Umwege sind die direktesten Wege zum Zentrum. Das neue Werk von Peter Sloterdijk ist ein Beleg für diese These: Außerhalb der Aktualität angesiedelt, handelt Theopoesie, auf den ersten Blick betrachtet, von den in der Bibliothek der Menschheit gespeicherten Versuchen, Gott oder die Götter zum Sprechen zu bringen: entweder reden sie unmittelbar selbst oder sie werden von den Dichtern mittelbar in ihrem Tun und Denken wiedergegeben. Damit ist für Sloterdijk die Einsicht unausweichlich: Religionen berufen sich in ihren theopoetischen Gründungsdokumenten auf mehr oder weniger elaborierte literarische Verfahren, auch wenn die begleitende Dogmatik dazu dient, diese Tatsache vergessen zu machen. Religionen sind »literarische Produkte, mit deren Hilfe die Autoren um Klienten auf dem engen Markt der Aufmerksamkeit von Gebildeten konkurrieren«.
Ein Studium der poetischen Stilmittel, deren sich die Religionen in ihren Narrativen bedienen, erfordert eine Neubewertung der Religionen, die die Karl Marx'schen Thesen hinter sich lässt. Elemente einer Kritik literarischer Darstellungsformen als Kritik dogmatischer wie theologischer Dokumente im Durchgang durch die Geschichte trägt Sloterdijk also mit seiner stupenden Belesenheit zusammen - und gelangt so in den Glutkern der Gegenwart, in der Narrative oder Fakten und alternative Fakten einander bekämpfen.
Ein Studium der poetischen Stilmittel, deren sich die Religionen in ihren Narrativen bedienen, erfordert eine Neubewertung der Religionen, die die Karl Marx'schen Thesen hinter sich lässt. Elemente einer Kritik literarischer Darstellungsformen als Kritik dogmatischer wie theologischer Dokumente im Durchgang durch die Geschichte trägt Sloterdijk also mit seiner stupenden Belesenheit zusammen - und gelangt so in den Glutkern der Gegenwart, in der Narrative oder Fakten und alternative Fakten einander bekämpfen.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Ingo Arend lauscht Gott mit dem neuen Buch von Peter Sloterdijk. Der Philosoph listet hier jene "intermedialen Schaltstellen" auf, durch die Gott zu den Menschen sprach, erklärt der Kritiker. So liest er hier vom Engel im brennenden Busch im Buch Mose, von der altisraelischen Bundeslade oder vom "theologeion" im antiken Theater. Darüber hinaus besticht das Buch für ihn aber auch durch die "nachsichtige Ironie", die der Polemik des Religionskritikers gewichen sei: Religion verstehe Sloterdijk nun mehr als "Rest des Prozesses der Säkularisierung", klärt Arend auf, der den "intellektuellen Kreuzweg" dieses Buches schon aufgrund der Lesefreundlichkeit, Spannung und Quellenfülle gern auf sich genommen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2020Was Kirchen in der Spätmoderne zufällt
Peter Sloterdijk schlängelt sich durch die Religionsgeschichte und kommt doch noch bei einer triftigen Diagnose an
Jeder hat eine zweite Chance verdient, auch wenn es darum geht, ein Buch über Religion zu schreiben. Pünktlich zum Reformationsjubiläum hatte Peter Sloterdijk unter dem apodiktischen Titel "Nach Gott" eine arg nachlässige Sammlung älterer Texte als Buch veröffentlicht - eine Lustlosigkeit auf über dreihundert Seiten (F.A.Z. vom 27. Juli 2017). Nun aber, drei Jahre später, unternimmt er einen neuen Versuch, der aufmerken lässt. Der Titel, "Den Himmel zum Sprechen bringen", ist angenehm offen und lädt zu Assoziationen ein. Das im Untertitel benannte Thema "Theopoesie" ist von so grundsätzlicher wie gegenwärtiger Bedeutung und bietet eine Gelegenheit, die üblichen Pro-und-Contra-Debatten zu übersteigen. Sich auch ästhetisch einen Reim auf Religion zu machen, dafür ist Sloterdijk ein geeigneter Autor, kann er doch virtuos zwischen Kunst und Philosophie vermitteln. Zudem ist er trotz seiner offenkundigen Abneigung gegenüber dem Christlichen seit langem an religiösen Fragen interessiert.
