Hugo Höllenreiner ist das Oberhaupt einer großen bayerischen Sintifamilie. 1943 wurde er als Neunjähriger nach Auschwitz deportiert, wo Dr. Mengele ihn und seinen Bruder mit brutalen medizinischen Experimenten quälte. Über Ravensbrück und Mauthausen kam Hugo nach Bergen-Belsen. Wie durch ein Wunder überlebte er mit seinen Eltern und Geschwistern, doch viele nahe Verwandte wurden ermordet. In langen Gesprächen mit der Autorin kamen Stück für Stück verdrängte Erinnerungen zurück, von denen erst der über Sechzigjährige zu sprechen vermag. Ein erschütterndes Dokument deutscher Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2006Reden gegen das Vergessen
Verstörend: Anja Tuckermann hört Hugo Höllenreiner zu
Hugo Höllenreiner redet und redet. Er spricht oft vor Schulklassen und bei Gedenkveranstaltungen. Es ist die immer gleiche Geschichte, die er erzählt: seine eigene. Die eines Sinti-Jungen, geboren Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, hinein in eine unruhige Zeit. Im März 1943, Hugo ist neun Jahre alt, wird ihm "Z-3529" in den linken Unterarm tätowiert, "Z" für Zigeuner, wie man Sinti und Roma zu jener Zeit nannte, womit man meinte: Arbeitsscheue, Horden umherziehender Bettler, eine artfremde Rasse, Schande für das deutsche Volk.
Vier Konzentrationslager hat Höllenreiner überlebt. Was er in dieser Zeit an Qualen ertragen und an Leid mitansehen mußte, das ist zuviel für ein einziges Leben. Sein Martyrium hat ihn traumatisiert auf ewig, noch immer riecht er den Gestank der Verbrennungen und hört die Glocke zum Appell. Kindergeschrei kann er nicht vertragen, auch lautes Lachen nicht. In den schrillen Tönen hört er die Schreie der Menschen auf dem Weg in die Gaskammern. Nach Höllenreiners Vorträgen herrscht stets Entsetzen, und selbst mit der Distanz des Lesens sind seine Erinnerungen kaum auszuhalten.
Anja Tuckermann, Schriftstellerin, freie Journalistin und fast dreißig Jahre nach Höllenreiner geboren, hat dessen Geschichte aufgeschrieben, in die dritte Person versetzt und mit Originalzitaten kombiniert. Dort, wo die Autorin den Erzähler selbst sprechen läßt, ist die Sprache holprig, schlicht, sprunghaft in der Rückschau. Höllenreiner hat sich nichts in feingeschliffenen Sätzen zurechtgelegt, er ringt - noch immer - nach Worten. Jahrzehnte hat er geschwiegen, konnte seine Erlebnisse nicht einmal mit Mitgliedern seiner Familie teilen, obwohl viele von ihnen ähnliches hatten aushalten müssen. Zu groß war der "Knödel im Hals".
In Höllenreiners Biographie findet sich alles, was Lebensgeschichten faszinierend macht: Dramen und Abgründe, Schicksalsschläge, Liebe, Mut und Hoffnung. Anrührend und ergreifend sind die Lebenserinnerungen des alten Mannes, aber sie sind auch und vor allem von einer fürchterlichen, wenn auch authentischen Grausamkeit, die erschreckt, die abstößt, bis sich Ekel regt.
Will man wissen, wie die fast Verhungerten die Fäuste der starren Leichen auf der Suche nach Eßbarem aufgebrochen haben? Wie die vergasten, ineinander verkeilten Menschen auseinandergehebelt werden mußten, damit sie in die Verbrennungsöfen paßten? Wie ein Baby, dem Gas entkommen - vom zynischen Kommentar eines SS-Mannes "Ach, ist noch was übriggeblieben?" begleitet -, kurzerhand erschossen wurde? Oder von den widerwärtigen Menschenversuchen des Arztes Mengele, Zwangssterilisationen ohne Narkose vorzunehmen?
