet Schnecken gleich massenhaft in Einmachgläsern einsammelte. Plakativer kann man den eigenen Wunsch, sich ins Schneckenhaus zu verkriechen, kaum äußern. Vor allem aber wird man früh darüber informiert, daß das Mädchen nicht nur ihr Zimmer, sondern manchmal sogar das Bett mit besagter Großmutter teilen mußte. Spätestens hier klingeln natürlich alle therapeutischen Alarmglocken - eine inzestuöse Verbindung liegt nahe, zumal Hoffmann diese Oma im folgenden auch noch geradezu wie die Idealverkörperung des deutschen Vergangenheitskomplexes schildert. Nämlich nicht genug, daß sie viel betet und straft, der Enkelin die ersten "Bravo"-Hefte klaut und sogar im Tagebuch des Mädchens spioniert. Sie schweigt auch stur zu ihrer eigenen Biographie. Immer wieder bleiben die Fragen Ennis und ihrer Mutter nach dem unbekannten Großvater unbeantwortet.
Das einzige, was man von dieser unheimlichen Großmutter aus der Kriegs- und Nazizeit erfährt, ist, daß sie irgendwann schwanger wurde, "nachdem ihr Bräutigam im Krieg gefallen war". Der dunkle Schatten einer ungeklärten Herkunft lastet folglich wie ein "böser Geist" über Ennis Familie; Enni entwickelt eine regelrechte Angstneurose. Schon die Zehnjährige fürchtet sich nämlich vor so ziemlich allem, was sich überhaupt nur denken läßt. Sie hat Angst vor Gift und vor dem Verschlucken, Angst vor Krankheiten und dem lieben Gott, Angst vor dem Tod der Eltern, der Großmutter und dem Tod Joschis oder daß sie selbst nicht mehr aufwacht. Daß die spätere Magersucht dann ebenfalls mit der übergriffigen Großmutter erklärt wird, kann bei so viel Hinweisen auf ein frühkindliches Trauma natürlich nicht mehr überraschen. Enni, so heißt es, fängt an zu hungern, weil sie in ihrem Bauch bloß "kein Platz für ein Kind lassen" möchte, also bloß nicht ebenso ungewollt schwanger werden will wie einst ihre Oma.
Ein unverdauter Knacks aus der Vergangenheit, der noch nach Generationen seine fatale Dynamik entfaltet - das mag eine stimmig-psychologische Erklärung für eine Magersucht abgeben, deren Verlauf von der fixen Idee bis zum Wahn Hoffmann durchaus eindringlich zu schildern vermag. Dennoch wirkt ihre Debütgeschichte einfach zu konstruiert und vor allem viel zu gut gemeint, da sie für das - eindeutige - Opfer Enni beim Leser Verständnis wecken soll. Darin erinnert dieser Roman dann doch eher an jene Taschenbücher über Jugendprobleme, die man als Teenager in den Achtzigern gern von seinen Eltern oder Lehrern geschenkt bekam, geschrieben zweifellos mit den allerbesten Absichten. Aber so richtig spannend waren die nie.
GISA FUNCK
Sandra Hoffmann: "Dem Himmel zu Füßen". Roman. Verlag C. H. Beck, München 2004. 159 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schneckenhaus: Sandra Hoffmanns Roman über eine Magersüchtige
Magersucht ist eine rätselhafte Sucht. Spielt hier doch gerade keine körperliche Abhängigkeit von einem Stoff eine Rolle. Magersüchtige sind laut Statistik jung, hübsch, wohlhabend, eher weiblich und nicht selten überdurchschnittlich intelligent. Sie haben also nach gängigem Verständnis keinen Grund, sich von der Welt und ihren Sinnenfreuden fernzuhalten. Doch genau das tun Magersüchtige. Anders als alle anderen Junkies hegen sie keinen Wunsch nach einem Mehr, sondern - umgekehrt - nach einem Weniger. Immerhin jeder fünfte Erkrankte, so schätzt man, hungert sich dabei buchstäblich zu Tode. Das macht die Magersucht zur wohl provokantesten Verweigerungsgeste einer Wohlstandsgesellschaft, die Lebensglück vorrangig als Genußerlebnis propagiert.