Sein neues Buch rollt noch einmal die uralte Frage auf, ob es in der Religion um metaphysische Wahrheitserkenntnis oder existentielles Sinnerleben geht, ob sie eher dem Philosophischen oder dem Poetischen verwandt ist. Wie es seine Art ist, beantwortet Sloterdijk diese Frage nicht in einer begriffsklaren Argumentation, sondern spielt sie bei weiten Streifzügen durch die Religions- und Theologiegeschichte variantenreich durch. Seine Einschätzungen halten sich dabei in einer erfreulichen Schwebe. Manchmal schreibt er, dass es sich bei aller Theologie "nur" um Poesie handle, manchmal aber kann er dem auch etwas abgewinnen. Wer ihm vom alten Ägypten zur griechischen Antike, zu Heidegger, katholischen Dogmatik-Kompendien, Jan- Assmann und Kurt Flasch folgt - und wieder zurück -, wird nicht enttäuscht. Besonders seine Ausführungen zu den beiden protestantischen Hauptantipoden in dieser Sache - dem poetischen Friedrich Schleiermacher und dem dogmatischen Karl Barth - bieten manche Erhellung. Man fühlt sich beim Lesen an eine berühmte Anekdote erinnert, nach der der liberale Theologe Adolf von Harnack beim Einrichten seiner Bibliothek gesagt haben soll: "Die Dogmatik stellen wir zur schönen Literatur." Richtige Dogmatiker können sich darüber heute noch ärgern.
Doch dann ergeht es einem wie so oft bei Sloterdijk: Man fragt sich, ob er seine vielen Einfälle im Griff hat oder umgekehrt diese ihn. Mit unzeitgemäßer Allwissenheit durchstreift er wie im Fluge die Epochen, dass man ihn für eine Inkarnation des römischen Gottes Hermes, Patron der Hermeneutik, halten könnte. Tausend Jahre sind vor ihm wie die Buchseite, die man gerade umgeblättert hat. Wobei man nicht vergessen darf, dass Hermes auch ein berüchtigter Trickser war, so wie Sloterdijk. Irgendwann erlahmt die Lesefreude. Man kommt einfach nicht hinterher. Es ist wie bei einem Gespräch mit einem Menschen, der grundsätzlich immer alles - besser und anders - weiß. Eine Zeitlang hört man ihm gebannt zu, staunt, lacht über seine Ideen, doch dann hat man genug.
Am Ende des Buches jedoch wird es plötzlich wieder interessant. Unter der Überschrift "Religionsfreiheit" skizziert Sloterdijk sein Bild vom Zielpunkt der Säkularisierung. Dabei gibt er dem Begriff religiöser Freiheit eine Wendung, die manche überraschen mag. Denn er versteht darunter weniger die in der Moderne erstrittene Freiheit der Bürger, ihre je eigene Religion zu wählen und zu pflegen oder sich aus religiösen Bezügen zu lösen. Sloterdijk geht es vielmehr um die Freiheit der Religion selbst, ihre Entlastung von sekundären Funktionen, die Befreiung zu sich selbst, ihrem genuinen Zweck. Jetzt, am vorläufigen Ende des Fortschritts, ist die Religion nicht mehr wie früher auch zuständig für Aufgaben wie "Kaiser- und Fürstenkult, Staatsüberhöhung, Festkalenderpflege, Armeesegen, Eheschließung, Erntefeier, Sexualitätslenkung, Krankenpflege, Armenbetreuung" und was der politischen, sozialen und kulturellen Funktionen mehr sind. Für all dies sind jetzt eigene gesellschaftliche Subsysteme zuständig.
Was der Religion bleibt, ist aber nicht bloß ein "Rest", sondern ihr Ureigenstes: "die Auslegung der Existenz im Horizont ihrer Zufälligkeit, Endlichkeit, Glücksbedürftigkeit und Kommunikativität". Dies ist für Sloterdijk kein Verlust, sondern eine "Freisetzung der Religion", "ihre überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit; sie ist überflüssig wie Musik; oder: ,Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum' (Nietzsche)". In dieser Perspektive zeigt sich die eigentliche Poetik des Religiösen und Theologischen, ihre unmittelbare Nähe zu Kunst und Philosophie, die sich Sloterdijk allerdings weniger als produktive Nachbarschaft, denn als Konkurrenz vorzustellen vermag. Dies unterscheidet ihn von Schleiermacher, der an einer Wechselwirkung dieser drei Nutzlosigkeiten interessiert war. Ansonsten aber erstaunt, wie punktgenau Sloterdijk am Ende seiner langen und windungsreichen Reise durch die Religionsgeschichte beim Ur-Theologen des modernen Protestantismus landet und mit einer These schließt, die in Schleiermachers Nachfolge vor allem der Berliner Theologe Wilhelm Gräb in den vergangenen Jahren wieder und wieder vertreten hat.