Man will von all dem eigentlich nichts hören, nichts lesen, aber man sollte wissen, welches Ausmaß und welche Folgen das grausige Kriegsgeschehen hatte, und man sollte sich wohl auch immer wieder fragen, wieviel ähnliche Schicksale es gegeben hat. Die derjenigen, die nicht mehr reden können. Weil sie tot sind oder weil der Schrecken sie stumm gemacht hat. Festgehalten werden sollte das gesamte Elend, damit das Wissen um diese Tragödie nicht lückenhaft bleibt und auch nicht zunehmend schemenhafter wird, je größer der Abstand zum Geschehen wird. Allein bleiben sollten junge Leser mit Tuckermanns erzählendem Sachbuch nicht, zu furchtbar sind die Details dieser Familiengeschichte. Und auch ein noch so getreues Zeitbild wird nicht erklären können, warum Menschen anderen soviel Leid zufügen.
Gegen das Vergessen anzukämpfen ist Höllenreiners wichtigstes Anliegen. Nicht nur, um den Prozeß aufzuhalten, daß sich mit den immer weniger werdenden Zeitzeugen auch die Erinnerung verliert, sondern auch als stete Warnung für Gegenwart und Zukunft. Mehrfach zieht er Parallelen zu heute. Wenn er erlebt, daß Menschen wegen ihrer Lebensart oder ihres Glaubens diffamiert werden, dann regt sich in ihm Zorn. Noch viel größer allerdings ist die Angst, Ausgrenzungen könnten nur der Anfang von etwas sein, was endet wie zu seiner Jugend: in Verfolgung und systematischem Morden.
Höllenreiner wird nie vergessen und nie verzeihen können. "Es geht nicht", sagt er. Und fast macht es den Eindruck, als könne er sich selbst nicht vergeben. "Wir hätten was tun müssen", sagt er immer wieder, als wolle er noch im nachhinein entschuldigen, daß er als Junge von zehn, elf Jahren nicht entschlossener Gegenwehr leistete. Oft kommentiert er fassungslos wie ein Unbeteiligter: "Die haben alles über sich ergehen lassen, die Leute", "wie Schafe sind sie gelaufen." Noch heute könnte Höllenreiner angesichts der Duldung und Machtlosigkeit verzweifeln.
Reden hat zu Hugo Höllenreiners Befreiung geführt. Fünfzig Jahre nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager hat sie begonnen. Sie dauert noch immer an.
ELENA GEUS
Anja Tuckermann: "Denk nicht, wir bleiben hier!" Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner. Carl Hanser Verlag, München 2005. 303 S., geb., 16,90 [Euro]. Ab 15 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verstörend: Anja Tuckermann hört Hugo Höllenreiner zu
Hugo Höllenreiner redet und redet. Er spricht oft vor Schulklassen und bei Gedenkveranstaltungen. Es ist die immer gleiche Geschichte, die er erzählt: seine eigene. Die eines Sinti-Jungen, geboren Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, hinein in eine unruhige Zeit. Im März 1943, Hugo ist neun Jahre alt, wird ihm "Z-3529" in den linken Unterarm tätowiert, "Z" für Zigeuner, wie man Sinti und Roma zu jener Zeit nannte, womit man meinte: Arbeitsscheue, Horden umherziehender Bettler, eine artfremde Rasse, Schande für das deutsche Volk.
Vier Konzentrationslager hat Höllenreiner überlebt. Was er in dieser Zeit an Qualen ertragen und an Leid mitansehen mußte, das ist zuviel für ein einziges Leben. Sein Martyrium hat ihn traumatisiert auf ewig, noch immer riecht er den Gestank der Verbrennungen und hört die Glocke zum Appell. Kindergeschrei kann er nicht vertragen, auch lautes Lachen nicht. In den schrillen Tönen hört er die Schreie der Menschen auf dem Weg in die Gaskammern. Nach Höllenreiners Vorträgen herrscht stets Entsetzen, und selbst mit der Distanz des Lesens sind seine Erinnerungen kaum auszuhalten.
Anja Tuckermann, Schriftstellerin, freie Journalistin und fast dreißig Jahre nach Höllenreiner geboren, hat dessen Geschichte aufgeschrieben, in die dritte Person versetzt und mit Originalzitaten kombiniert. Dort, wo die Autorin den Erzähler selbst sprechen läßt, ist die Sprache holprig, schlicht, sprunghaft in der Rückschau. Höllenreiner hat sich nichts in feingeschliffenen Sätzen zurechtgelegt, er ringt - noch immer - nach Worten. Jahrzehnte hat er geschwiegen, konnte seine Erlebnisse nicht einmal mit Mitgliedern seiner Familie teilen, obwohl viele von ihnen ähnliches hatten aushalten müssen. Zu groß war der "Knödel im Hals".
