Bisher unbekannte Texte des großen Philosophen, neu entdeckte Tagebücher bzw. Manuskripte, in denen Wittgenstein philosophische Gedankengänge neben Reflexionen persönlichen Charakters und kulturgeschichtliche Überlegungen eintrug, werden mit dieser Edition vom Innsbrucker Brenner-Archiv erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wobei durch eine neue Transkriptionsmethode alle für Wittgenstein so typischen Textveränderungen, seine Varianten und Korrekturen, und damit der Denk- und Arbeitsprozess des Philosophen sichtbar gemacht werden. Die in ihrer Thematik breitgefächerten Notizen und Gedanken bestechen durch sprachliche Schönheit und Tiefe des Denkens bei gleichzeitiger Kürze der Formulierung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.1997Gott spielt doch
Wittgensteins späte Tagebücher und die Religion des Sprachspiels
Ludwig Wittgenstein hat seine Tagebuchnotizen nicht der Nachwelt überliefern wollen. Dennoch sind nicht nur einige frühe, sondern auch Tagebücher aus den dreißiger Jahren erhalten geblieben, die etwa hundert Druckseiten ausmachen und jetzt in einer sorgfältig annotierten Edition des Bergener Wittgenstein-Archivs vorliegen. Die Eintragungen bieten gewiß keine Sensationen. Sie zeigen uns einen Mann, der sich seiner Erstrangigkeit durchaus bewußt war. Der Leser erhält einen unmittelbaren Einblick in die äußerst komplizierte Entwicklung Wittgensteins von der "Früh-" zur "Spätphilosophie".
Wie in den vor einigen Jahren als "Geheime Tagebücher" publizierten Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg stehen rein persönliche Eintragungen, etwa die ungelenken Anmerkungen zu der unglücklichen Liebesbeziehung zu Marguerite oder Eingeständnisse individueller Unzulänglichkeit, scheinbar unmittelbar neben philosophischen Reflexionen. Doch hier werden verschlüsselte und uncodierte Eintragungen nicht mehr strikt getrennt; sie folgen in abruptem Wechsel, zuweilen im selben Satz. Schon diese Vermischung ist ein Symptom für die äußerste seelische Spannung, unter der Wittgenstein in der Zeit des Übergangs zum neuen Denkstil der Sprachspielphilosophie stand. "Lebt man anders, spricht man anders. Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprachspiele", heißt es in einer frühen Eintragung.
Wie zur Zeit der Arbeit am "Traktat" steht auch hier das Motiv der persönlichen Erlösung durch das Lösen philosophischer Probleme im Mittelpunkt. Die Wichtigkeit des religiösen Motivs für das philosophische Denken gerade des späten Wittgenstein hat die Forschung lange unterschätzt; die Edition nimmt hier eine wichtige Korrektur vor. Gewiß ändert dies nichts daran, daß im Tagebuch die persönlichen Bekenntnisse im Vordergrund stehen: So klagt sich Wittgenstein immer wieder der Selbstüberschätzung an und faßt schließlich den Entschluß zum Bekenntnis aller Verfehlungen gegenüber seinen Freunden, vormaligen Schülern und Bekannten, um, wie es heißt, den eigenen Stolz zu zu brechen. Er wirft sich selbst Kitschigkeit bei der Abfassung des "Traktates" vor.
Wittgenstein hat sich Mitte der dreißiger Jahre intensiv mit der Bibel beschäftigt ("Wie das Insekt das Licht umschwirrt so ich ums Neue Testament", heißt es im Februar 1937) und daraus ein Konzept religiöser Sprachspiele entwickelt, das, wie er in Geheimschrift notiert, "nur mit Lebensfragen gespielt" wird. Der Glaube sei nicht philosophisch zu begründen, sondern folge einer Grammatik, die allein aus dem Leben und nicht etwa aus der Zwangsgewalt einer vermeintlichen Logik abgeleitet werden könne. Die Religion gewinne ihre Überzeugungskraft nicht aus Argumenten. Sie sei vielmehr der Rahmen, innerhalb dessen überhaupt erst argumentiert werden könne.