Dadurch wirft dieses Buch, obwohl vor der Pandemie verfasst, ein Licht auf die Lage der Religion in der Corona-Gegenwart. Das von einigen beklagte oder gar skandalisierte "Schweigen" der Kirchen zur aktuellen Krise könnte man in Sloterdijks Perspektive positiv deuten: Die Religionsgemeinschaften sind dort angekommen, wo sie in der Spätmoderne hingehören. Für Deutung und Management einer Pandemie sind jetzt Medizin und staatliche Hygieneverwaltung zuständig. Ebenso wie der Kunst und der Philosophie - die in den vergangenen Monaten ja ganz ähnlich durch "Schweigen" in der Öffentlichkeit und augenscheinliche Systemirrelevanz aufgefallen sind - obliegt es der Religion, "Beihilfe zur Auslegung des Daseins" zu leisten, "bis hin zur Aufhellung des Unverfügbaren und zur Domestikation des Unheimlichen".
JOHANN HINRICH CLAUSSEN.
Peter Sloterdijk: "Den Himmel zum Sprechen bringen". Über Theopoesie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 352 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Sloterdijk schlängelt sich durch die Religionsgeschichte und kommt doch noch bei einer triftigen Diagnose an
Jeder hat eine zweite Chance verdient, auch wenn es darum geht, ein Buch über Religion zu schreiben. Pünktlich zum Reformationsjubiläum hatte Peter Sloterdijk unter dem apodiktischen Titel "Nach Gott" eine arg nachlässige Sammlung älterer Texte als Buch veröffentlicht - eine Lustlosigkeit auf über dreihundert Seiten (F.A.Z. vom 27. Juli 2017). Nun aber, drei Jahre später, unternimmt er einen neuen Versuch, der aufmerken lässt. Der Titel, "Den Himmel zum Sprechen bringen", ist angenehm offen und lädt zu Assoziationen ein. Das im Untertitel benannte Thema "Theopoesie" ist von so grundsätzlicher wie gegenwärtiger Bedeutung und bietet eine Gelegenheit, die üblichen Pro-und-Contra-Debatten zu übersteigen. Sich auch ästhetisch einen Reim auf Religion zu machen, dafür ist Sloterdijk ein geeigneter Autor, kann er doch virtuos zwischen Kunst und Philosophie vermitteln. Zudem ist er trotz seiner offenkundigen Abneigung gegenüber dem Christlichen seit langem an religiösen Fragen interessiert.
Sein neues Buch rollt noch einmal die uralte Frage auf, ob es in der Religion um metaphysische Wahrheitserkenntnis oder existentielles Sinnerleben geht, ob sie eher dem Philosophischen oder dem Poetischen verwandt ist. Wie es seine Art ist, beantwortet Sloterdijk diese Frage nicht in einer begriffsklaren Argumentation, sondern spielt sie bei weiten Streifzügen durch die Religions- und Theologiegeschichte variantenreich durch. Seine Einschätzungen halten sich dabei in einer erfreulichen Schwebe. Manchmal schreibt er, dass es sich bei aller Theologie "nur" um Poesie handle, manchmal aber kann er dem auch etwas abgewinnen. Wer ihm vom alten Ägypten zur griechischen Antike, zu Heidegger, katholischen Dogmatik-Kompendien, Jan- Assmann und Kurt Flasch folgt - und wieder zurück -, wird nicht enttäuscht. Besonders seine Ausführungen zu den beiden protestantischen Hauptantipoden in dieser Sache - dem poetischen Friedrich Schleiermacher und dem dogmatischen Karl Barth - bieten manche Erhellung. Man fühlt sich beim Lesen an eine berühmte Anekdote erinnert, nach der der liberale Theologe Adolf von Harnack beim Einrichten seiner Bibliothek gesagt haben soll: "Die Dogmatik stellen wir zur schönen Literatur." Richtige Dogmatiker können sich darüber heute noch ärgern.
