Frank Griffel, international anerkannter Islam-Experte, geht drängende Fragen direkt an. Was ist das eigentlich: »Islam« - handelt es sich um eine Religion wie das Christentum, die ähnlich von Auseinandersetzungen mit der weltlichen Macht und der Vernunft geprägt wurde? Gibt es im Islam einen Konflikt zwischen Glauben und Wissen? Hat der Islam eine Reformation versäumt und sollte sie nachholen? Wie kann man über islamistisch geprägte Anschläge anders denken, als dass es Racheakte von fanatischen Glaubenskriegern sind, die mit Ideen aus dem islamischen Mittelalter einer Gehirnwäsche unterzogen wurden? Oder haben diese Fragen letztlich nichts mit dem Islam an sich zu tun, sondern eher mit Sichtweisen des Westens?Griffel entwickelt im Abwägen dieser Fragen ein ganz anderes Bild der Weltreligion.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2019Religion der Mehrdeutigkeit
Frank Griffel weiß, wie man den Islam verstehen kann
Wer diesen Essay aus der Hand legt, wird dem Islam mehr "Mittelalter" wünschen. Nicht in dem Sinne, wie wir Europäer unser angeblich dunkles Mittelalter verstehen, sondern wie die Muslime jenes Zeitalter gelebt haben, das der an der amerikanischen Yale University lehrende deutsche Islamwissenschaftler Frank Griffel den "nachklassischen Islam" nennt.
Der Zugang zu jener Zeit falle uns wegen unserer Erwartung schwer, so Griffels Ausgangsthese, dass sich andere Gesellschaften wie die unsere entwickeln müssten. Tun sie das nicht, wie das beim Islam vom dreizehnten Jahrhundert an der Fall ist, prägten Fehlschlüsse unser Bild vom anderen. Griffel wählt dazu ein Beispiel aus der Philosophie. Die großen muslimischen Philosophen Avicenna (980 bis 1037) und Averroës (1126 bis 1198) hatten noch in der Tradition der griechischen Philosophie gedacht. Vor allem die Schriften des Averroes hatten großen Anteil an der Wiedergeburt der westlichen Philosophie; der Bruch erfolgte mit dem ersten nachklassischen Philosophen Fachreddin al Razi (1149 bis 1210).
Er ließ, anders als seine Vorgänger, die wichtigsten Fragen der Philosophie unbeantwortet und zeigte nur noch Lösungsansätze auf. Razi kam zum Schluss, dass es Fragen gebe, die wir Menschen nicht entscheiden könnten. Beispielsweise, ob Gott seine Schöpfung aus dem Nichts heraus und aus freiem Willen getan habe, wie es die Theologen sagen, oder ob die Welt seit Ewigkeit bestehe und Gott daher, so die Philosophie, nur ein Schöpfungsprinzip sei und über keinen freien Willen verfüge. Anders als Avicenna entschied Razi, die Frage müsse unentschieden bleiben, ob Gott einen freien Willen habe. Den Europäern blieben diese neuen Parameter des Philosophierens aber unvertraut, und so entstand die These vom Niedergang der islamischen Welt.
Ein Denken wie bei Razi wäre im christlichen Mittelalter auf dem Index gelandet. Im nachklassischen Islam hingegen führte die Unsicherheit, was Gott wirklich ist, zu einer Kultur der Ambiguität. Der Islam wurde damit eine Religion der Mehrdeutigkeit. Die Toleranz für Ambiguität mache Gesellschaften jedoch langsam, schreibt Griffel. Diese islamischen Gesellschaften seien zudem von dem Bestreben nach Ausgleich und Synthese geprägt gewesen. Konflikte wurden nicht wie in Europa auf die Spitze getrieben, um sich dann in Gewalt zu entladen. Die vormoderne islamische Welt habe daher auch keine radikalen Verwerfungen hervorgebracht. Sie war nicht auf den Glauben an Fortschritt gebaut.