In Höllenreiners Biographie findet sich alles, was Lebensgeschichten faszinierend macht: Dramen und Abgründe, Schicksalsschläge, Liebe, Mut und Hoffnung. Anrührend und ergreifend sind die Lebenserinnerungen des alten Mannes, aber sie sind auch und vor allem von einer fürchterlichen, wenn auch authentischen Grausamkeit, die erschreckt, die abstößt, bis sich Ekel regt.
Will man wissen, wie die fast Verhungerten die Fäuste der starren Leichen auf der Suche nach Eßbarem aufgebrochen haben? Wie die vergasten, ineinander verkeilten Menschen auseinandergehebelt werden mußten, damit sie in die Verbrennungsöfen paßten? Wie ein Baby, dem Gas entkommen - vom zynischen Kommentar eines SS-Mannes "Ach, ist noch was übriggeblieben?" begleitet -, kurzerhand erschossen wurde? Oder von den widerwärtigen Menschenversuchen des Arztes Mengele, Zwangssterilisationen ohne Narkose vorzunehmen?
Man will von all dem eigentlich nichts hören, nichts lesen, aber man sollte wissen, welches Ausmaß und welche Folgen das grausige Kriegsgeschehen hatte, und man sollte sich wohl auch immer wieder fragen, wieviel ähnliche Schicksale es gegeben hat. Die derjenigen, die nicht mehr reden können. Weil sie tot sind oder weil der Schrecken sie stumm gemacht hat. Festgehalten werden sollte das gesamte Elend, damit das Wissen um diese Tragödie nicht lückenhaft bleibt und auch nicht zunehmend schemenhafter wird, je größer der Abstand zum Geschehen wird. Allein bleiben sollten junge Leser mit Tuckermanns erzählendem Sachbuch nicht, zu furchtbar sind die Details dieser Familiengeschichte. Und auch ein noch so getreues Zeitbild wird nicht erklären können, warum Menschen anderen soviel Leid zufügen.
Gegen das Vergessen anzukämpfen ist Höllenreiners wichtigstes Anliegen. Nicht nur, um den Prozeß aufzuhalten, daß sich mit den immer weniger werdenden Zeitzeugen auch die Erinnerung verliert, sondern auch als stete Warnung für Gegenwart und Zukunft. Mehrfach zieht er Parallelen zu heute. Wenn er erlebt, daß Menschen wegen ihrer Lebensart oder ihres Glaubens diffamiert werden, dann regt sich in ihm Zorn. Noch viel größer allerdings ist die Angst, Ausgrenzungen könnten nur der Anfang von etwas sein, was endet wie zu seiner Jugend: in Verfolgung und systematischem Morden.
Höllenreiner wird nie vergessen und nie verzeihen können. "Es geht nicht", sagt er. Und fast macht es den Eindruck, als könne er sich selbst nicht vergeben. "Wir hätten was tun müssen", sagt er immer wieder, als wolle er noch im nachhinein entschuldigen, daß er als Junge von zehn, elf Jahren nicht entschlossener Gegenwehr leistete. Oft kommentiert er fassungslos wie ein Unbeteiligter: "Die haben alles über sich ergehen lassen, die Leute", "wie Schafe sind sie gelaufen." Noch heute könnte Höllenreiner angesichts der Duldung und Machtlosigkeit verzweifeln.
Reden hat zu Hugo Höllenreiners Befreiung geführt. Fünfzig Jahre nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager hat sie begonnen. Sie dauert noch immer an.
ELENA GEUS
Anja Tuckermann: "Denk nicht, wir bleiben hier!" Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner. Carl Hanser Verlag, München 2005. 303 S., geb., 16,90 [Euro]. Ab 15 J.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Reinhard Osteroth will dieses Buch nicht nur empfehlen, er muss es empfehlen. Der Sinto Hugo Höllenreiter legt darin Bericht ab über da, was ihm und seiner Familie im Nationalsozialismus angetan wurde. Schonungslos führt er dabei die Leser in die Hölle der Konzentrationslager, von Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen. Wie Osteroth berichtet, hat Höllenreiter bis zum jahr 1993 überhaupt nicht über sein Schicksal sprechen können, und auch jetzt fällt es ihm schwer, wie die Gespräche mit der Journalisten Anja Tuckermann noch immer belegen. Unverzichtbar findet Osteroth solch schmerzhafte Bücher.
© Perlentaucher Medien GmbH
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