»Den Teufel im Leib« ist das Werk eines Vierzehn- bis Siebzehnjährigen, nicht eines Frühreifen, sondern eines früh Reifen, der, unbekümmert um jede Avantgarde, an den großen klassischen Roman anknüpfte. Jugend wird da nicht aus ferner Erinnerung verdüstert oder verschönt, sondern unmittelbar und unverstellt, in jedem Augenblick identisch mit sich selbst und ihrer Erfahrungsstufe, in Sprache, in Literatur.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Manuela Reichart entdeckt mit Raymond Radiguets Debütroman von 1923 eine Verführungsgeschichte, in der die Figuren sich gegen die Konventionen ihrer Zeit stemmen und die freie Liebe leben. Ehebruch, Betrug und sexuelle Obsession verhandelt der Text des 17-jährigen Radiguet laut Reichart auf erstaunlich reife Weise, spannend und psychologisch überzeugend. Eine echte Wiederentdeckung in "hervorragender" Übersetzung, in einem Band zusammen mit Briefen Jean Cocteaus an den Autor, frohlockt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2023Die Frau nach seinem Bilde
Ein diabolisch böses Buch von einem Teufelskerl der französischen Literatur: Der Titel lautet denn auch "Den Teufel im Leibe". Zum hundertsten Jahrestag des Erscheinens kommt es in stark erweiterter Ausgabe auf Deutsch neu heraus.
Der mit nur zwanzig Jahren an Typhus verstorbene Raymond Radiguet (1903 bis 1923) bietet den sonderbaren Fall eines Frühreifen, der sich als Greis träumte, aber starb, ohne das Erwachsenenalter erreicht zu haben (bis 1974 begann das in Frankreich mit 21 Jahren). Es ist nicht das einzige Radiguet-Paradox: Jean Cocteau, sein Freund, Förderer und wohl auch Liebhaber, erzählt, er sei hochbegabt, arbeitswütig und faul zugleich gewesen. Um ihm "Den Teufel im Leib" (1923) abzuringen, griff Cocteau zu drastischen Mitteln: "In den Sommern nahm ich ihn mit aufs Land; dann wurde er zu einem braven Kind, er schrieb Schulhefte voll. Manchmal begehrte er gegen sein Werk auf wie ein Schüler gegen Ferienaufgaben. Dann musste ich mit ihm schimpfen, ihn einsperren. Und er schmierte wütend ein Kapitel hin."
Sie lohnen sich, diese hingeschmierten Kapitel, das belegt eine neue Ausgabe von Hinrich Schmidt-Henkels Übertragung des Romans: Er schwappt dem Leser ins Gesicht, frisch und salzig wie ein Schwall Meerwasser. Es ist die Frische der Freiheit und der Amoralität. Denn "Den Teufel im Leib" erzählt die Geschichte einer deplatzierten Liebe: Im April 1917 lernt der fünfzehnjährige François die drei Jahre ältere Marthe kennen, die bereits verlobt ist. Kurz darauf heiratet sie Jacques, einen Soldaten, der zurück an die Front muss. Während Jacques in Stahlgewittern für Gott und Vaterland kämpft, verführt François Marthe, in einer pikanten Mischung aus libertiner Verdorbenheit und jugendlicher Unschuld.
Der eigentliche Handlungszeitraum von Radiguets einzigem zu Lebzeiten veröffentlichten Roman umfasst etwas mehr als ein Jahr lasterhaften Müßiggangs. François schwänzt erst die Schule, um Marthe bei der Wahl ihrer Schlafzimmermöbel zu helfen; dann verlässt er sie ganz, lernt zu Hause, nimmt Zeichen- und Malunterricht. Seine Eltern machen ihm hin und wieder Vorwürfe, lassen ihn aber gewähren. Im November folgt er willig einer Einladung der frisch vermählten Marthe: Die beiden kommen sich vor einem Olivenholzfeuer näher, dessen doppelter Nutzen ist, die jugendlichen Körper zu wärmen und die Briefe des Ehemanns zu verbrennen. Sie lieben sich von einem Winter bis zum nächsten, der Skandal scheint erst mit der tragischen Mutterschaft Marthes zu enden. Das Ende freilich verlängert ihn durch die Frucht ihrer Liebe - ein wahres Kuckucksei - in die nächste Generation.