In Europa aber setzte sich ein faustisches Fortschrittsdenken durch. Europa bewunderte zwar die islamische Kultur jener Zeit, etwa die Architektur, als "zeitlos", blickte auf die nachklassische Gesellschaft, die diese Kultur hervorgebracht hat, wegen des "Mangels an Fortschritt" aber auch als eine minderwertige herab. Griffel sieht vor 1798, dem Jahr, mit dem die nachklassische Epoche endet, keinen Niedergang der islamischen Welt und ihrer Kultur. In jenem Jahr leitete Napoleons Feldzug nach Ägypten den Epochenwechsel ein - die europäische Moderne drang in die arabische Welt ein, auch mit Gewalt. Griffel schreibt daher von einem "europäischen Sonderweg, der sich aggressiv anderen Kulturen entgegenstellt".
Die arabisch-islamische Gesellschaft habe als zurückgeblieben gegolten, sie sei also "reif für das Eingreifen des europäischen Kolonialismus" gewesen. Die Legitimation dazu gab die Aufklärung. Der Kolonialismus hat die islamischen Gesellschaften so grundlegend verändert, dass die Veränderungen einer Aufklärung und Säkularisierung entsprächen, schreibt Griffel. Auch der moderne Islam sei wesentlich vom Prozess der Kolonialisierung geprägt. An die Stelle der Ambiguität sei - als Gegenbewegung zum Entwurf kolonisierter islamischer Gesellschaften - der islamische Fundamentalismus getreten. Wie der Widerpart im Westen kennt er nur noch eine Wahrheit.
Heute fordert die europäische Moderne vom islamischen Fundamentalismus die Quadratur des Kreises, beobachtet Griffel. Denn die Scharia sei als Rechtssystem einer vormodernen Ordnung entstanden, die auf Synthese und gesellschaftlichen Ausgleich bedacht war. In modernen Nationalstaaten, in denen die alten Ideale nicht mehr verwirklicht werden könnten und in denen sich gesellschaftliche Konfrontationen zuspitzen, besteht daher die Gefahr, dass die Scharia Mittel der politischen Unterdrückung werde. Das Rad der Geschichte ist nicht zurückzudrehen, auch nicht für den Islam. Griffel zeigt in seinem brillanten Essay überzeugend, dass der Islam von heute auch als Folge seiner Konfrontation mit dem Westen so ist, wie er ist.
RAINER HERMANN
Frank Griffel: "Den Islam denken". Versuch, eine Religion zu verstehen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2018,
102 S., br., 6,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Griffel weiß, wie man den Islam verstehen kann
Wer diesen Essay aus der Hand legt, wird dem Islam mehr "Mittelalter" wünschen. Nicht in dem Sinne, wie wir Europäer unser angeblich dunkles Mittelalter verstehen, sondern wie die Muslime jenes Zeitalter gelebt haben, das der an der amerikanischen Yale University lehrende deutsche Islamwissenschaftler Frank Griffel den "nachklassischen Islam" nennt.
Der Zugang zu jener Zeit falle uns wegen unserer Erwartung schwer, so Griffels Ausgangsthese, dass sich andere Gesellschaften wie die unsere entwickeln müssten. Tun sie das nicht, wie das beim Islam vom dreizehnten Jahrhundert an der Fall ist, prägten Fehlschlüsse unser Bild vom anderen. Griffel wählt dazu ein Beispiel aus der Philosophie. Die großen muslimischen Philosophen Avicenna (980 bis 1037) und Averroës (1126 bis 1198) hatten noch in der Tradition der griechischen Philosophie gedacht. Vor allem die Schriften des Averroes hatten großen Anteil an der Wiedergeburt der westlichen Philosophie; der Bruch erfolgte mit dem ersten nachklassischen Philosophen Fachreddin al Razi (1149 bis 1210).
Er ließ, anders als seine Vorgänger, die wichtigsten Fragen der Philosophie unbeantwortet und zeigte nur noch Lösungsansätze auf. Razi kam zum Schluss, dass es Fragen gebe, die wir Menschen nicht entscheiden könnten. Beispielsweise, ob Gott seine Schöpfung aus dem Nichts heraus und aus freiem Willen getan habe, wie es die Theologen sagen, oder ob die Welt seit Ewigkeit bestehe und Gott daher, so die Philosophie, nur ein Schöpfungsprinzip sei und über keinen freien Willen verfüge. Anders als Avicenna entschied Razi, die Frage müsse unentschieden bleiben, ob Gott einen freien Willen habe. Den Europäern blieben diese neuen Parameter des Philosophierens aber unvertraut, und so entstand die These vom Niedergang der islamischen Welt.