Im Akt der radikalen Selbstkasteiung liegt ein ungeheurer Affront, der Angehörige und Therapeuten gleichermaßen hilflos macht. Letztere deuten die Magersucht in der Regel als Trotzreaktion auf einen familiären Konflikt. Eine Sichtweise, der auch Sandra Hoffmann in ihrem ersten Roman folgt. Die Tübinger Autorin verschiebt allerdings die psychologische Standarddiagnose, wonach die psychosomatische Krankheit stets eine Revolte des Kindes gegen seine Eltern ist, hier in die vorherige Generation. Nicht Mutter oder Vater sind in ihrer Geschichte die Übermächtigen. Es ist vielmehr eine allgegenwärtige Großmutter.
Anders als bei anderen deutschen Autorinnen, die in letzter Zeit über Eßstörungen geschrieben haben, wie etwa Karen Duve oder Kerstin Grether, gewinnt man bei der gelernten Heimerzieherin Sandra Hoffmann, die selbst einmal in der Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, schnell den Eindruck, daß sie für ihr Romandebüt weniger aus eigener Erfahrung als aus dem Psychologiebuch geschöpft hat. Schon von der Symptomatik her wirkt ihre magersüchtige Heldin Anja Demuth, genannt "Enni", wie ein typischer Fall: Enni friert ständig, mag keine Berührungen, hat eine aussetzende Menstruation, zählt zwanghaft Kalorien und leidet schließlich unter einer derart verzerrten Selbstwahrnehmung, daß sie sogar noch bei 36 Kilogramm Körpergewicht "Fett an ihren Oberschenkeln" entdeckt.
Darüber hinaus paßt Hoffmanns Protagonistin aber vor allem von ihrer Persönlichkeit und Herkunft her exakt ins Krankheitsschema. Enni, so erfährt man, stammt aus einer gutbürgerlichen Familie mit zwei berufstätigen Eltern und einem jüngeren Bruder. Sie besucht ein Gymnasium, gilt bei Lehrern als hoch begabt, hat Freundinnen und Verehrer und ist eine äußerst ehrgeizige Ballett-Tänzerin - ein Mädchen also, das auf den ersten Blick alles problemlos im Griff zu haben scheint, wie Magersüchtige ja meistens auf andere wirken. Als Enni mit sechzehn Jahren schließlich so dramatisch an Gewicht verloren hat, daß sie in eine Klinik eingewiesen werden muß, können sich das weder ihre Eltern noch ihre Freundinnen und Lehrer erklären. "Ist es denn unsere Schuld?" fragt der Vater ratlos.
Diese Frage würde der Leser den Eltern an dieser Stelle, etwa der Mitte des Romans, sicher nicht mehr stellen. Schließlich weiß er bis dahin längst, daß hinter der Fassade des heilen Familienlebens der siebziger und achtziger Jahre tatsächlich so manches für die kleine Enni schieflief, obwohl sich der nüchtern-personale Erzähltonfall bewußt mit Wertungen zurückhält. Es liegt vielmehr an einer arg sinnschweren Psychosymbolik, mit der die Autorin noch einmal Ennis Kindheit nacherzählt. Da liest man dann etwa, daß sich die Grundschülerin die Haare einst zur "Jungenfrisur" schneiden ließ, bezeichnenderweise "so kurz wie die von Joschi", dem Bruder - ein überdeutlicher Hinweis auf ihre Eifersucht, weil der hautkranke Bruder von der Mutter bevorzugt behandelt wurde.