Doch dann ergeht es einem wie so oft bei Sloterdijk: Man fragt sich, ob er seine vielen Einfälle im Griff hat oder umgekehrt diese ihn. Mit unzeitgemäßer Allwissenheit durchstreift er wie im Fluge die Epochen, dass man ihn für eine Inkarnation des römischen Gottes Hermes, Patron der Hermeneutik, halten könnte. Tausend Jahre sind vor ihm wie die Buchseite, die man gerade umgeblättert hat. Wobei man nicht vergessen darf, dass Hermes auch ein berüchtigter Trickser war, so wie Sloterdijk. Irgendwann erlahmt die Lesefreude. Man kommt einfach nicht hinterher. Es ist wie bei einem Gespräch mit einem Menschen, der grundsätzlich immer alles - besser und anders - weiß. Eine Zeitlang hört man ihm gebannt zu, staunt, lacht über seine Ideen, doch dann hat man genug.
Am Ende des Buches jedoch wird es plötzlich wieder interessant. Unter der Überschrift "Religionsfreiheit" skizziert Sloterdijk sein Bild vom Zielpunkt der Säkularisierung. Dabei gibt er dem Begriff religiöser Freiheit eine Wendung, die manche überraschen mag. Denn er versteht darunter weniger die in der Moderne erstrittene Freiheit der Bürger, ihre je eigene Religion zu wählen und zu pflegen oder sich aus religiösen Bezügen zu lösen. Sloterdijk geht es vielmehr um die Freiheit der Religion selbst, ihre Entlastung von sekundären Funktionen, die Befreiung zu sich selbst, ihrem genuinen Zweck. Jetzt, am vorläufigen Ende des Fortschritts, ist die Religion nicht mehr wie früher auch zuständig für Aufgaben wie "Kaiser- und Fürstenkult, Staatsüberhöhung, Festkalenderpflege, Armeesegen, Eheschließung, Erntefeier, Sexualitätslenkung, Krankenpflege, Armenbetreuung" und was der politischen, sozialen und kulturellen Funktionen mehr sind. Für all dies sind jetzt eigene gesellschaftliche Subsysteme zuständig.
Was der Religion bleibt, ist aber nicht bloß ein "Rest", sondern ihr Ureigenstes: "die Auslegung der Existenz im Horizont ihrer Zufälligkeit, Endlichkeit, Glücksbedürftigkeit und Kommunikativität". Dies ist für Sloterdijk kein Verlust, sondern eine "Freisetzung der Religion", "ihre überraschende, erhebende, skandalöse Nutzlosigkeit; sie ist überflüssig wie Musik; oder: ,Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum' (Nietzsche)". In dieser Perspektive zeigt sich die eigentliche Poetik des Religiösen und Theologischen, ihre unmittelbare Nähe zu Kunst und Philosophie, die sich Sloterdijk allerdings weniger als produktive Nachbarschaft, denn als Konkurrenz vorzustellen vermag. Dies unterscheidet ihn von Schleiermacher, der an einer Wechselwirkung dieser drei Nutzlosigkeiten interessiert war. Ansonsten aber erstaunt, wie punktgenau Sloterdijk am Ende seiner langen und windungsreichen Reise durch die Religionsgeschichte beim Ur-Theologen des modernen Protestantismus landet und mit einer These schließt, die in Schleiermachers Nachfolge vor allem der Berliner Theologe Wilhelm Gräb in den vergangenen Jahren wieder und wieder vertreten hat.
Dadurch wirft dieses Buch, obwohl vor der Pandemie verfasst, ein Licht auf die Lage der Religion in der Corona-Gegenwart. Das von einigen beklagte oder gar skandalisierte "Schweigen" der Kirchen zur aktuellen Krise könnte man in Sloterdijks Perspektive positiv deuten: Die Religionsgemeinschaften sind dort angekommen, wo sie in der Spätmoderne hingehören. Für Deutung und Management einer Pandemie sind jetzt Medizin und staatliche Hygieneverwaltung zuständig. Ebenso wie der Kunst und der Philosophie - die in den vergangenen Monaten ja ganz ähnlich durch "Schweigen" in der Öffentlichkeit und augenscheinliche Systemirrelevanz aufgefallen sind - obliegt es der Religion, "Beihilfe zur Auslegung des Daseins" zu leisten, "bis hin zur Aufhellung des Unverfügbaren und zur Domestikation des Unheimlichen".
JOHANN HINRICH CLAUSSEN.
Peter Sloterdijk: "Den Himmel zum Sprechen bringen". Über Theopoesie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 352 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Was den Band so spannend und lesenswert macht, ist, wie souverän und quellensatt der Philosoph [die Religion] aus der kulturgeschichtlichen Evolution herleitet.« Ingo Arend taz. die tageszeitung 20210112