Unglücklicherweise hat sich die Herausgeberin Ilse Somavilla entschlossen, der normalisierten Fassung einen eigenen Band mit der auf der Grundlage der Bergener Nachlaßedition beruhenden diplomatischen Fassung beizugeben. Dadurch entstehen für den Leser der normalisierten Version unnötige Verluste an Textvarianten, Skizzen und Randbemerkungen, während die Wiedergabe der Geheimschrift in der diplomatischen Version nur wenig einbringt. Bei einem Vergleich unter diesem Aspekt schneidet die in Cambridge besorgte "Wiener Ausgabe" des Nachlasses gegenüber dem Bergener Projekt, das als Ziel eine computerlesbare Transkription hat, insgesamt deutlich besser ab. MATTHIAS KROSS
Ludwig Wittgenstein: "Denkbewegungen". Tagebücher 1930 - 1932, 1936 -
1937. 2 Bände. Herausgegeben von Ilse Somavilla. Haymon Verlag, Innsbruck 1997. 159 und 257 S., br., zusammen 72,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wittgensteins späte Tagebücher und die Religion des Sprachspiels
Ludwig Wittgenstein hat seine Tagebuchnotizen nicht der Nachwelt überliefern wollen. Dennoch sind nicht nur einige frühe, sondern auch Tagebücher aus den dreißiger Jahren erhalten geblieben, die etwa hundert Druckseiten ausmachen und jetzt in einer sorgfältig annotierten Edition des Bergener Wittgenstein-Archivs vorliegen. Die Eintragungen bieten gewiß keine Sensationen. Sie zeigen uns einen Mann, der sich seiner Erstrangigkeit durchaus bewußt war. Der Leser erhält einen unmittelbaren Einblick in die äußerst komplizierte Entwicklung Wittgensteins von der "Früh-" zur "Spätphilosophie".
Wie in den vor einigen Jahren als "Geheime Tagebücher" publizierten Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg stehen rein persönliche Eintragungen, etwa die ungelenken Anmerkungen zu der unglücklichen Liebesbeziehung zu Marguerite oder Eingeständnisse individueller Unzulänglichkeit, scheinbar unmittelbar neben philosophischen Reflexionen. Doch hier werden verschlüsselte und uncodierte Eintragungen nicht mehr strikt getrennt; sie folgen in abruptem Wechsel, zuweilen im selben Satz. Schon diese Vermischung ist ein Symptom für die äußerste seelische Spannung, unter der Wittgenstein in der Zeit des Übergangs zum neuen Denkstil der Sprachspielphilosophie stand. "Lebt man anders, spricht man anders. Mit einem neuen Leben lernt man neue Sprachspiele", heißt es in einer frühen Eintragung.
Wie zur Zeit der Arbeit am "Traktat" steht auch hier das Motiv der persönlichen Erlösung durch das Lösen philosophischer Probleme im Mittelpunkt. Die Wichtigkeit des religiösen Motivs für das philosophische Denken gerade des späten Wittgenstein hat die Forschung lange unterschätzt; die Edition nimmt hier eine wichtige Korrektur vor. Gewiß ändert dies nichts daran, daß im Tagebuch die persönlichen Bekenntnisse im Vordergrund stehen: So klagt sich Wittgenstein immer wieder der Selbstüberschätzung an und faßt schließlich den Entschluß zum Bekenntnis aller Verfehlungen gegenüber seinen Freunden, vormaligen Schülern und Bekannten, um, wie es heißt, den eigenen Stolz zu zu brechen. Er wirft sich selbst Kitschigkeit bei der Abfassung des "Traktates" vor.
Wittgenstein hat sich Mitte der dreißiger Jahre intensiv mit der Bibel beschäftigt ("Wie das Insekt das Licht umschwirrt so ich ums Neue Testament", heißt es im Februar 1937) und daraus ein Konzept religiöser Sprachspiele entwickelt, das, wie er in Geheimschrift notiert, "nur mit Lebensfragen gespielt" wird. Der Glaube sei nicht philosophisch zu begründen, sondern folge einer Grammatik, die allein aus dem Leben und nicht etwa aus der Zwangsgewalt einer vermeintlichen Logik abgeleitet werden könne. Die Religion gewinne ihre Überzeugungskraft nicht aus Argumenten. Sie sei vielmehr der Rahmen, innerhalb dessen überhaupt erst argumentiert werden könne.
Unglücklicherweise hat sich die Herausgeberin Ilse Somavilla entschlossen, der normalisierten Fassung einen eigenen Band mit der auf der Grundlage der Bergener Nachlaßedition beruhenden diplomatischen Fassung beizugeben. Dadurch entstehen für den Leser der normalisierten Version unnötige Verluste an Textvarianten, Skizzen und Randbemerkungen, während die Wiedergabe der Geheimschrift in der diplomatischen Version nur wenig einbringt. Bei einem Vergleich unter diesem Aspekt schneidet die in Cambridge besorgte "Wiener Ausgabe" des Nachlasses gegenüber dem Bergener Projekt, das als Ziel eine computerlesbare Transkription hat, insgesamt deutlich besser ab. MATTHIAS KROSS
Ludwig Wittgenstein: "Denkbewegungen". Tagebücher 1930 - 1932, 1936 -
1937. 2 Bände. Herausgegeben von Ilse Somavilla. Haymon Verlag, Innsbruck 1997. 159 und 257 S., br., zusammen 72,- DM.
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