Radiguet macht sich ein Vergnügen daraus, das Empörungspotential dieser wehrkraftzersetzenden Liaison zu erkunden - er nimmt die öffentliche Erregung bei Erscheinen des Romans vorweg. Die war einkalkuliert, die Erstauflage von 45.000 Exemplaren ging weg wie warme Semmeln. Ein Teil des Publikums musste sich allerdings im Romanpersonal wiedererkennen: ländliche Notabeln, die sich lüstern über den kaum kaschierten Ehebruch entsetzen. Das Ehepaar Marin - er ist pensionierter Stadtrat - wohnt unter Marthe in derselben Villa und wird Zeuge der Liebesspiele. Madame hofft, einer Gartengesellschaft den Ohrenschmaus jugendlicher Leidenschaft vorführen und so der Lokalpolitiker-Karriere ihres Gatten neuen Schwung verleihen zu können. François aber bekommt Wind von dem Plan und ist ausnahmsweise diskret, zum Leidwesen der bürgerlichen Doppelmoral unterm Schlafzimmerfenster. Erst als die Gesellschaft unverrichteter Dinge abgezogen ist, wird er aktiv: "Boshafterweise ließ ich sie jetzt erst hören, was sie so gern den anderen vorgeführt hätten. Marthe wunderte sich über meine plötzliche Glut." Eine herrliche Provinzposse.
Die Freiheit ist ganz im Geiste des Autors, der selbst eine noch skandalösere Liebschaft mit der Grundschullehrerin Alice Saunier erlebt hatte - er war erst vierzehn, sie 24 Jahre alt. Die Wirklichkeit endete zudem weniger poetisch, denn der betrogene Gatte erkannte sich im Roman wieder; die Liaison verdarb eine Ehe und die Kindheit seines unehelichen Sohnes. Das war Radiguet vermutlich gleichgültig: Mit fünfzehn Jahren lief er von zu Hause weg und führte eine Boheme-Existenz in Paris, die ihn nicht nur in Cocteaus Arme, sondern auch in die einer ganzen Reihe älterer Frauen warf. Die scheinen dem kurzsichtigen Schlingel viel abgewonnen zu haben, Radiguet hatte zahlreiche Unterstützerinnen, darunter Coco Chanel; hinzu kamen männliche Förderer und Freunde, etwa Max Jacob, Amedeo Modigliani und Francis Poulenc.
Radiguet steht nicht nur für freie Sitten, er bringt neue Kraft in die Sprache. Aus den ästhetischen Gewittern der Weltkriegsjahre ging die französische Literatur mit leichterer Syntax und direkterem Ausdruck hervor, wie die Wiederentdeckungen der letzten Jahre belegen, etwa Irène Némirovsky oder Louise de Vilmorin. Besonders fühlt man sich an André de Richaud erinnert, dessen Roman "Der Schmerz" (1931) ebenfalls das Thema einer Skandalliebe hinter der Front bedient. Sie alle wirken so neu und nah, dass man ihnen die gut hundert Jahre kaum abnimmt.
Die sprachliche Reduktion widerspricht bei Radiguet keineswegs der Suche nach einer Form, wie sie die Romantradition des neunzehnten Jahrhunderts ausgebildet hat; diesen Punkt betont Schmidt-Henkel in seinem Nachwort zu Recht. Er bemüht sich um den psychologisch präzisen Satz, mit gelegentlichem Hang zur altklugen Sentenz: "Jede Liebe hat ihre Jugend, ihre Reifezeit, ihr Alter." An anderer Stelle hingegen sind seine Beobachtungen schmerzhaft genau: "Ich beeinflusste Marthe immer mehr in einem Sinn, der mir entsprach, sodass ich sie allmählich nach meinem Bild formte. Das verübelte ich mir und auch, dass ich dadurch sehenden Auges unser Glück zerstörte." Unübersehbar schließlich das Bemühen, eine klassische Romanform zu respektieren, indem der Autor die Handlung klar strukturiert und mit raumzeitlichen Markern absichert.