Oder man erfährt, daß sie als kleines Mädchen ausgerechnet Schnecken gleich massenhaft in Einmachgläsern einsammelte. Plakativer kann man den eigenen Wunsch, sich ins Schneckenhaus zu verkriechen, kaum äußern. Vor allem aber wird man früh darüber informiert, daß das Mädchen nicht nur ihr Zimmer, sondern manchmal sogar das Bett mit besagter Großmutter teilen mußte. Spätestens hier klingeln natürlich alle therapeutischen Alarmglocken - eine inzestuöse Verbindung liegt nahe, zumal Hoffmann diese Oma im folgenden auch noch geradezu wie die Idealverkörperung des deutschen Vergangenheitskomplexes schildert. Nämlich nicht genug, daß sie viel betet und straft, der Enkelin die ersten "Bravo"-Hefte klaut und sogar im Tagebuch des Mädchens spioniert. Sie schweigt auch stur zu ihrer eigenen Biographie. Immer wieder bleiben die Fragen Ennis und ihrer Mutter nach dem unbekannten Großvater unbeantwortet.
Das einzige, was man von dieser unheimlichen Großmutter aus der Kriegs- und Nazizeit erfährt, ist, daß sie irgendwann schwanger wurde, "nachdem ihr Bräutigam im Krieg gefallen war". Der dunkle Schatten einer ungeklärten Herkunft lastet folglich wie ein "böser Geist" über Ennis Familie; Enni entwickelt eine regelrechte Angstneurose. Schon die Zehnjährige fürchtet sich nämlich vor so ziemlich allem, was sich überhaupt nur denken läßt. Sie hat Angst vor Gift und vor dem Verschlucken, Angst vor Krankheiten und dem lieben Gott, Angst vor dem Tod der Eltern, der Großmutter und dem Tod Joschis oder daß sie selbst nicht mehr aufwacht. Daß die spätere Magersucht dann ebenfalls mit der übergriffigen Großmutter erklärt wird, kann bei so viel Hinweisen auf ein frühkindliches Trauma natürlich nicht mehr überraschen. Enni, so heißt es, fängt an zu hungern, weil sie in ihrem Bauch bloß "kein Platz für ein Kind lassen" möchte, also bloß nicht ebenso ungewollt schwanger werden will wie einst ihre Oma.
Ein unverdauter Knacks aus der Vergangenheit, der noch nach Generationen seine fatale Dynamik entfaltet - das mag eine stimmig-psychologische Erklärung für eine Magersucht abgeben, deren Verlauf von der fixen Idee bis zum Wahn Hoffmann durchaus eindringlich zu schildern vermag. Dennoch wirkt ihre Debütgeschichte einfach zu konstruiert und vor allem viel zu gut gemeint, da sie für das - eindeutige - Opfer Enni beim Leser Verständnis wecken soll. Darin erinnert dieser Roman dann doch eher an jene Taschenbücher über Jugendprobleme, die man als Teenager in den Achtzigern gern von seinen Eltern oder Lehrern geschenkt bekam, geschrieben zweifellos mit den allerbesten Absichten. Aber so richtig spannend waren die nie.
GISA FUNCK
Sandra Hoffmann: "Dem Himmel zu Füßen". Roman. Verlag C. H. Beck, München 2004. 159 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
An Sandra Hoffmanns schriftstellerischem Potenzial zweifelt Rezensentin Sibylle Birrer nicht. Der neue Roman, in dem die Autorin das Erwachsenwerden eines jungen Mädchens schildert und der in die Geschichte einer Magersucht mündet, hat sie dennoch nicht überzeugt. Zwar greife die Autorin damit eine "literarisch kaum behandelte Erkrankung an der Gegenwart" auf, doch sie liefere "im Subtext" ihre persönlichen Begründungen für die "Irrationalität" des magersüchtigen Verhaltens mit, ohne diese jedoch "schlüssig" zu erklären. Auch das Ende ist für den Geschmack der Kritikerin etwas zu "diffus" und treibt sie zu der Annahme, dass Hoffmanns Mut zur "radikalen Imagination" parallel zur "Körperhaftigkeit" ihrer Protagonistin "schwindet". Ein Buch, das "zuweilen kunstvoll poetisch" daherkommt, die eigentlichen Fähigkeiten der Autorin jedoch nicht annähernd ausdrückt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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