Ein Denken wie bei Razi wäre im christlichen Mittelalter auf dem Index gelandet. Im nachklassischen Islam hingegen führte die Unsicherheit, was Gott wirklich ist, zu einer Kultur der Ambiguität. Der Islam wurde damit eine Religion der Mehrdeutigkeit. Die Toleranz für Ambiguität mache Gesellschaften jedoch langsam, schreibt Griffel. Diese islamischen Gesellschaften seien zudem von dem Bestreben nach Ausgleich und Synthese geprägt gewesen. Konflikte wurden nicht wie in Europa auf die Spitze getrieben, um sich dann in Gewalt zu entladen. Die vormoderne islamische Welt habe daher auch keine radikalen Verwerfungen hervorgebracht. Sie war nicht auf den Glauben an Fortschritt gebaut.
In Europa aber setzte sich ein faustisches Fortschrittsdenken durch. Europa bewunderte zwar die islamische Kultur jener Zeit, etwa die Architektur, als "zeitlos", blickte auf die nachklassische Gesellschaft, die diese Kultur hervorgebracht hat, wegen des "Mangels an Fortschritt" aber auch als eine minderwertige herab. Griffel sieht vor 1798, dem Jahr, mit dem die nachklassische Epoche endet, keinen Niedergang der islamischen Welt und ihrer Kultur. In jenem Jahr leitete Napoleons Feldzug nach Ägypten den Epochenwechsel ein - die europäische Moderne drang in die arabische Welt ein, auch mit Gewalt. Griffel schreibt daher von einem "europäischen Sonderweg, der sich aggressiv anderen Kulturen entgegenstellt".
Die arabisch-islamische Gesellschaft habe als zurückgeblieben gegolten, sie sei also "reif für das Eingreifen des europäischen Kolonialismus" gewesen. Die Legitimation dazu gab die Aufklärung. Der Kolonialismus hat die islamischen Gesellschaften so grundlegend verändert, dass die Veränderungen einer Aufklärung und Säkularisierung entsprächen, schreibt Griffel. Auch der moderne Islam sei wesentlich vom Prozess der Kolonialisierung geprägt. An die Stelle der Ambiguität sei - als Gegenbewegung zum Entwurf kolonisierter islamischer Gesellschaften - der islamische Fundamentalismus getreten. Wie der Widerpart im Westen kennt er nur noch eine Wahrheit.
Heute fordert die europäische Moderne vom islamischen Fundamentalismus die Quadratur des Kreises, beobachtet Griffel. Denn die Scharia sei als Rechtssystem einer vormodernen Ordnung entstanden, die auf Synthese und gesellschaftlichen Ausgleich bedacht war. In modernen Nationalstaaten, in denen die alten Ideale nicht mehr verwirklicht werden könnten und in denen sich gesellschaftliche Konfrontationen zuspitzen, besteht daher die Gefahr, dass die Scharia Mittel der politischen Unterdrückung werde. Das Rad der Geschichte ist nicht zurückzudrehen, auch nicht für den Islam. Griffel zeigt in seinem brillanten Essay überzeugend, dass der Islam von heute auch als Folge seiner Konfrontation mit dem Westen so ist, wie er ist.
RAINER HERMANN
Frank Griffel: "Den Islam denken". Versuch, eine Religion zu verstehen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2018,
102 S., br., 6,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rainer Hermann lernt mit Frank Griffel, den Islam zu begreifen. Griffels These, wonach die Europäer das islamische Mittelalter nicht verstehen, weil sie eigene Maßstäbe und Erwartungen anlegen und so Fehlschlüsse zulassen, kann Hermann anhand des vom Autor gewählten Beispiels der islamischen philosophischen Tradition von Avicenna und Averroes bis Razi nachvollziehen. Die Einordnung der islamischen Gesellschaft als rückständig und ihre folgende Kolonisierung führten laut Griffel zu einer grundlegenden Veränderung des Islam, versteht Hermann. Brillant erscheint ihm der Essay, weil er überzeugend von der Entwicklung des Islam durch die Begegnung mit dem Westen erzählt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Griffel zeigt in seinem brillanten Essay überzeugend, dass der Islam von heute auch als Folge seiner Konfrontation mit dem Westen so ist, wie er ist.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.2019