Die Ausgabe zum Hundertjährigen des Romans ist rundum gelungen: Die zuerst 2007 bei Hoffmann und Campe erschienene, schneidend scharfe Übersetzung Schmidt-Henkels wird von einem überarbeiteten Nachwort begleitet. Als weitere Extras kommen Zeichnungen und (erstmals übertragene) Texte hinzu, die Cocteau von und über Radiguet angefertigt hat. Briefe und Gedichte Radiguets schließen den Band ab. So kann sich der Leser selbst ein Bild dieses Teufelsbratens machen: Moralisch fällt es medioker aus, ästhetisch ist es ein Genuss. NIKLAS BENDER
Raymond Radiguet: "Den Teufel im Leib". Roman.
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt- Henkel. Mit Zeichnungen und Texten von Jean Cocteau sowie Texten von Raymond Radiguet. Pendragon Verlag, Bielefeld 2023. 224 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein diabolisch böses Buch von einem Teufelskerl der französischen Literatur: Der Titel lautet denn auch "Den Teufel im Leibe". Zum hundertsten Jahrestag des Erscheinens kommt es in stark erweiterter Ausgabe auf Deutsch neu heraus.
Der mit nur zwanzig Jahren an Typhus verstorbene Raymond Radiguet (1903 bis 1923) bietet den sonderbaren Fall eines Frühreifen, der sich als Greis träumte, aber starb, ohne das Erwachsenenalter erreicht zu haben (bis 1974 begann das in Frankreich mit 21 Jahren). Es ist nicht das einzige Radiguet-Paradox: Jean Cocteau, sein Freund, Förderer und wohl auch Liebhaber, erzählt, er sei hochbegabt, arbeitswütig und faul zugleich gewesen. Um ihm "Den Teufel im Leib" (1923) abzuringen, griff Cocteau zu drastischen Mitteln: "In den Sommern nahm ich ihn mit aufs Land; dann wurde er zu einem braven Kind, er schrieb Schulhefte voll. Manchmal begehrte er gegen sein Werk auf wie ein Schüler gegen Ferienaufgaben. Dann musste ich mit ihm schimpfen, ihn einsperren. Und er schmierte wütend ein Kapitel hin."
Sie lohnen sich, diese hingeschmierten Kapitel, das belegt eine neue Ausgabe von Hinrich Schmidt-Henkels Übertragung des Romans: Er schwappt dem Leser ins Gesicht, frisch und salzig wie ein Schwall Meerwasser. Es ist die Frische der Freiheit und der Amoralität. Denn "Den Teufel im Leib" erzählt die Geschichte einer deplatzierten Liebe: Im April 1917 lernt der fünfzehnjährige François die drei Jahre ältere Marthe kennen, die bereits verlobt ist. Kurz darauf heiratet sie Jacques, einen Soldaten, der zurück an die Front muss. Während Jacques in Stahlgewittern für Gott und Vaterland kämpft, verführt François Marthe, in einer pikanten Mischung aus libertiner Verdorbenheit und jugendlicher Unschuld.
Der eigentliche Handlungszeitraum von Radiguets einzigem zu Lebzeiten veröffentlichten Roman umfasst etwas mehr als ein Jahr lasterhaften Müßiggangs. François schwänzt erst die Schule, um Marthe bei der Wahl ihrer Schlafzimmermöbel zu helfen; dann verlässt er sie ganz, lernt zu Hause, nimmt Zeichen- und Malunterricht. Seine Eltern machen ihm hin und wieder Vorwürfe, lassen ihn aber gewähren. Im November folgt er willig einer Einladung der frisch vermählten Marthe: Die beiden kommen sich vor einem Olivenholzfeuer näher, dessen doppelter Nutzen ist, die jugendlichen Körper zu wärmen und die Briefe des Ehemanns zu verbrennen. Sie lieben sich von einem Winter bis zum nächsten, der Skandal scheint erst mit der tragischen Mutterschaft Marthes zu enden. Das Ende freilich verlängert ihn durch die Frucht ihrer Liebe - ein wahres Kuckucksei - in die nächste Generation.
Radiguet macht sich ein Vergnügen daraus, das Empörungspotential dieser wehrkraftzersetzenden Liaison zu erkunden - er nimmt die öffentliche Erregung bei Erscheinen des Romans vorweg. Die war einkalkuliert, die Erstauflage von 45.000 Exemplaren ging weg wie warme Semmeln. Ein Teil des Publikums musste sich allerdings im Romanpersonal wiedererkennen: ländliche Notabeln, die sich lüstern über den kaum kaschierten Ehebruch entsetzen. Das Ehepaar Marin - er ist pensionierter Stadtrat - wohnt unter Marthe in derselben Villa und wird Zeuge der Liebesspiele. Madame hofft, einer Gartengesellschaft den Ohrenschmaus jugendlicher Leidenschaft vorführen und so der Lokalpolitiker-Karriere ihres Gatten neuen Schwung verleihen zu können. François aber bekommt Wind von dem Plan und ist ausnahmsweise diskret, zum Leidwesen der bürgerlichen Doppelmoral unterm Schlafzimmerfenster. Erst als die Gesellschaft unverrichteter Dinge abgezogen ist, wird er aktiv: "Boshafterweise ließ ich sie jetzt erst hören, was sie so gern den anderen vorgeführt hätten. Marthe wunderte sich über meine plötzliche Glut." Eine herrliche Provinzposse.
Die Freiheit ist ganz im Geiste des Autors, der selbst eine noch skandalösere Liebschaft mit der Grundschullehrerin Alice Saunier erlebt hatte - er war erst vierzehn, sie 24 Jahre alt. Die Wirklichkeit endete zudem weniger poetisch, denn der betrogene Gatte erkannte sich im Roman wieder; die Liaison verdarb eine Ehe und die Kindheit seines unehelichen Sohnes. Das war Radiguet vermutlich gleichgültig: Mit fünfzehn Jahren lief er von zu Hause weg und führte eine Boheme-Existenz in Paris, die ihn nicht nur in Cocteaus Arme, sondern auch in die einer ganzen Reihe älterer Frauen warf. Die scheinen dem kurzsichtigen Schlingel viel abgewonnen zu haben, Radiguet hatte zahlreiche Unterstützerinnen, darunter Coco Chanel; hinzu kamen männliche Förderer und Freunde, etwa Max Jacob, Amedeo Modigliani und Francis Poulenc.
Radiguet steht nicht nur für freie Sitten, er bringt neue Kraft in die Sprache. Aus den ästhetischen Gewittern der Weltkriegsjahre ging die französische Literatur mit leichterer Syntax und direkterem Ausdruck hervor, wie die Wiederentdeckungen der letzten Jahre belegen, etwa Irène Némirovsky oder Louise de Vilmorin. Besonders fühlt man sich an André de Richaud erinnert, dessen Roman "Der Schmerz" (1931) ebenfalls das Thema einer Skandalliebe hinter der Front bedient. Sie alle wirken so neu und nah, dass man ihnen die gut hundert Jahre kaum abnimmt.
Die sprachliche Reduktion widerspricht bei Radiguet keineswegs der Suche nach einer Form, wie sie die Romantradition des neunzehnten Jahrhunderts ausgebildet hat; diesen Punkt betont Schmidt-Henkel in seinem Nachwort zu Recht. Er bemüht sich um den psychologisch präzisen Satz, mit gelegentlichem Hang zur altklugen Sentenz: "Jede Liebe hat ihre Jugend, ihre Reifezeit, ihr Alter." An anderer Stelle hingegen sind seine Beobachtungen schmerzhaft genau: "Ich beeinflusste Marthe immer mehr in einem Sinn, der mir entsprach, sodass ich sie allmählich nach meinem Bild formte. Das verübelte ich mir und auch, dass ich dadurch sehenden Auges unser Glück zerstörte." Unübersehbar schließlich das Bemühen, eine klassische Romanform zu respektieren, indem der Autor die Handlung klar strukturiert und mit raumzeitlichen Markern absichert.
Die Ausgabe zum Hundertjährigen des Romans ist rundum gelungen: Die zuerst 2007 bei Hoffmann und Campe erschienene, schneidend scharfe Übersetzung Schmidt-Henkels wird von einem überarbeiteten Nachwort begleitet. Als weitere Extras kommen Zeichnungen und (erstmals übertragene) Texte hinzu, die Cocteau von und über Radiguet angefertigt hat. Briefe und Gedichte Radiguets schließen den Band ab. So kann sich der Leser selbst ein Bild dieses Teufelsbratens machen: Moralisch fällt es medioker aus, ästhetisch ist es ein Genuss. NIKLAS BENDER
Raymond Radiguet: "Den Teufel im Leib". Roman.
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt- Henkel. Mit Zeichnungen und Texten von Jean Cocteau sowie Texten von Raymond Radiguet. Pendragon Verlag, Bielefeld 2023. 224 S., geb., 22,- Euro.
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